Ein Paradiesbild meditativ erlebt - Das Märchen "Der selbstsüchtige Riese" von Oscar Wilde

von Inge Brüggemann

 

Die folgende Beschreibung eines still-bewegten Umgangs mit einem Märchen ist gedacht für den Einsatz im Religionsunterricht des 3./ 4. Schuljahres. Wir begegnen dem Märchen "Der selbstsüchtige Riese" von Oscar Wilde in ganzheitlicher Art: Mit allen Sinnen, in Ruhe und Bewegung, imaginativ und kreativ. Dieser erfahrungsorientierte Ansatz ermöglicht es, das Märchen zu erleben anstatt es zu interpretieren.

Die vorliegenden Ideen sind keinesfalls alle nacheinander in einem Durchgang einsetzbar; vielmehr kann das Vorlesen oder Erzählen des Märchens durch ein bis zwei ausgewählte Übungen anschaulicher gestaltet, die Erfahrung vertieft werden. Bei einem erneuten Vorlesen könnten dann andere Übungen zum Einsatz kommen. Möglich wäre auch, das Märchen in kleinen Abschnitten über mehrere Unterrichtsstunden verteilt zu behandeln und zu jedem dieser Abschnitte Übungserfahrungen anzubieten.

In der Vorbereitung wird eine Mitte im Raum gestaltet, die die Kinder in die Welt des Märchens leitet: Tücher in Winter- und Frühlingsfarben bilden die Grundlage; weiße Blumen, Kristalle, Kerzen ... dienen der weiteren Ausgestaltung.

Die Begegnung mit dem Märchen beginnt im Kissenkreis auf dem Boden. Im Sitzen hören die Kinder zur Einstimmung Naturgeräusche aus einem Garten (z.B. D. Kreusch-Jacob, Einleitung zu "Märchengarten"). Anschließend wird der erste Teil des Märchens vorgelesen (bis "Wie glücklich wir hier sind!").

Unterschiedliche Übungsangebote dienen dazu, eine Identifikation mit den Kindern aus dem Märchen zu ermöglichen:

In einer kurzen Imagination wird dazu eingeladen, sich selbst in den Garten des Riesen hineinzubegeben: "Lass den Untergrund unter dir sich wandeln ... Du sitzt an einem geschützten Ort in diesem Garten. Du hörst, du schaust, du spürst, du riechst ..."

In Sinnesübungen können eindrückliche Erfahrungen gemacht werden: Wir sitzen im Kreis und geben einen Pfirsich herum. Die Kinder betasten nacheinander behutsam die zarte Haut, nehmen den Duft wahr und beobachten die Reaktionen, die dieser Duft in Mund und Rachen auslöst.

Jedes Kind bekommt ein Gänseblümchen in die Hand gelegt und betrachtet es intensiver als gewöhnlich: "Sieh so hin, als sähest du eine solche Blume zum ersten Mal in deinem Leben ... Du schaust die Blume an, und die Blume blickt dich an – schaut sie fröhlich oder eher traurig? Ist sie aufrecht oder gebeugt? ... Was hat sie dir zu erzählen?"

Auch dem Gemeinschaftserleben der Kinder im Märchen ist eine Erfahrung gewidmet: Wir rücken im Kreis näher zusammen, nehmen Blickkontakt auf, spüren bewusst die Berührung mit den Nachbarinnen und Nachbarn und teilen den Pfirsich. Währenddessen kann die Eingangsmusik noch einmal eingespielt werden. Anschließend rücken wir wieder auseinander: Was ist jetzt anders? Was gefällt den einzelnen Kindern besser?

Im zweiten Teil des Märchens machen wir Bekanntschaft mit dem Riesen und mit dem Winter im Garten (Text bis "So blieb es hier immer Winter, und Nordwind und Hagel, Frost und Schnee tanzten zwischen den Bäumen").

Als Erfahrungsübung bietet sich eine Rückengeschichte an. Je zwei Kinder sitzen hintereinander, so dass das hintere mit seinen Händen an den Rücken des vorderen heranreicht. Nur die Leiterin erzählt verbal, die Kinder "erzählen" mit den Händen und "hören" mit dem Rücken:

"Es ist ganz still im Garten – kein Lüftchen regt sich, kein Vogel singt. Alles ist wie erstarrt. Der Frost hat die Natur fest im Griff. – Einmal steckt eine wunderschöne Blume ihren Kopf aus der Erde, aber als sie die Warntafeln sieht, erschrickt sie, schlüpft schnell wieder in die Erde und schläft weiter. – Der Schnee aber freut sich. Er lässt die Flocken tanzen, mal sachte und mal heftig. Sie wirbeln herum, und die Schneeschicht wird immer dicker. – Auch der Frost ist glücklich. Er lacht, wenn alle zittern, hängt lange Eiszapfen ans Dach und bemalt die Bäume mit silbernen Kristallen. – Schnee und Frost laden den Nordwind ein, und er pfeift über den Garten, so dass Büsche und Bäume ihre Zweige hin- und herneigen und die Schneeflocken noch heftiger herumwirbeln. – Schließlich laden sie auch noch den Hagel ein. Er prasselt auf das Dach des Schlosses, die Dachziegel zerbrechen, und im Garten wird die Eisschicht noch dicker und starrer."

Natürlich muss nach einem Durchgang getauscht werden, denn jedes Kind möchte einmal in den Genuss kommen, den Winter auf dem eigenen Rücken zu erleben.

Im dritten Teil des Märchens geschieht die Wandlung des Riesen. In einer Kontaktübung im Liegen erleben die Kinder, was der Riese erlebt: Nach dem Erspüren der einzelnen Bereiche des Körpers im Kontakt mit dem Boden wird sehr leise eine "liebliche Musik" eingespielt (z.B. Chr.W. Gluck: "Reigen seliger Geister" aus: "Orpheus und Enrydike"): "Lausch der Musik ... Nimm wahr, dass der Wind aufgehört hat zu heulen ... Es hagelt auch nicht mehr. Hörst du stattdessen den Vogelgesang? ... Sollte es endlich Frühling geworden sein? ..."

Der nachfolgende Textteil (bis "Den ganzen Tag lang spielten sie, und am Abend kamen sie zum Riesen, um sich zu verabschieden") lässt sich zu einer Phantasiereise umgestalten: "Du schaust nach draußen in den Garten – er hat sich sehr verändert ... Du beobachtest, wie der Riese in den Garten tritt und sich dem kleinen Jungen nähert ..."

Um die Verwandlung, die im Garten des Riesen geschehen ist, noch weiter erlebbar werden zu lassen, bieten sich im Zusammenhang der folgenden Textabschnitte (bis "... aber die Kinder sind die allerschönsten") ein Tanz und die Gestaltung eines Mandalas an:

  • Die Kinder erhalten das Mandala mit vorgezeichneter Randgestaltung. Durch die Wahl der Farben und die weitere Ausgestaltung zu Mitte hin lassen sie die Wandlung vom Winter zum Frühling, von der Erstarrung zur Lebendigkeit deutlich werden.
  • In einem einfachen Kreistanz zu Glucks "Reigen seliger Geister" erfahren sie die fröhliche Gemeinschaft:

Rechts beginnend sechs Schritte in Tanzrichtung
Drei Schritte zur Mitte (R – L – R)
Drei Schritte rückwärts nach außen (L – R – L)
Sechs Schritte in Tanzrichtung
Hände lösen: Mit sechs Schritten einmal um sich selbst drehen 

In der Arbeit mit jüngeren Kindern könnte die Behandlung des Märchens an dieser Stelle enden. Ob man sich in die größere Tiefe des letzten Teils vorwagt, wird von der Aufnahmefähigkeit und Sensibilität der jeweiligen Gruppe abhängen. In diesem Schlussteil wird die religiöse Dimension des Märchens explizit.

Die folgende Stilleübung mag geeignet sein, das Geheimnisvolle der erneuten Begegnung des Riesen mit dem Knaben aufscheinen zu lassen:

In der Kreismitte steht eine große Schale mit Wasser. Die Kinder sitzen oder stehen ringsherum. Die Leiterin legt eine zusammengefaltete Papierblüte auf die Wasseroberfläche. Die Kinder beobachten schweigend, wie sich die Blüte nach und nach öffnet und den Blick auf ein Christusbild in ihrer Mitte freigibt. (Abb.)

Erst danach wird der Schluss des Märchens vorgelesen. Die Assoziationen, die bereits von Anfang an in Richtung "Paradies", "Garten Eden" oder "Himmelreich" gingen, werden jetzt konkret von dem (Christus-)Kind angesprochen. Ein Gespräch über die "Wundmale der Liebe" muss sich anschließen. Hier wird ersichtlich, dass Deutungen der Passion Jesu bereits vorher im Religionsunterricht in dieser Intention zur Sprache gekommen sein müssten. Das Märchen von Oscar Wilde gibt dazu noch einmal gute Anregungen.

Dieser Gedanke der Liebe Jesu, die in seinem Leben und Sterben (Wundmale!) Ausdruck findet, sollte jetzt von den Kindern umgesetzt werden in eigenes Tun und Wünschen. Sie erhalten jeweils eine weiße Blüte, am besten eine kleine Papierblüte, auf die sie dann einen Wunsch für einen anderen Menschen schreiben können. Nacheinander legen sie diese schweigend rings um die Mitte ab.

Den Abschluss der Begegnung mit dem Märchen bildet eine Bewegungsübung zu dem Lied "Der Himmel geht über allen auf":

  • Arme nach vorn bis über den Kopf heben
  • Mit nach oben geöffneten Handflächen seitlich bis zur Waagerechten öffnen
  • Handflächen nach unten wenden und Arme ganz senken

bzw. ein Tanz.
 

Oscar Wilde

Der selbstsüchtige Riese

Jeden Nachmittag, wenn sie auf dem Heimweg von der Schule waren, pflegten die Kinder in den Garten des Riesen zu gehen und dort zu spielen. Es war ein großer, lieblicher Garten, mit weichem, grünem Rasen. Hier und da sahen wunderschöne Blumen wie Sterne aus dem Rasen hervor, und zwölf Pfirsichbäume blühten im Frühling rosa und perlweiß und trugen im Herbst reiche Frucht. Die Vögel saßen in den Bäumen und sangen so süß, dass die Kinder in ihren Spielen innehielten, um ihnen zu lauschen. "Wie glücklich sind wir doch hier", riefen sie einander zu.

Eines Tages kehrte der Riese zurück. Er war sieben Jahre lang bei seinem Freund, dem Menschenfresser von Cornwall, zu Besuch gewesen. Als die sieben Jahre um waren, hatte er alles gesagt, was er zu sagen hatte, denn sein Gesprächsstoff war begrenzt, und so beschloss er, in seine eigene Burg zurückzukehren. Als er ankam, sah er die Kinder in seinem Garten spielen.

"Was tut ihr denn hier?", schrie er mit sehr grober Stimme, und die Kinder liefen davon.

"Mein eigener Garten ist mein eigener Garten", sagte der Riese, "das kann wohl jeder verstehen, und ich erlaube niemanden, darin zu spielen, außer mir selbst." So baute er eine hohe Mauer rings herum und stellte ein Schild auf: Betreten bei Strafe verboten.

Er war ein sehr selbstsüchtiger Riese.

Die armen Kinder hatten nun keinen Platz mehr, wo sie spielen konnten. Sie versuchten es auf der Straße, aber die Straße war sehr staubig und voller harte Steine, und das gefiel ihnen nicht. Sie wanderten deshalb um die hohe Mauer, wenn die Schule aus war, und sprachen von dem schönen Garten, der dahinter lag. "Wie glücklich sind wir dort gewesen", sagten sie zueinander.

Dann kam der Frühling, und überall im Lande blühte es und die Vögel sangen. Nur im Garten des selbstsüchtigen Riesen war es immer noch Winter. Die Vögel mochten dort nicht singen, weil es darin keine Kinder gab, und die Bäume vergaßen zu blühen. Einmal steckte eine schöne Blume ihren Kopf aus dem Rasen, aber als sie das Verbotsschild sah, taten ihr die Kinder so leid, dass sie wieder zurück in die Erde schlüpfte und weiterschlief. Die Einzigen, die sich freuten, waren der Schnee und der Frost. "Der Frühling hat diesen Garten vergessen", riefen sie, "so lasst uns hier das ganze Jahr bleiben." Der Schnee bedeckte den Rasen mit seinem großen, weißen Mantel, und der Frost übermalte alle Bäume mit Silber. Dann luden sie den Nordwind zu sich ein, und er kam. Er war in Pelze gewickelt, und er brauste den ganzen Tag durch den Garten und blies die Schornsteinkappen vom Dach. "Dies ist ein wunderbarer Platz", sagte er, "wir müssen den Hagel einladen." Und der Hagel kam. Jeden Tag prasselte er drei Stunden lang auf das Dach der Burg, bis die meisten Schiefer zerbrochen waren, und dann rannte er immer und immer wieder im Garten herum, so schnell er nur konnte. Er war grau gekleidet, und sein Atem war wie Eis.

"Ich verstehe nicht, warum der Frühling so lange ausbleibt!", sagte der Riese, während er am Fenster saß und in seinen kalten, weißen Garten hinaussah; "Ich hoffe, das Wetter ändert sich bald."

Aber weder der Frühling noch der Sommer kam. Der Herbst schenkte jedem Garten goldene Früchte, aber dem Garten des Riesen brachte er keine. "Er ist zu selbstsüchtig", sagte er. So herrschte ewiger Winter dort, und der Nordwind und der Hagel und der Frost und der Schnee tanzten zwischen den Bäumen umher.

Eines Morgens lag der Riese noch im Bett, als er eine liebliche Musik hörte. Es klang so süß in seinen Ohren, dass er dachte, des Königs Musikanten zögen vorüber. In Wirklichkeit war es nur ein kleiner Hänfling, der vor seinem Fenster sang; aber es war so lange her, seit er einen Vogel in seinem Garten hatte singen hören, dass es ihm wie die allerschönste Musik der Welt erschien. Alsdann hörte der Hagel auf, über seinem Kopfe zu tanzen, und der Nordwind ließ ab zu heulen, und ein köstlicher Duft zog durch das offene Fenster zu ihm herein. "Ich glaube, der Frühling ist endlich gekommen", sagte der Riese. Und er sprang aus dem Bett und sah hinaus. – Und was sah er?

Ihm bot sich ein wundersamer Anblick. Durch ein kleines Loch in der Mauer waren die Kinder hereingekrochen, und sie saßen nun in den Zweigen der Bäume. In jedem Baum, den er sehen konnte, saß ein kleines Kind. Und die Bäume waren so froh, die Kinder wiederzuhaben, dass sie sich mit Blüten bedeckt hatten und ihre Arme sanft über den Köpfen der Kinder schwangen. Die Vögel flogen umher und zwitscherten vor Entzücken, und die Blumen schauten aus dem grünen Gras und lachten. Es war ein liebliches Bild; nur in einer Ecke war es immer noch Winter. Es war die entfernteste Ecke des Gartens, und in ihr stand ein kleiner Junge. Er war so klein, dass er die Zweige des Baumes nicht erreichen konnte, und er ging bitterlich weinend um ihn herum. Der arme Baum war immer noch ganz mit Reif und Schnee bedeckt, und der Nordwind blies und tobte über ihm. "Klettre herauf, kleiner Junge", sagte der Baum und neigte seine Zweige so tief herab, wie er konnte, aber der Junge war zu winzig.

Und das Herz des Riesen schmolz, während er hinausblickte. "Wie selbstsüchtig bin ich gewesen", sagte er, "nun weiß ich, warum der Frühling nicht hierher kommen wollte. Ich will diesen armen kleinen Jungen in den Wipfel des Baumes setzen, und dann will ich die Mauer niederreißen, und mein Garten soll für immer und ewig Spielplatz der Kinder sein!" Er bereute wirklicht tief, was er getan hatte.

So schlich er hinunter, öffnete ganz leise die Vordertür und ging hinaus in den Garten. Aber als die Kinder ihn erblickten, erschraken sie so sehr, dass sie alle fortliefen. Und im Garten wurde es wieder Winter. Nur der kleine Junge lief nicht fort, denn seine Augen waren so voller Tränen, dass er den Riesen nicht kommen sah. Und der Riese stahl sich hinter ihn und nahm in behutsam in die Hand und setzte ihn in den Baum. Und der Baum begann sofort zu blühen, und die Vögel kamen und sangen in ihm, und der kleine Junge streckte seine beiden Arme aus und warf sie dem Riesen um den Hals und küsste ihn. Als die anderen Kinder sahen, dass der Riese nicht mehr böse war, kamen sie zurückgelaufen, und mit ihnen kam der Frühling. "Von nun ab soll der Garten euer sein, liebe Kinder!", sagte der Riese, und er nahm eine große Axt und riss die Mauer nieder.

Und als die Leute um die Mittagszeit zum Markte gingen, sahen sie den Riesen mit den Kindern beim Spiel in dem schönsten Garten, den sie je gesehen hatten. Die Kinder spielten den ganzen Tag, und am Abend kamen sie zu dem Riesen und sagten ihm "Lebwohl".

"Aber wo ist euer kleiner Kamerad?", fragte er, "der Junge, den ich in den Baum gesetzt habe?" Der Riese liebte ihn besonders, weil er einen Kuss von ihm bekommen hatte.

"Wir wissen es nicht", antworteten die Kinder, "er ist fortgegangen."

"Ihr müsst ihm ausrichten, dass er morgen bestimmt wiederkommen soll", sagte der Riese. Aber die Kinder antworteten, dass sie nicht wüssten, wo er wohne, und dass sie ihn nie zuvor gesehen hätten; und der Riese wurde sehr traurig.

Jeden Nachmittag, wenn die Schule aus war, kamen die Kinder und spielten mit dem Riesen. Aber der kleine Junge , den der Riese so liebte, ward niemals wieder gesehen. Der Riese war sehr freundlich zu all den Kindern, aber er sehnte sich nach seinem ersten, kleinen Freund und sprach oft von ihm. "Wie gerne würde ich ihn wiedersehen", sagte er immer wieder.

Jahre vergingen, und der Riese wurde sehr alt und schwach. Er konnte nicht mehr herumspielen, sondern saß in einem riesigen Lehnstuhl und beobachtete die Kinder bei ihren Spielen und bewunderte seinen Garten. "Ich habe viele schöne Blumen", sagte er, "aber die Kinder sind die schönsten Blumen von allen."

Eines Wintermorgens, während er sich ankleidete, sah er aus dem Fenster. Er hasste den Winter jetzt nicht mehr, denn er wusste, dass dieser nur der schlafende Frühling war und dass auch die Blumen nur ausruhten. Plötzlich rieb er sich verwundert die Augen und schaute und schaute. Er sah ein wahrhaft prächtiges Bild. In der entferntesten Ecke des Gartens war ein Baum über und über mit lieblichen, weißen Blüten bedeckt. Seine Zweige glänzten golden, und silberne Früchte hingen daran, und darunter stand der kleine Junge, den er so geliebt hatte. Treppab eilte der Riese in großer Freude hinaus in den Garten. Er eilte über den Rasen und näherte sich dem Kinde. Und als er ganz dicht herangekommen war, wurde sein Gesicht rot vor Zorn und er sagte: "Wer hat es gewagt, dir etwas anzutun?" Denn auf den Handflächen des Kindes waren die Male zweier Nägel, und die Male zweier Nägel waren auf den kleinen Füßen. "Wer hat es gewagt, dir etwas anzutun?", schrie der Riese, "Sag es mir, damit ich mein großes Schwert nehmen und ihn erschlagen kann."

"Niemals", antwortete das Kind, "denn dies sind die Wundmale der Liebe!"

"Wer bist du?", fragte der Riese; seltsame Ehrfurcht ergriff ihn, und er kniete vor dem Kinde nieder.

Und das Kind lächelte den Riesen an und sagte zu ihm: "Du ließest mich einst in deinem Garten spielen; heute sollst du mit mir in meinen Garten kommen, welcher das Paradies ist." Und als die Kinder an diesem Nachmittag in den Garten kamen, fanden sie den Riesen tot unter dem Baum, über und über bedeckt mit weißen Blüten. 

Rechte bei: Oscar Wilde, Werke in zwei Bänden. Herausgegeben von Rainer Gruenter, Copyright 1970 Carl Hanser Verlag, München-Wien.

 

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/2004

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