Die Hauptschule in Deutschland

Die Position der AEED*

 

Die Schülerinnen (s. Anmerkung) der Hauptschulen zählen – allen regionalen Unterschieden zum Trotz – zu den Benachteiligten unserer Gesellschaft. Die Schulen, die sie besuchen, rangieren im allgemein bildenden Schulwesen an unterster Stelle. Dies gilt gemeinhin auch für die beruflichen und gesellschaftlichen Chancen im Vergleich zu den Absolventen anderer Einrichtungen des allgemein bildenden Schulwesens.

Lehrerinnen, die an Hauptschulen unterrichten, haben es am schwersten im allgemein bildenden Schulwesen. Wer dies bezweifelt, möge dort hospitieren

Christen wollen für Benachteiligte und Schwache eintreten. Das sind Hauptschülerinnen sowie – im übertragenen Sinne – ihre Lehrerinnen.

Deshalb hat sich die Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Erzieher in Deutschland e.V., der Zusammenschluss von 3 Vereinigungen evangelischer Lehrerinnen und Religionslehrerinnen, mit der Situation der Hauptschule, ihrer Schülerinnen und ihrer Lehrerinnen beschäftigt. Sie hat versucht hinzusehen, die wahrgenommene Situation zu benennen und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen.

Wir übergeben diese kurze – sicher unvollständige und verbesserungswürdige – Beschreibung den Politikerinnen, die möglicherweise schon viel für die Hauptschule getan haben – aber bei weitem nicht genug.

Wir übergeben sie unseren Kirchen, weil wir noch nicht wahrnehmen können, dass sie Lobby sind für die Hauptschule, was sie u.E. sein müssten.

Wir übergeben unsere Beschreibung der Öffentlichkeit, die diese Benachteiligungen nicht länger akzeptieren darf.

Duisburg, Juni 2000

Helga Frieber, AEED-Vorsitzende
 

Anmerkung: Die in diesem Text gewählte weibliche Sprachform schließt die jeweils männliche ein. Der Text kann bei der Geschäftsstelle der AEED als Datei angefordert werden.

 

1. Ausgangslage

Die Schulform Hauptschule geht auf einen Beschluss des Deutschen Ausschusses für das Bildungs- und Erziehungswesen (1959) zurück. Die Lehrerinnen wurden aus den Volksschulen übernommen. Eine adäquate Ausstattung mit den erforderlichen materiellen Ressourcen erfolgte nur selten.

Seither nimmt der Anteil der die Hauptschulen besuchenden Schülerinnen ständig ab (auf zwischenzeitlich unter 30 %), weil die Eltern nach höheren Bildungsabschlüssen für ihre Kinder streben und in der Wirtschaft gemeinhin der "höhere" Abschluss bevorzugt wird. Hauptschulklassen werden vielerorts geprägt durch Kulturabbrüche (Verwahrlosung, Antriebslosigkeit, Fremdheit). Die Bildungsgänge zum Hauptschulabschluss befinden sich in einer Akzeptanzkrise. Die öffentliche Akzeptanz des Abschlusses selbst ist weiterhin nicht mehr vorhanden; er wirkt zum Teil bereits als soziale Ausgrenzung.

Der Anteil von Schülerinnen, die weniger kognitiv vermittelbare Lernerfolge als andere erreichen können oder einseitige praktische Begabungen haben, ist unverändert groß. Insofern gibt es die typischen "Hauptschülerinnen", denen ein ihnen angemessenes Bildungs- und Erziehungsangebot unterbreitet werden muss.

 

2. Schulstrukturen

Seit 1972 erwuchs der Hauptschule eine Konkurrenz in Gestalt der Gesamtschule. Ausgangspunkt war die Streitfrage, ob jede Schülerin in der ihr gemäßen Schule unterrichtet werden soll oder ob jede Schule die Schülerin so unterrichten soll, wie es ihr gemäß ist. Je nach ideologischer Ausgangsposition und nach politischen Entwicklungen sind darauf in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland unterschiedliche Antworten gegeben worden. Gemeinsam ist diesen Lösungen jedoch, dass die eigentliche Herausforderung – nämlich die Bildung und Erziehung von wenig schulsystemkonformen Schülerinnen bei fehlendem gesellschaftlichen Konsens über die Ziele dieser Arbeit – als ungelöstes Problem geblieben ist.

Die pädagogischen Aufgaben bei der Beschulung von "Hauptschülerinnen" stellen sich in jeder schulischen Organisationsform. Insofern ist weniger über die äußere Organisation zu befinden als über die Qualifikation der Lehrkraft, ihr Selbstbild und ihre Professionalität sowie über die Rahmenbedingungen des Lehrens und des Lebens in der Schule.

 

3. Arbeitsaufgaben

Die Schule kann die für in traditionellen Formen gestaltete erfolgreiche Bildungsarbeit erforderliche Sozialisation nicht mehr voraussetzen, sondern muss diese selbst schaffen. Moralische, religiöse und rechtliche Normen sind in der Regel nicht mehr aufeinander bezogen und nicht mehr als geschlossenes System übertragbar und lehrbar. Daher sind immer wieder neu Vereinbarungen auszuhandeln, Kompromisse zu schließen, Motivationen zu stärken. Hinzu kommt, dass die zu vermittelnde Lebenstüchtigkeit für Schülerinnen Anforderungen hinsichtlich von Medienkompetenz und Fremdsprachenkenntnissen enthält, auf die für die hier angesprochene Schülerinnengruppe tragende pädagogische Antworten noch ausstehen.

Gerade für die Hauptschule gewinnt Erziehung das Primat über Bildung. In ihrem täglichen Handeln ist die Lehrkraft auf ein zeitaufwendiges Instrumentarium zur demokratischen Konsensbildung angewiesen. Dabei verbinden sich Bildung und Erziehung. Generell, ganz besonders aber für diese Schülerinnen gilt: Die Schule muss auf pädagogische Vertrauensverhältnisse hin organisiert werden. Das aber setzt voraus, dass Schülerinnen von wenigen Lehrkräften mit viel Zeit für die einzelnen Schülerinnen betreut werden. Mit Blick auf die häufig in verschiedener Hinsicht plurale Zusammensetzung der Schülerinnengruppe benötigen Lehrerinnen interkulturelle Kompetenz und möglichst auch Kenntnisse in realen Begegnungssprachen.

 

4. Schulausstattung

Hauptschulen brauchen Ressourcen, die dem Auftrag zu praktischem und handlungsorientiertem Lernen entsprechen. Wegen der begrenzten Lernerfolge bei Hauptschülerinnen durch verbal transportierte Botschaften verlangt das Lernen "mit allen Sinnen" eine reiche Ausstattung mit Anschauungsstücken, Tonträgern, Werkstoffen und Werkzeugen. Noch immer aber wird die Hauptschule in der sächlichen Ausstattung gegenüber Realschulen und Gymnasien benachteiligt. Zudem muss sie die technischen und finanziellen Möglichkeiten haben, den Lernort möglichst oft nach außerhalb der Schule zu verlegen. Viele Möglichkeiten zu neigungsorientiertem Unterricht entsprechen der Heterogenität der Schülerschaft. Der so ausgerichtete Unterricht erfordert einen erhöhten Personalaufwand.

Die Hauptschule braucht eine deutlich verbesserte Ausstattung an Finanzen – wobei die Entscheidung über den Mitteleinsatz an die Schule gehört – und Personal. Neben den Lehrkräften gehört dazu auch Betreuungspersonal (Sonderpädagoginnen, Sozialarbeiterinnen).

 

5. Lehrerqualifikation

Bei der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften stehen in der Regel Unterrichtsfächer im Vordergrund. Fragen der Pädagogik, der Anthropologie, der Psychologie, der Didaktik und der Methodik treten demgegenüber zurück und werden auf den Wert von Hilfswissenschaften reduziert. Dabei wird übersehen, dass besonders Hauptschülerinnen in ihrer Situation eine Expertin für Persönlichkeitsentwicklung brauchen, die authentisch handeln Orientierung bietet zu Selbstfindung, Sinnfragen, sozialen Aufgaben und Demokratiefähigkeit.

Ausbildung und spätere Wahrnehmung beruflicher Aufgaben sind gleichwertig denen von Lehrkräften an Realschulen, Gymnasien und berufsbildenden Schulen. Eine niedrigere besoldungsmäßige Einstufung ist deshalb nicht vertretbar.

Die Lehrerinnenausbildung muss auf eine erweiterte Sozialkompetenz hin verändert werden. Dies gilt auch für die Fortbildung. Die auch weiterhin notwendige Förderung der fachlichen Kompetenz kann in der Gewichtung allerdings zurücktreten zu Gunsten einer Erweiterung in den Bereich Didaktik, Methodik und Kommunikation. Persönliche Klärungen und Standortbestimmung in aktuellen Fragen gesellschaftlicher Entwicklung sind unverzichtbare Voraussetzung für das Gespräch gerade mit dieser Schülerklientel. Fortbildung muss dies einbeziehen.

Lehrkräfte, die Hauptschülerinnen unterrichten, müssen besoldungsmäßig anderen Lehrkräften gleichgestellt werden. Ihnen ist der höhere Dienst zu eröffnen.

 

6. Europäische Perspektive

Die schulische Bildung und Erziehung für ein vereintes Europa kann sich nicht auf die Vermittlung kognitiver Kenntnisse für Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur im vereinten Europa beschränken. Die Schülerinnen sollen darauf vorbereitet werden, auf dem grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt der Zukunft die jeweiligen Anforderungen zu erkennen, aufzugreifen und ihre Chancen zu nutzen. Auf die erforderliche Mobilität und Flexibilität kann durch lebenspraktische Einübung in der Schule vorbereitet werden.

Hauptschülerinnen sollen am Ende ihrer Schulzeit in einer europäischen Fremdsprache kommunizieren können. Weitere Fremdsprachen sind anzubieten. Erforderlich sind zudem Einblicke in die Arbeitswelt der Nachbarländer. Dazu müssen die Schulen im europäischen Rahmen kooperieren und Schüleraustausch institutionalisieren.

 

Anmerkungen 

  1. Zur Bedeutung des Religionsunterrichtes in der Hauptschule verweisen wir auf die Veröffentlichung der AEED aus dem Jahre 1992: "Welchen Religionsunterricht brauchen Hauptschülerinnen und Hauptschüler? – Thesen und Unterrichtsbeispiele". Die Schrift wurde unter Mitwirkung des Comenius-Instituts in Münster erstellt.

 

*Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Erzieher in Deutschland
Postfach 110 230 47142 Duisburg*Tel.: 0203-549143*0203-548726*aeed-duisburg@t-online.de