Abiturvorschlag – Thema: Zur Entwicklung der neuzeitlichen Religionskritik

von Michael Wermke

 

Paul Heinrich Dietrich Thiry wurde 1723 in Deutschland geboren und kam schon als Kind nach Paris zu seinem wohlhabenden Onkel Franz Adam d'Holbach, der ihm nicht nur sein beträchtliches Vermögen, sondern auch seinen Adelstitel hinterließ. Thiry d'Holbach genoß eine umfassende Bildung und gehörte mit zu den führenden Aufklärern seiner Zeit in Frankreich. 1770 veröffentlichte er, zunächst nur unter Pseudonym, sein grundlegendes Werk 'System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt'.

Aus diesem Werk ist der beiliegende Text entnommen.

Aufgabenstellung:

  • Fassen Sie die zentralen Aussagen des Textes zusammen.
  • Erläutern Sie die Bedeutung der Religionskritik d'Holbachs, indem Sie seinen Einfluß auf die neuzeitliche Religionskritik anhand ausgewählter Beispiele nachweisen.
  • Erörtern Sie Berechtigung und Grenzen der Religionskritik d'Holbachs.
     

Zur Entwicklung der neuzeitlichen Religionskritik

Kann sich ein Theologe wirklich für aufgeklärt halten, weil er die unbestimmten Wörter Geist, unkörperliche Substanz, Gottheit usw. an die Stelle der verständlichen Wörter Materie, Natur, Beweglichkeit, Notwendigkeit gesetzt hat? Wie dem auch sei, diese einmal erfundenen dunklen Wörter mußten mit Ideen verknüpft werden; man konnte sie nur von Dingen der mißachteten Natur entlehnen, da diese Dinge immer die einzigen sind, die wir erkennen können. Die Menschen schöpften diese Ideen also aus sich selbst; ihre Seele diente der universellen Seele als Modell; ihr Geist war das Vorbild des Geistes, der die Natur leitet; ihre Leidenschaften und ihre Begierden wurden das Urbild der Leidenschaften und der Begierden des Geistes; ihre Intelligenz war das Vorbild für seine Intelligenz; was ihnen selbst gemäß war, wurde Ordnung der Natur genannt; diese vermeintliche Ordnung wurde Maßstab für seine Weisheit; schließlich waren die Eigenschaften, die die Menschen an sich selbst Vollkommenheiten nennen, im kleinen die Vorbilder für die göttlichen Vollkommenheiten. So waren und werden die Theologen trotz aller gegenteiliger Bemühungen immer Anthropomorphisten sein; denn sie können immer nur Menschen zum einzigen Vorbild für die vermeintliche Gottheit machen. (...)

Es ist also wichtig, daß man sich bemüht, die Blendwerke zu zerstören, die nur geeignet sind, uns irrezuführen. Es ist an der Zeit, gegen die Übel, welche die Schwärmerei (der Religion) über uns gebracht hat, Heilmittel aus der Natur zu schöpfen: die von der Erfahrung geleitete Vernunft muß endlich die Vorurteile, denen das Menschengeschlecht so lange verfallen ist, an der Wurzel packen. Es ist an der Zeit, daß die ungerechtfertigterweise herabgesetzte Vernunft den kleinmütigen Ton aufgibt, der sie zum Mitschuldigen der Lüge und des Irrsinns macht. (...)
Die Stimme (der Vernunft) kann nur von rechtschaffenen Menschen vernommen werden, die an eigenes Denken gewöhnt sind und Gefühl genug besitzen, um die unzähligen Leiden zu beklagen, die der Erde durch religiöse und politische Tyrannei zugefügt werden, und die aufgeklärt genug sind, um die unermeßliche Kette der Übel wahrzunehmen, unter denen das bedrückte Menschengeschlecht zu allen Zeiten durch den Irrtum (der Religion) hat leiden müssen. (...) Dem Irrtum verdanken wir die religiösen Schrecken, die überall die Menschen in Furcht erstarren und für Hirngespinste sich niedermetzeln lassen.

 

Bezug zu den Inhalten und Lernzielen des Unterrichts:

Dieser Aufgabenvorschlag bezieht sich, gemäß RRL und Anstaltslehrplan, schwerpunktmäßig auf das 3. Kurshalbjahr 'Die Frage nach Gott - Glaube und Wissen' Lernfeld A (B); LT 1 (2+3). Verbindungslinien ergeben sich zum 1. Kurshalbjahr 'Jesus Christus - Fundament christlichen Glaubens und Handelns' (A (D); LT 5. Hier wurden auch die notwendigen Voraussetzungen zum Umgang mit biblischen Texten gelegt sowie Aspekte der biblischen Religions- und Sozialkritik behandelt. Ferner besteht ein inhaltlicher Zusammenhang zum 2. Semester 'Der Mensch auf der Suche nach Identität' C; LT 3.

In 13.1 haben sich die Schüler u.a. mit der seit der Aufklärung zu beobachtenden Auseinander­entwicklung des theologischen und neuzeitlich rational-wissenschaftlichen Denkens beschäftigt. Sie haben hierbei erkannt, daß in diesem Prozeß die Vernunft zum Primat menschlichen Handelns und Denkens erhoben und die Religion in die Privatsphäre zurückgedrängt wurde. (s. Elementare Aspekte zu Leitthema 1: 1, 3, 4; s. LZ A 2 und A 4, B 2 bis 4, C 2, C 3). Besonders deutlich konnte diese Entwicklung an dem für die Schüler sehr interessanten Thema 'Religionskritik' dargestellt werden. Hierzu wurden u.a. die Positionen von Feuerbach, Marx, Freud und Nietzsche anhand von Quellentexten und Referaten erarbeitet. Als Arbeitsgrundlage diente das Lehrbuch 'Religion im Sekundarbereich II'.

Nicht nur wegen der Bedeutung d'Holbachs für die Entwicklung der neuzeitlichen Religionskritik, sondern auch wegen seiner z.T. recht drastisch formulierten Standpunkte, die nach Differenzierungen und Stellungnahmen verlangen, erscheint der vorliegende Text für die Prüfungsgruppe besonders geeignet. Die Thesen d'Holbachs sind im Unterricht nicht behandelt worden.

Hinweise auf die geforderten Leistungen und deren Gewichtung:

Aufgabe 1 (AFB 1/2): Aufgabe 2 (AFB 2): Aufgabe 3 (AFB 3) = 3 : 5 : 2
 

Zu Aufgabe 1:

Im ersten Abschnitt bestreitet d'Holbach die Aufgeklärtheit der Theologen, die nicht erkennen würden, daß die Bedeutung ihrer theologischen Begrifflichkeiten allein aus der (menschlichen) Natur abgeleitet werden kann. So setzen sich auch die theologischen Aussagen über das Wesen Gottes allein aus Anthropomorphismen zusammen.
Im zweiten Abschnitt fordert der Autor die Aufhebung der Religion zugunsten der Vernunft mit Hilfe des aufgeklärten Menschen, da die Irrtümer der Religion die von Natur aus freien Menschen unterdrücken und sie in Unwissenheit halten.
 

Zu Aufgabe 2:

d'Holbach hat eine grundlegende Bedeutung für die Religionskritik der Neuzeit, insofern bei d'Holbach bereits wesentliche religionskritische Gedankenzüge angelegt sind, die insbesondere durch Feuerbach und dann durch Marx und Freud aufgegriffen und vertieft wurden.
Vom ersten Abschnitt aus läßt sich eine Beziehung zu L. Feuerbach herstellen: Der Mensch 'projiziert' seine Wünsche nach Vollkommenheit auf ein von ihm gedachtes höheres Wesen. Sowohl d'Holbach als auch Feuerbach sind demzufolge der Auffassung, daß Aussagen über Gott im Prinzip Aussagen über den Menschen sind.

Vom zweiten Abschnitt aus läßt sich eine Beziehung zur marxschen Religionskritik herstellen. Ebenso wie d'Holbach fordert Marx die radikale Beseitigung der Religion, damit die Vernunft das handlungsleitende Motiv des Menschen wird. Marx stimmt hier Feuerbach zu, daß der Mensch das höchste Wesen des Menschen sei, wobei Marx diese Maxime nur in einer revolutionären Veränderung der kapitalistischen Gesellschaft als erfüllbar ansieht. Aus d'Holbachs Religionsbegriff speist sich der marxsche, insofern dieser Religion als 'illusorisches Glück', als 'Opium des Volkes' bezeichnet, mit dessen Hilfe der von Natur aus freie Mensch unterdrückt wird.

Anders als d'Holbach spricht Freud gezielt nicht von der 'Religion als Irrtum', sondern von der 'Religion als Illussion', d.h. als Wunschvorstellung. Aus diesem Vergleich heraus ließe sich der psychoanalytische Ansatz der Religionskritik ableiten, in dem Religion eine Vertröstungs- und Entlastungsfunktion gegenüber dem Leiden der Menschen an der Kultur und ihren Ängsten vor der Natur zugesprochen wird.
 

Zu Aufgabe 3:

Die kritische Auseinandersetzung mit d'Holbach kann verschiedene Richtungen nehmen. Erwartet wird, daß eine argumentativ abgesicherte Diskussion geführt wird, die eine eigenständige Urteilsbildung erkennen läßt.

Folgende Argumentationslinien sind denkbar:

  • d'Holbach ist hinsichtlich seiner Auffassung, daß die Rede über Gott eigentlich die Rede über den Menschen beinhaltet, zuzustimmen,
  • er kritisiert einen zu eingeschränkten Religionsbegriff, der in unbiblischer Weise Gottes Wesen aus der Beschaffenheit der Natur deuten will (vgl. mittelalterliche Gottesbeweis­führung),
  • er differenziert nicht zwischen Christentum, Kirche und Religion, d.h. er trennt nicht zwischen dem Wesen des Christentums/der Religion und seiner geschichtlichen Erscheinung,
  • fraglich ist, ob nach einer Aufhebung der Religion auch die Entfremdung des Menschen aufgehoben ist,
  • Vernunft und Religion, besser Glaube, müssen nicht zwangsläufig im Widerspruch stehen,
  • die Religionskritik d'Holbachs kann letztlich nur durch die Praxis der Religion/des Christentums widerlegt werden.

Anmerkungen

  • 'Anthropomorphismen', abgeleitet von 'Anthropomorphismus': Übertragung menschlicher Gestalt und menschlichen Verhaltensweisen auf nichtmenschliche Dinge oder Wesen, besonders in der Gottesvorstellung.
     

Fundstelle und Erscheinungsjahr:

  • Paul Thiry d'Holbach, System der Natur oder von den Grenzen der physischen und moralischen Welt, 1770 Frankfurt 1978, S. 36, S. 11f