Abiturvorschlag – Thema: Das Hohe Lied der Liebe in heutiger Auslegung

von Michael Wermke

 

1977 führten der jüdische Professor Pinchas Lapide und Helmut Gollwitzer auf dem 17. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Berlin eine öffentliche Diskussion über das 'Hohe Lied der Liebe'. Aus dieser Diskussion stammt folgender Beitrag von Pinchas Lapide.

Wer dieses Hohe Lied genauer liest und nicht überfliegt, der merkt bald, daß es sich nicht um ein intimes Stelldichein zu zweit handelt, sondern um eine bräutlich-eheliche Liebe, an der auch die Familien und die Freunde beteiligt sind. Denn echte Liebe ist keine Sache von zwei Leuten, sondern zumindestens von zwei Familien. Und das ist eine gesellschaftlich-soziologische Realität, und nicht nur: Ich und Du. So treten u.a. die Brüder der Braut, die Mütter der Brautleute und die Gäste auf, die an der Hochzeitsfeier teilnehmen. Im Hohen Lied kommt der Liebesfunke von Gott, aber seine Anfachung und seine Erfüllung ist menschliche Sache. Die Liebe zwischen Mann und Frau wird hier als die große Kunst des menschlichen Miteinanders besungen, keineswegs als Mittel zur Fruchtbarkeit - da haben Sie recht -, sondern als sinnvoller Selbstzweck, der in Lust und Spiel den beiden Antipoden der gottgewollten Sexualität zu einer vertieften Menschwerdung verhilft. Aber was sagen Sie zu folgenden Stellen (des Hohen Liedes)? "Ich packe ihn", sagt die Schöne, "ließ ihn nicht mehr los, bis ich ihn ins Haus meiner Mutter brachte, die mich geboren, ihre Kammer" (3,4). Können Sie sich einen Freibrief zur wilden Ehe mit der Mutter vorstellen, die ihren Segen gibt? Im 6. Kapitel heißt es: "Dem Riß eines Granatapfels gleichen Deine Schläfen, hinter Deinem Hochzeitsschleier" (6, 7). Und wenn da steht: "Stark wie der Tod ist die Liebe" (8, 6), so ist das die Antithese jedes Strohfeuers, das einen Moment lang entbrennt, um dann auszugehen, sondern das ist ein Lied für die ewige Treue und für die Zweieinigkeit der Ehe bis in den Tod hinein. Es tut mir leid, ich sehe hier kein Hohes Lied des Eros, wohl aber die Verherrlichung der Ehe, die den Eros des Fleisches und der Leiblichkeit natürlich bewahrt, aber keinen Freibrief des Libertinismus.

(Libertinismus: Zügellosigkeit)

Arbeitsaufträge:

  1. Fassen Sie diesen Diskussionsbeitrag von P. Lapide zusammen.
  2. Führen Sie ausgehend vom Text die wesentlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Positionen von Lapide und Gollwitzer zu Liebe und Ehe an, und erläutern Sie diese.
  3. Begründen Sie ausführlich, welcher der beiden Argumentationen Sie den Vorzug geben. Berücksichtigen Sie hierbei auch biblische Positionen.
     

Fundstelle und Erscheinungsjahr:

Dokumentarband über den Kirchentag 1977, hrsg. vom 17. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Berlin 1977, Kreuz-Verlag 1977, S. 103ff
 

Bezug zu den Inhalten und Lernzielen des Unterrichts:

Dieser Aufgabenvorschlag bezieht sich schwerpunktmäßig auf das 3. Kurshalbjahr (13,1) "Ethik: Das Hohe Lied der Liebe". Verbindungslinien ergeben sich zum 1. Kurshalbjahr (12,1) "Exegese". Hier wurden u.a. die notwendigen Voraussetzungen zum Umgang mit biblischen Texten geschaffen sowie Probleme des jüdischen und christlichen Menschenbildes unter dem Aspekt der Auferstehung behandelt.
Im 3. Halbjahr haben sich die Schüler u.a. mit H. Gollwitzers Buch und P. Lapides Aufsatz zum Hohen Lied der Liebe (im folgenden: HdL) beschäftigt. Im Mittelpunkt standen hier insb. die verschiedenen Deutungsweisen des HdL durch die Geschichte der jüdischen und christlichen Exegese, die Beziehung zwischen Sexus, Eros und Agape, der Zusammenhang von Menschen- und Gottesliebe.

Hierbei wurden die jeweiligen Positionen herausgearbeitet, verglichen und diskutiert. Die unterschiedlichen Positionen Lapides und Gollwitzers über den von Gott gestifteten Ort menschlicher Sexualität wurde hierbei nicht in expliziter Weise hervorgehoben. Der Textauszug bzw. das Gespräch zwischen beiden Theologen war nicht Gegenstand des Unterrichts.

Hinweise auf die geforderten Leistungen und deren Gewichtung:

Aufg. 1 (AFB I): Aufg. 2 (AFB II): Aufg. 3 (AFB 3) = 3 : 4 : 3
 

Zu Aufgabe 1:

Nach Lapide handelt es sich bei der im Hdl beschriebenen Liebe um eine bräutlich-eheliche Liebe, an der u.a. die Familie des Brautpaares anteilnehmen. Das HdL zeigt s.E. auf, daß die menschliche Liebe als entfachter Liebesfunke Gottes primär zu einer vertieften Menschwerdung der (Ehe-)Partner führt. Mit Textbelegen aus dem HdL folgert Lapide nun, daß das HdL ein Lied zur Verherrlichung der ganzheitlichen Eheliebe bzw. der Ehe ist.
 

Zu Aufgabe 2:

Im wesentlichen können hier die Schüler folgende Unterschiede und Gemeinsamkeiten anführen und erläutern:
zu den Gemeinsamkeiten

  • das monistische Weltbild
  • die im HdL dargestellte Liebe ist sinnlich, d.h. sexuelle-erotische Liebe zu den Unterschieden
  • Lapide (L.): menschliche Liebe ist Ausdruck göttlicher Liebe
    Gollwitzer (G.): menschliche Liebe ist als Schöpfungsgabe Gottes unreligiös
  • L.: in der menschlichen Liebe im Ehebund (brith) zeigt sich die Liebe Gottes im Gottesbund (brith)
    G.: in der sexuell-erotischen Liebe zeigt sich die Agape
  •  L.: Ehe ist der göttlich gestiftete Ort der sexuellen/personalen Liebe
     G.: Ehe ist die gesellschaftliche Hilfestellung für die Liebe

Lapides Vorwurf, Gollwitzer halte das HdL für einen Freibrief des Libertismus der (ungezügelten Promiskuität), ist aus der Sicht Gollwitzers ungerechtfertigt, da sich nach Gollwitzer aus dem HdL ethische Orientierungspunkte für eine unlegalisierte Zweierbeziehung ableiten lassen.
 

Zu Aufgabe 3:

Aus dem Unterrichtsverlauf lassen sich zwei Argumentationsstränge ableiten, die jeweils folgende Aspekte enthalten können:

A.

  1.  Nicht nur aus dem HdL (s. Lapide), sondern auch aus anderen Teilen des AT (Hosea) läßt sich die Bedeutung der Ehe als die einzig vor Gott legitime Sexualbeziehung ableiten.
  2.  Auch im NT wird die Ehe als Ort menschlicher Sexualität definiert (u.a. Mk 10, 1-12; 1.Kor 7).
  3.  Allein die Ehe gewährleistet gegenseitige Treue der Partner und den Nachkommen die notwendigen zwischenmenschlichen Beziehungen.

B.

  1. Die biblischen (Ehe-)Vorstellungen lassen sich nicht ohne weiteres auf die heutige Situation übertragen. Das Familien- und Eheverständnis unterliegt einem ständigen historischen Wandel.
  2. Ehe kann nicht Bedingung der Liebe sein.
  3. Liebe schafft ihre eigenen Orientierungshilfen zur Ordnung der Liebe (s. Gollwitzer).

Da im Unterricht neben der Bibel und den o.g. Texten auch andere Texte (EKD-Denkschriften zur Sexualethik, E. Fromm, Die Kunst des Liebens, u.a.) erörtert werden, sind auch andere Argumentationsstränge denkbar.