Nach den Sommerferien steht für viele Kinder der Wechsel auf eine weiterführende Schule an. Die Grundschulzeit dieser Jungen und Mädchen fand unter einschneidenden Corona-Beschränkungen statt. Über die Folgen und Perspektiven gibt Lena Sonnenburg, Dozentin für den Bereich Grundschule im Religionspädagogischen Institut Loccum (RPI), im Interview Auskunft.
Die Grundschulzeit der Kinder, die jetzt auf eine weiterführende Schule wechseln, war maßgeblich von Corona geprägt. Wie macht sich das bemerkbar?
Sonnenburg: Das lässt sich so generell gar nicht wirklich sagen. Es kommt nämlich sehr darauf an, was die Kinder in der Coronazeit erlebt haben: Manche wurden in ihren Familien super aufgefangen, sie konnten im heimischen Garten toben und haben toll mit ihren Geschwistern gespielt. Bei anderen wuchs der elterliche Leistungsdruck extrem, da gab es riesige Konflikte während des Homeschoolings, der Selbstwert der Kinder wurde kleiner und Versagensängste bekamen viel Raum. Wieder andere wurden vor dem Fernseher „geparkt“, hatten nur wenig Austausch innerhalb der Familie und waren oft allein, weil die Eltern zum Beispiel in der Pflege arbeiteten. Und so sind eben auch die Folgen sehr unterschiedlich: Manche Kinder haben Corona einfach hinter sich gelassen, andere werden noch Jahre psychisch damit zu kämpfen haben.
Welche schulischen Erfahrungen fehlen den Kindern?
Sonnenburg: In der Tendenz lässt sich schon sagen, dass die „Corona-Kinder“ sich in freien Lernformen weniger sicher fühlen. Sie haben eben weniger Projektwochen oder Werkstattarbeit erlebt. Und: Man kann auch ausmachen, dass das soziale Miteinander in diesen Generationen weniger ausgeprägt ist, denn auch der Klassenrat, der Morgenkreis und das Spiel zum Geburtstag mussten ja über lange Zeit ausfallen. Den Lehrkräften kann dafür übrigens nicht die Schuld gegeben werden, auch das sei hier erwähnt. Offene Lernformen waren lange Zeit tatsächlich verboten, ebenso das Spiel in der Klasse. Als die Kinder dann wieder in der Schule waren, war unklar, wann der nächste Lockdown käme, also haben die meisten Lehrkräfte nach Leibeskräften versucht, den Stoff zu schaffen. Das Miteinander blieb dabei – verständlicherweise – oft auf der Strecke.
Lässt sich das, was versäumt wurde, je wieder aufholen?
Sonnenburg: Das ist die große Frage. Ich weiß es nicht – hoffe es aber natürlich. Denn wenn ich mich in der Tageszeitung oder im Internet so umschaue, möchte ich übermorgen gern Menschen erleben, die sozial miteinander umgehen, füreinander einstehen und demokratisch miteinander leben. Und dann sind da Bildungsstudien, die deutlich zeigen, dass in den Grundschulen zunehmend an den Kernkompetenzen der Schülerinnen und Schüler gearbeitet werden muss. Ein Dilemma! Denn welche Lehrkraft traut sich bei dieser Bildungslage, jeweils montags und freitags eine Stunde für das soziale Miteinander in der Klasse zu nutzen, vermehrt Spiele zur Stärkung der Gemeinschaft einzubauen oder den Kindern Zeit für den Austausch über Gefühle und das Einüben demokratischer Strukturen zu geben? Es ist echt schwierig!
Sind die weiterführenden Schulen auf diesen besonderen Jahrgang vorbereitet? Muss er anders behandelt werden als frühere 5. Jahrgänge?
Sonnenburg: Die weiterführenden Schulen waren ja von der Pandemie gleichermaßen betroffen. Sie wissen also, mit welchem „Gepäck“ die Kinder nun zu ihnen kommen. Ich denke, sie werden viel Wert darauf legen, in den neuen Klassen das Gemeinschaftsgefühl zu stärken, zu schauen, was jedes einzelne Kind braucht, und versuchen, individuelle Lernwege zu finden. Doch auch hier gilt: Der Stoff wird im Zentrum stehen müssen – und jede Lehrkraft wird für sich entscheiden, wie viel Zeit sie daneben noch auf die Social Skills ihrer Schülerinnen und Schüler verwenden kann.
Haben die Kinder während der Pandemie auch Kompetenzen erworben, die frühere Jahrgänge nicht hatten?
Sonnenburg: Ja, ordentlich in einer Reihe stehen und Abstand halten, das können sie prima (lacht). Nein, im Ernst: Viele Schülerinnen und Schüler können seit der Corona-Zeit Lern-Apps viel selbstverständlicher bedienen. Programme wie Anton oder Antolin haben viele Kinder durch das Homeschooling begleitet, dadurch gehen sie nun sehr geschickt mit ihnen um. Und: In der Schule arbeiten die Kinder gern Dinge ab. Am liebsten bekommen sie Arbeitsblätter, auf denen klar ist, was zu tun ist, und dann geht es los. Ganz ruhig und jede und jeder für sich.
Wie können die Jungen und Mädchen bei ihrem Wechsel in die 5. Klasse unterstützt werden?
Sonnenburg: Zeit, Einfühlungsvermögen und Vertrauen, das sind meiner Meinung nach die Zauberwörter für uns Erwachsene. Zeit, um offene Lernformen und Selbstorganisation zu üben, aber auch, um Gespräche über Ängste und Mutmacher zu führen und Konfliktlösungen und demokratische Grundstrukturen einzuüben. Einfühlungsvermögen, um wahrzunehmen, was die Schülerinnen und Schüler brauchen, worum sie sich sorgen, was ihre Ängste sind – um Leistungsdruck abzumildern, aber auch, um Symptome wahrnehmen zu können, die vielleicht weitergehender Hilfe bedürfen. Und am Ende natürlich Vertrauen darauf, dass auch die „Corona-Kinder“ ihren Weg gehen werden!
Interview: Lothar Veit / Evangelische Medienarbeit