"Da braut sich was zusammen"

Nachricht 10. Mai 2020

Experten befürchten, dass der Wegfall von Schulunterricht und Freizeitaktivitäten für viele Kinder und Jugendliche gravierende Folgen haben wird. Ärzte sehen sogar die Gesundheit von Kindern gefährdet.

Von Claudia Rometsch (epd)

Bonn/Bremen (epd). Die zwei Jungen sind einfach abgetaucht. Während ihre 23 Klassenkameradinnen und -kameraden zu Hause eifrig an ihren Aufgaben arbeiten, hat für die beiden Drittklässler mit dem Beginn des Corona-Shutdowns die Schule geendet. Ihre Eltern könnten oder wollten sich offenbar nicht um die Bildung ihrer Kinder kümmern, sagt die Klassenlehrerin einer Bonner Grundschule, die namentlich nicht genannt werden möchte. Weder per E-Mail, noch telefonisch hat sie die Eltern bislang erreichen können. "Ich mache mir Sorgen um die Kinder", sagt sie.

Der Berliner Jugendforscher Klaus Hurrelmann schätzt, dass insgesamt etwa zehn Prozent der Schülerinnen und Schüler seit dem Ende des regulären Unterrichts von ihren Lehrerinnen und Lehrern nicht erreicht werden. "Die sind einfach weg aus dem pädagogischen Radar." Die Folge sei eine große Bildungsungleichheit mit langfristigen negativen Folgen, befürchtet Hurrelmann. "Da braut sich was zusammen."

"Die Schere geht immer weiter auseinander", warnt auch Hans-Iko Huppertz, Generalsekretär der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin. Er erwartet, dass ein monatelanger Ausfall oder eingeschränkter Betrieb der Kindertagesstätten sowie Schulen vor allem für viele jüngere Kinder weitreichende Folgen haben könnte. "Bei Kindern gibt es bestimmte Zeiten, in denen sie etwas lernen. Und wenn sie das dann nicht gelernt haben, dann ist die sensible Phase vorbei." Verzögerungen ließen sich dann nur schwer aufholen.

Zu Beginn der Corona-Krise seien strikte Maßnahmen wie Schul- und Kindergartenschließungen nachvollziehbar gewesen, sagt der Bremer Kinder- und Jugendmediziner. "Jetzt ist es aber Zeit, darüber nachzudenken, was man den Kindern damit antut." Erste Fallstudien zeigten, dass eher Erwachsene Kinder ansteckten als umgekehrt. "Die bisherigen Daten deuten darauf hin, dass Kinder bei der Ausbreitung der Pandemie eine untergeordnete Rolle spielen."

Dennoch werde massiv in die Grundrechte von Kindern eingegriffen, wie etwa in das Recht auf Bildung. Und es werde riskiert, dass Kinder seelischen und gesundheitlichen Schaden nähmen. "Wir befürchten, dass Gewalt und Kindesmisshandlungen zunehmen", sagt Huppertz. Zudem mangele es Kindern an Bewegung, wenn sie zu viel Zeit in der Wohnung verbringen. "Wir Kinder- und Jugendärzte befürchten langfristige Auswirkungen auf die Gesundheit der nachwachsenden Generation, wenn die Einschränkungen in dieser Strenge lange fortbestehen."

Der Deutsche Kinderschutzbund (DKSB) kritisiert, die Rechte von Kindern gerieten in der Corona-Krise zu sehr aus dem Blick. "Das Recht auf Gewerbefreiheit ist in diesem Land viel wichtiger als die Kinderrechte", schimpft DKSB-Präsident Heinz Hilgers. Für den Handel gebe es Lockerungen, für die Kinder hingegen kaum.

Auch die Beschränkungen der Freizeit- und Sportangebote für Kinder und Jugendliche müssen aus Sicht der Experten dringend gelockert werden. "Man muss intelligente Lösungen wählen", fordert Huppertz. So könnte man etwa in Freibädern mit großem Außengelände Besuchern die Möglichkeit geben, bestimmte Zeitfenster zu buchen. Dadurch könnte die Gästezahl gesteuert werden. "Die Bevölkerung hat doch gezeigt, dass bis auf wenige Ausnahmen viele verstanden haben, worum es geht."

Hilgers sieht Politik und Kommunen vor allem im Hinblick auf die Sommerferien gefordert, Kindern wieder Freizeit- und Spielmöglichkeiten zu bieten. Angesichts der geplatzten Urlaubsreisen vieler Familien könne man nicht einfach Schwimmbäder schließen und Ferienfreizeiten absagen. Denkbar seien etwa Ferienfreizeiten, in denen Kinder in Kleingruppen betreut würden, sagte Hilgers. Der Kinderschutzbund plane derzeit solche Angebote, die sich gezielt an Kinder aus sozial schwächeren Haushalten wenden. "Hier müssen auch die Kommunen etwas tun", fordert er.

epd lnb bas mir
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