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Hans-Günter Heimbrock: Das Kreuz. Gestalt, Wirkung, Deutung, Vandenhoeck & Ruprecht 2013, ISBN 978-3-525-55052-6, 232 Seiten, 49,99 Euro

[I]m Jahr [s]einer Verabschiedung aus dem Hauptamt der Universität“ (5) legt Hans-Günter Heimbrock mit „Das Kreuz. Gestalt, Wirkung, Deutung“ ein „Buch zum zentralen Thema christlicher Theologie“ (5) vor. In zwölf Kapiteln beleuchtet er das Kreuz als Symbol und damit Wirklichkeitsträger und -stifter, immer gedacht in tatsächlicher „Begegnung und Auseinandersetzung mit visuellen Gestaltungen der Kreuzesbotschaft“ (11). Ziel seiner Darlegungen ist der „Entwurf einer praktisch-theologischen Gestalt-Theologie“ (17, 210), einer Praktischen Theologie, die sich der Chancen der Begegnung mit dem Kreuz als Gestalt bewusst ist und sie in ihren Aufgaben- und Gestaltungsbereichen wahrzunehmen weiß.

Heimbrocks Annäherungen (Kapitel 2+3) erzählen von zufälligen lebensweltlichen Begegnungen mit Kreuzgestalten, die deutlich keine Illustrationen oder reine Nacherzählungen der Passion von Golgatha sind, sondern ganz eigene theologische Deutungen tragen und vermitteln. Das Spektrum der hier betrachteten Kreuze, der (zweite und auch dritte) Blick auf das Ungewöhnliche und Dahinterliegende, die zufälligen Begegnungen mit den Kreuzgestalten, sind inspirierend für die eigene Auseinandersetzung und praktisch-theologische Arbeit.

Ob Kirchenraum, Skulpturen, zufällig entdeckte Übermalungen an einer Hausfassade, biografische Erzählung oder aus einem studentischen Projekt heraus entstandene Essays: Die „Wahrnehmungen des Kreuzes geschehen im buchstäblichen Sinne nie im luftleeren Raum“ (44). Sie vollziehen sich, so zitiert Heimbrock B. Waldenfels programmatisch für sein eigenes Buch, „als Wahrnehmungen eines menschlichen Betrachters, der nicht nur aus Auge und Intellekt besteht, sondern der als ein Leib-Subjekt anwesend ist“ (45). Überzeugendes Fazit seiner lebensweltlichen Annäherungen ist die Erfahrung, dass die wahrgenommenen Kreuzgestalten „in eigenwilliger, ungewohnter und irritierender Gestalt, in neuer Perspektive“ die „vertraute textgetreue Abbildung […] in Frage“ stellen (53).

Die sich anschließenden Vertiefungen (Kapitel 4-6) gehen aus vom aristotelischen Grundgedanken von Gestalt: „Das Ganze ist mehr als seine Teile“ (58) und orientieren sich an Gestaltansätzen aus Philosophie und Psychologie – zunächst ganz ohne Blick auf das Kreuz (Kapitel 4). Deutlich wird hier der – von Heimbrock mit Zurückhaltung verwendete – Gedanke der Ganzheitlichkeit: „Wahrnehmungen von Gestalten vollziehen sich immer nur als Wahrnehmungen aus der Perspektive eines menschlichen Betrachters, […] der als Leib-Subjekt in einer spezifischen räumlichen Situation situiert ist und die Welt auf dieser Basis intentional wahrnimmt.“ (65)

Von den anthropologischen Beobachtungen des vierten Kapitels ausgehend folgt ein exemplarisch angelegter, detailreicher Überblick über die religions- und christentumsgeschichtliche Rezeption der Gestalttheorie von vorchristlichen kultischen Ursprüngen des Kreuzsymbols bis hin zur Frage nach dem Umgang mit demselben angesichts von Reformation und Bildersturm (Kapitel 5). Sehr eingängig formuliert Heimbrock in diesem Kontext den Appell, historische Werdeprozesse der Deutungen unterschiedlicher Kreuzesformen in den Blick zu nehmen. Mit dem Vorwurf der Dekontextualisierung des Symbols durch scheinbar feste Definitionen fordert er ein, zu bedenken, „dass die Gestaltungen des Symbols selbst [immer schon] Teil der Interpretationsprozesse waren und sind“ (75).

Dem historischen Einblick folgen „Facetten eines theologischen Gestaltbegriffs“ (Kapitel 6), konkret derjenigen von Dietrich Bonhoeffer, Hans Urs von Balthasar, Paul Tillich und Henning Luther. In ihren deutlichen Facetten,

  • in Bonhoffers Gedanken der weltbezogenen Ekklesiologie, in der Kirche auch als Weltwerdung Gottes zu sehen und Christus in dreifacher Gestalt, nämlich Wort, Sakrament und Gemeinde anwesend sei, zusammengefasst in Bonhoeffers Aussage: „In der Menschwerdung Christi empfängt die ganze Menschheit die Würde der Gottebenbildlichkeit zurück“ (102),
  • in von Balthasars ästhetischem Ansatz, den Gehalt des Kreuzes nicht hinter, sondern in seiner Gestalt zu sehen,
  • in Tillichs Symbolbegriff und dem Gedanken der Korrelation von Religion und Kultur,
  • in H. Luthers christologischer Verortung des Kreuzes in der Solidarität Gottes mit dem Leidenden (Phil 2,5) und der Rechtfertigung des Menschen angesichts der eigenen Fragmentarität sieht Heimbrock als gemeinsame Schnittmenge die Kenosis-Lehre und damit einen grundsätzlich christologisch ausgerichteten Gestaltbegriff: „Im Mittelpunkt theologischer Rede von der Gestalt steht Kreuzestheologie, die Reflexion auf die Gestalt des Gekreuzigten als Gestaltwerdung Gottes“ (120).
     

Die sich konsequent anschließenden Schritte zur Praxis (Kapitel 7-9) formulieren die religionspädagogische Aufgabe, „Vorstellungen vom Kreuz [zu] bilden“ (Kapitel 7.), um mit seiner Botschaft „ein neues Verständnis von geglücktem Leben in die Erfahrung der Zweideutigkeit und Heillosigkeit“ (125) hineingeben zu können. Heimbrock besteht auf der Notwendigkeit einer „Verschränkung von intellektueller und ästhetischer Dimension von Bildung“ (126) und kritisiert im Blick auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen entwicklungspsychogische Entwürfe, die das imaginative Denken und Wahrnehmen stets als Vorstufe abstrakten Denkvermögens beurteilen und visuellen Phänomenen wie gestalterischen Prozessen damit ihren Eigenwert nehmen. Zudem beklagt er eine Ausklammerung ästhetischer und gestalterischer Perspektiven in komplexen Bildungsprozessen an sich.

In einem erneuten Blick in die konkrete Lebenswelt, hier von Schülerinnen und Schülern sowie von Pastorinnen und Pastoren, die unterschiedlichen Gestaltungsformen des Kreuzes in Interviews begegnen, zeigt Heimbrock die Korrelation von ästhetischer Wahrnehmung und theologischer (Heils-)Bedeutung gleichermaßen auf wie die Ambivalenz des Kreuzsymbols, die schon Paulus als Grundspannung formuliert hat. Deutlich stehen am Ende der einzelnen Interviews die persönliche (Neu-)Erschließung von Wirklichkeit von der Kreuzgestalt aus und im Blick auf die geforderten religionspädagogischen Bildungsprozesse die Wertschätzung der Kompetenzen sowohl der Schülerinnen und Schüler als auch der Pastorinnen und Pastoren.

An der Oberfläche (Kapitel 10-12) schließlich wirft Heimbrock einen Blick auf öffentliche und durchaus umstrittene Wahrnehmungen von Kreuz-Gestalten. Dabei stellt er beispielsweise angesichts des Kruzifix-Urteils von 1995 und der parallelen Causa Lautsi in Italien, die 2011 sogar bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ging, geläufige Argumente zu einer (Nicht-) Wirkmächtigkeit des Kreuzes enttarnend in Frage.

Im letzten Kapitel verbindet Heimbrock alle bisher gespannten Fäden noch einmal miteinander und gibt – leider sehr knapp gehaltene – gestalttheologische Anstöße für die Aufgabenfelder Praktischer Theologie. So plädiert er überzeugend für die Aufbrechung einer rein verbalistisch orientierten Seelsorge hin zu einer Praxis der Begegnung; appelliert an eine veränderte und am Gestaltcharakter des Evangeliums orientierte Wahrnehmung von Gottesdienst als Gestalt und Geschehen; macht sich stark für einen neugestalteten und auch performativ gedachten Religionsunterricht.

Im Fazit wünscht Heimbrock „ein realitätsorientiertes Modell Praktischer Theologie“, das das Tun und Sein derjenigen Menschen, die in der Begegnung und Auseinandersetzungen mit Gestalten des Kreuzes aufeinandertreffen, in einem erweiterten Sinne zu verstehen hilft und sich der Wirklichkeitsstiftung durch Kreuzgestalten bewusst ist.

Kirsten Rabe

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2014

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