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Bild: Rainer Sturm  / pixelio.de

Rezension
Reinhold Mokrosch

Johannes Lähnemann: Interreligiöse Verständigung und Bildung 1980 – 2020. Eine Bilanz im Spiegel der Nürnberger Foren zur Kulturbegegnung, Berlin, EB-Verlag 2021, 252 Seiten, 24,80 €

40 Jahre Interreligiosität an Schulen und Hochschulen – ist das ein kurzer oder ein langer Zeitraum? Er reichte von der Ausländerpädagogik bis zum interreligiösen Dialog; vom Unterricht über Weltreligionen bis zum Interreligiösen Lernen; von religiös getrennter bis zu religiös gemischter Schülerschaft; und vom Lernen über Religionen bis zum Lernen mit Religionen. – Diesen 40-jährigen Spagat hat Johannes Lähnemann, der Architekt der 12 Nürnberger Foren, anschaulich nachgezeichnet.
1982 fiel der Startschuss zum 1. und 1985 zum 2. Forum („Kulturbegegnung in Schule und Studium“ und „Erziehung zur Kulturbegegnung“) – damals noch bescheiden ‚Symposium‘ genannt. Die Schwerpunktfragen waren der damaligen Zeit angemessen: Wie begegnen sich Christen und Muslime, Deutsche und Türken mit ihren verschiedenen Kulturauffassungen? Und wie können Lehrkräfte deutsche und türkisch-stämmige Kinder und Jugendliche zur Wahrnehmung ihrer eigenen und der anderen Kultur und Religion motivieren? Ein reflektiertes Bewusstsein von religiösen Riten und Praktiken hatten Kinder und Jugendliche damals kaum. Und muslimische Religionslehrkräfte gab es noch nicht. Es ist großartig, dass J. Lähnemann und die anderen Forums-Akteure schon in diesen 80er-Jahren nach der „Sinnmitte, dem Sinnsystem, den Wahrheitsansprüchen und dem Sendungsbewusstsein“ (33f.) von Christentum und Islam fragten und didaktisch reflektieren. Es war noch Unterricht über die Weltreligionen und noch kein Interreligiöses Lernen (IL) mit, aus und durch die Weltreligionen. Aber es war revolutionär und bahnte den Weg für IL.

Die 2. Hälfte der 80er-Jahre war in Schule und Studium geprägt von Friedenspädagogik. „Die Religionen entdeckten die Friedenserziehung und die Friedenserziehung entdeckte die Religionen.“ (35), konstatiert Lähnemann. Deshalb standen das 3. Forum unter dem Titel „Weltreligionen und Friedenserziehung. Wege zur Toleranz“ (1988) und das 4. „Das Widererwachen der Religionen als pädagogische Herausforderung“ (1991). „Peace-Building“ und „Frieden bauen durch Vertrauen“ waren nach dem Fall der Mauer angesagt. Alle Formen der Friedensstiftung von verstärkter Spiritualität über eine gegenseitige Anerkennung der Wahrheitsansprüche bis zum Frieden zwischen den Religionen wurden damals praktiziert.
Gleichzeitig erlebten wir ein Wiedererwachen von Religiosität und religiösen Gefühlen. Gerade im atheistischen Ost-Deutschland strömten Jugendliche in den Religionsunterricht, weil sie religiöse Gefühle hatten und Religionen kennenlernen wollten. Diese Herausforderung wurde in den Foren intensiv diskutiert.

In den 90er-Jahren beherrschte Hans Küngs „Weltethos“ die religionspädagogische Szene und damit auch das 5. und 6. Forum „Das Projekt Weltethos in der Erziehung“ (1994) und „Interreligiöse Erziehung“ (1997). Kulturen der Gewaltlosigkeit, der Solidarität, der Toleranz und der Gleichberechtigung waren damals Lebens- und Erziehungsziele, welche die Religionspädagogik beherrschten. Sie wurden auf den Foren in gleichlautenden Themenbereichen erarbeitet.

Freilich ließ die Kritik am „Weltethos“ nicht auf sich warten und kam auf den Foren zum Zuge: Kann man wirklich europäische, arabische, indische und fernöstliche Kulturen unter gleiche moralische Prinzipien subsummieren? Aber die Verteidiger Küngs waren auf den Foren in der Mehrheit. Das zeigte aus meiner Sicht eine gewissen Einseitigkeit der Foren. Aber darin lag auch ein besonderer Reiz: Es ging um die Wahrheitsfrage angesichts pluraler Religionen, um Friedensstiftung gegen Gewaltfanatismus, um Pluralität und Identität der Religionsgemeinschaften. Die Beschreibung des Autors lässt die Zeit wiederaufleben.

Weiterhin anschaulich beschreibt Lähnemann die Jahre 1999-2005 als Zeit interreligiöser Aufbrüche mit neuen interreligiösen Didaktiken (Leimgruber, Nipkow, Meyer, Lähnemann) und weltweiten interreligiösen Dialogen (WCRP- Weltversammlungen und RfP D). In diese Zeit fielen das 7. und 8. Forum: „Spiritualität und ethische Erziehung“ (2000) und „Bewahrung, Entwicklung, Versöhnung – Religiöse Erziehung in globaler Verantwortung“ (2003). Spiritualität wurde als Grundlage für Moral und Ethik erachtet, was besonders die asiatischen Referenten eindrucksvoll demonstrierten. Und globale Verantwortung erfordere global-visionäres Denken: Versöhnung sei immer mit Entwicklung zu verbinden, Freund-Feind-Schablonen seien zu überwinden, Interreligiöse Begegnungen zu arrangieren, und Kulturen der Gewaltfreiheit, Solidarität, Toleranz und Gleichberechtigung (Weltethos) seien zu fördern.

Das 9. und 10. Forum (2006 „Visionen wahr machen. Interreligiöse Bildung auf dem Prüfstand“ und 2010 „Medien-Macht und Religionen. Herausforderung für interkulturelle Bildung“) waren global angelegt. Konstruktive und destruktive Visionen in verschiedenen Religionen, Kulturen und Ländern wurden verglichen. Waren und sind sie realisierbar? Kann man durch interreligiöse Bildung Visionen wahr oder unwahr machen? Das 9. Forum ging diesen Fragen quer durch Europa nach.
Global wurde auch im 10. Forum die Macht der Medien auf dem Gebiet Religion untersucht. Die Berichterstattung der Medien über Religion präge, so die Forumsreferenten, das gesellschaftliche Bild von Religion. Und darauf müsse interreligiöse Bildung in Schule und Hochschule zunehmend reagieren.

Das 11. und 12. Forum 2013 und 2016 („Menschenrechte und interreligiöse Bildung“ und „Public Theology and Interreligious Learning“) ließ sich nur auf dem Hintergrund weltweiter Zerstörung von Menschenrechten (besonders in Syrien, Ägypten, Libyen) verstehen. Im Kampf zwischen Islamisten und Islam und auch zwischen Christen und deren Fundamentalisten wurde die Ambivalenz der Religionen gegenüber den Menschenrechten erschreckend deutlich. Die Foren hielten religiöse und interreligiöse Bildung als mögliches Heilmittel dagegen. Sie betonten: Verantwortlicher Umgang mit Religionsfreiheit sei das Hauptziel solcher Bildung. Freiheit „für“, „in“ und „von“ Religionen müsse gelehrt und gelernt werden. Und zwar in Form einer öffentlichen Theologie und Religionspädagogik, die öffentliche Verantwortung für die Menschenrechte zu übernehmen bereit sei.
„Wie die Sache der Nürnberger Foren weitergeht“ lautet das letzte Kapitel.

Manfred L. Pirner bietet einen guten Überblick über die seit 2016 erschienene Literatur zum Interreligiösen Lernen, und referiert Inhalte und Ergebnisse seiner bestens besuchten Tagung 2019 über „Menschenrechte von Kindern und Jugendlichen im Kontext Schule“, auf der Kinderrechte als Basis schulischen Zusammenlebens beschworen wurden. Lähnemann gibt einen guten Überblick über die 10. Weltversammlung von RfP International 2019 in Lindau. Und schließlich werden noch „Fridays for future“ (einschließlich ‚Laudato si‘ von Franziskus und die Nachhaltigkeitsschrift des Weltethos) und der Corona-Einbruch angesprochen. – Das alles gibt einen guten Einblick in die Interreligiöse Bildung der letzten 6 Jahre.
Eine Anfrage zum Schluss: Hätten die Verfasser wohl einige prognostizierende Analysen über die Auswirkungen Interreligiöser Bildung auf die Gesellschaft wagen sollen? Z.B.: Hat die interreligiöse Schau auf die Menschenrechte eine gesellschaftliche Vertiefung und Verbreitung derselben bewirkt? Hat interreligiöse Bildung hier und da einen Einfluss auf die Abfassung von Schulbüchern, Unterrichtsmaterialien und auf die mediale Berichterstattung über Religion gehabt? Hat Küngs Weltethos hier und da zu neuer ethischer Reflexion geführt? Und vor allem: Führt Friedenspädagogik zum Friedensverhalten? Freilich – dazu hätte es valider Umfragen bedurft. Aber - jeder Umfrage geht eine Hypothese voraus. Und so könnte man sagen: Solche Hypothesenbildung soll dem*der Leser*in überlassen bleiben. Johannes Lähnemann hat dafür hervorragendes Material aus den vergangenen 40 Jahren in diesem lesenswerten und lesensnotwendigen Buch zusammengestellt. Ich möchte dazu sehr herzlich gratulieren.