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Bild: Rainer Sturm  / pixelio.de

Svenja Flaßpöhler
Verzeihen. Vom Umgang mit Schuld, Deutsche Verlagsanstalt, 3. Auflage, München 2016, ISBN 978-3-421-04463-1, 223 Seiten, 17,99 €


Verzeihen. Vom Umgang mit Schuld

Die promovierte Philosophin und stellvertretende Chefredakteurin des „Philosophie Magazins“ Svenja Flaßpöhler hat mit ihrem Buch über das „Verzeihen“ und den „Umgang mit Schuld“ ein sehr persönliches Buch geschrieben. Den roten Faden nämlich bildet die eigene Geschichte der Autorin: Sie war 14 Jahre alt, als ihre Mutter die Familie verließ. Als Rahmen dient im Prolog wie im Epilog des Buches deshalb die Frage der sechs Jahre jüngeren Halbschwester an die Autorin, ob sie ihrer Mutter verziehen habe. Svenja Flaßpöhler kreist in ihrem Buch um diese eine persönliche Frage und kommt immer wieder darauf zurück; zurück zu sich selbst und ihrer Mutter.


So verbindet Flaßpöhler die philosophische Analyse des Gegenstandes „Verzeihen“ mit einem narrativen Philosophieren. Das Verzeihen gehöre zu jenen Phänomenen, über die „losgelöst von konkreten Situationen nur schwer etwas gesagt werden“ (34) könne, begründet sie dieses Vorgehen und hält dazu fest: „Erkenntnis wird immer auch aus dem Erzählen gewonnen, ja besser noch: gewoben.“ (34)


Svenja Flaßpöhler hat ihr Buch ausgehend von drei Fragen, die sich für sie aus ihrer persönlichen Geschichte herausgestellt haben und stellen, in drei Kapitel gegliedert: 1. Heißt verzeihen verstehen? 2. Heißt verzeihen lieben? 3. Heißt verzeihen vergessen? Am Ende jedes Kapitels lässt sie Menschen zu Wort kommen, die von ihrem Umgang mit schwerer Schuld erzählen. Diese Passagen narrativer Philosophie sind besonders eindrücklich. Mit ihnen wird das Phänomen des Verzeihens auf einer emotionalen Ebene nachvollziehbar, besser noch: nachfühlbar. Sie motivieren dazu, sich mit eigenen Schulderfahrungen und dem Umgang damit auseinanderzusetzen. Hier erzählen eine Mutter, deren Tochter 2009 in Winnenden von einem Amokläufer ermordet wurde, ein Mann, der selbst getötet hat, und schließlich zwei Holocaust-Überlebende von ihren Erfahrungen mit Schuld und Verzeihen sowie ihre Perspektive auf beides.

In den analytischen Ausführungen zu den drei gestellten Fragen kommen Philosoph*innen wie Hannah Arendt, Jaques Derrida, Emmanuel Lévinas, Peter Sloterdijk, Vladimir Jankélévitch sowie nicht zuletzt Immanuel Kant zu Wort. Besonders interessant insbesondere für Theolog*innen und Religionspädagog*innen dürften Flaßpöhlers Ausflüge in die Religion, Theologie und Bibel sein. So denkt sie beispielsweise im zweiten Kapitel über das paradoxe Diktum des französischen Philosophen Jaques Derrida nach, wonach letztlich nur das Unverzeihbare nach Verzeihung „rufe“ (107). Hier verweist sie mit dem ebenfalls französischen Philosophen Paul Ricœur auf das Hohelied der Liebe des Apostel Paulus im 1. Korintherbrief (1 Kor 13,5-7) und denkt im Folgenden über das neutestamentarische Ideal bedingungsloser Liebe sowie über die Passage im Vaterunser (Mt 6,14-15) über das Vergeben von Schulden nach. An den Stellen, an denen Flaßpöhler den theologischen Bereich betritt, werden ihre Ausführungen – zumindest aus der Sicht einer Theologin – teilweise etwas einspurig: beispielsweise in ihrer pauschalen Attributierung des Christentums als „schuldbeladen“ und der Behauptung, der christliche Gott habe „durch seine Selbstaufopferung eine auf ewig abzuzahlende Schuld in die Menschen“ gepflanzt (103) sowie bei ihrer Interpretation der „christlichen Erzählung des Sündenfalls“, wonach die Schuld Adams und Evas „unsere Schuld“ sei, „die wir bis zum Tode (ab-)büßen müssen“ (173).

Insgesamt ist das Buch von Svenja Flaßpöhler ein absolut lesenswertes, bewegendes Buch, das zum Nachdenken nicht nur über das Verzeihen einlädt, sondern noch über zahlreiche weitere zentrale philosophische Fragen, die mit der Frage nach dem Verzeihen verwoben sind; z.B.: Was ist das Böse? Woher kommt das Böse? Hat der Mensch einen freien Willen? Woher kommt der menschliche Impuls der schenkenden Geste des Verzeihens? Insofern ließen sich einzelne Textpassagen hervorragend im Religionsunterricht verwenden, um auf dieser Grundlage miteinander zu philosophieren und zu theologisieren. Für den Religionsunterricht ebenso wie für den Politikunterricht könnten auch jene Passagen spannend sein, in denen Flaßpöhler über das ritualisierte Erinnern an den Holocaust und deutsche Kriegsverbrechen im politischen Bereich nachdenkt. Kurzum: Das Buch ist eine wahre Fundgrube voller Anstöße zum (Nach-)Denken über das anthropologische Phänomen des Verzeihens.

Christina Harder