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Bild: Rainer Sturm  / pixelio.de

Norbert Reck: Der Jude Jesus und die Zukunft des Christentums – Zum Riss zwischen Dogma und Bibel. Ein Lösungsvorschlag; Grünewald-Verlag; Mainz 3. Auflage 2021, ISBN 978-3-7867-3180-1, 192 Seiten; 22,00 €
 

Der Jude Jesus und die Zukunft des Christentums

Warum lässt sich christlicher Glaube in Westeuropa immer schwerer erzählen? Dieser Frage geht der promovierte katholische Theologe Norbert Reck in seinem Buch nach. Grundlegend ist darin die These, dass die Krise des Christentums in der Theologie liege: „in ihrem Zurückschrecken vor der jüdischen Identität Jesu seit dem Beginn der Moderne – mit weitreichenden Konsequenzen“ (7).

Norbert Reck fordert nicht mehr und nicht weniger, als endlich ernst zu machen mit der alles andere als neuen Einsicht, dass die biblischen Erzählungen geschichtlich bedingt sind. Ernst zu machen auch mit der Tatsache, dass Jesus jüdisch dachte und fühlte, dass er in die Diskurse des Judentums seiner Zeit eingebunden war. „Gesucht wird eine christliche Theologie, die den jüdischen Jesus nicht mehr ignorieren, sondern kennenlernen will. Und das müsste weit über die bloße Feststellung hinausgehen, dass Jesus Jude war. Was bedeutet der jüdische Jesus theologisch?“ (99)

Um sich den biblischen Erzählungen in diesem Sinne nähern und sie neu lesen zu können, schlägt Reck vor, die Diskursanalyse des französischen Philosophen Michel Foucault theologisch fruchtbar zu machen. Dies begründet er mit der Diskurs-Tradition im rabbinischen Judentum, wie sie sich beispielsweise im Talmud widerspiegelt. Laut dem Talmudforscher Daniel Boyarin, dessen Fachexpertise Reck an dieser Stelle seines Buches ins Feld führt, seien die Redaktoren des Talmud im 4./5.Jahrhundert mit einer Vielzahl einander widersprechender Positionen konfrontiert gewesen und hätten deshalb entscheiden müssen, welche Perspektiven sie in den Talmud aufnehmen wollten und welche nicht. Also hätten sie nach dem Vorbild der Redaktion der Bibel beschlossen, den erfolgten Diskurs der verschiedenen Positionen nicht zu kaschieren, sondern unterschiedliche Perspektiven gleichermaßen gültig im Talmud zu versammeln. (125)

Wie könnte nun aber eine konkrete biblische Erzählung im Sinne einer Diskursanalyse neu erzählt werden? Im Sinne einer christlichen Theologie, die mit der Einsicht ernst macht, dass Jesus selbst bereits Teil kontroverser Diskurse innerhalb des Judentums seiner Zeit war? Norbert Reck zeigt dies exemplarisch an vier zentralen biblischen Themen auf: Gott des Exodus, Opfer, Messias und Gang über den See (Wunder). In der Tat schafft er es hier, die biblischen Texte lebendig werden zu lassen und sie zeitgemäß auszulegen, also so, dass sie in unsere Zeit zu sprechen beginnen. 

Bereits im Vorwort räumt Norbert Reck ein, sein Buch habe „eindeutig eine katholische Schlagseite“ (8), dennoch habe er versucht, auch die protestantische Seite in seinen Überlegungen, vor allem in den Beispielen, abzubilden. Aus protestantischer Sicht lässt sich dieser ehrliche Versuch Recks nach aufmerksamer Lektüre durchaus feststellen und würdigen. Aus eben dieser Perspektive scheint aber auch manches in dem Buch nicht ganz neu zu sein, so wie beispielsweise die Feststellung des historischen Risses zwischen Exegese und Dogma sowie die Forderung verbunden mit dem Bemühen, die jüdische Identität Jesu bei der Exegese insbesondere von Evangelientexten nicht nur zu berücksichtigen, sondern noch stärker in den Fokus zu rücken. Dennoch ist Recks Buch eine eindringliche Erinnerung und Aufforderung, in der Verkündigungspraxis mit dem jüdischen genauso wie mit dem pluralistischen und diskursiven Charakter der Heiligen Schriften endlich wirklich ernst zu machen. Der diskursanalytische Ansatz in Anlehnung an Michel Foucault inspiriert darüber hinaus zu neuen Perspektiven auf scheinbar altbekannte Texte sowie zu einem echten Gespräch zwischen den alten Texten und Menschen des 21. Jahrhunderts, in denen wirklich die Möglichkeit besteht, dass sich Einstellungen, ja, Perspektiven der Gesprächsteilnehmenden verändern. Möglicherweise liegt hier tatsächlich eine Chance, christlichen Glauben in Westeuropa wieder so zu erzählen, dass Menschen darin Lebensrelevantes neu entdecken können. 

Der Jude Jesus und die Zukunft des Christentums: ein Buch, das zur Wiederentdeckung alter sowie zur Entwicklung neuer Ideen für das Erzählen biblischer Narrative im Westeuropa des 21. Jahrhunderts inspiriert.

Christina Harder