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Michael Klessmann: Ambivalenz und Glaube, Warum sich in der Gegenwart Glaubensgewissheit zu Glaubensambivalenz wandeln muss, Kohlhammer: Stuttgart 2018, ISBN 978-3-17-034455-6, 289 Seiten, 34,00 EUR


Bereits der Untertitel verrät die Hauptthese: „Warum sich in der Gegenwart Glaubensgewissheit zu Glaubensambivalenz wandeln muss.“ Und dann werden im Vorwort die Karten ganz auf den Tisch gelegt, nämlich, dass der Glaubensbegriff in postmodernen Zeiten weiter und differenzierter gedacht werden muss, als das in der Kirchen- und Dogmengeschichte lange der Fall war. Klessmann, emeritierter Professor für Praktische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, wirbt dafür, Glaubensambivalenz nicht als einen Makel zu verstehen, der bekämpft oder überwunden werden müsste, sondern als eine notwendige Bereicherung und kreative Fähigkeit. Die Rede vom Glauben als einer „fraglosen Gewissheit“ ist für ihn hingegen kein erstrebenswertes Ziel.

Wer ganz wenig Zeit hat, kann es damit bewenden lassen – und verpasst dennoch viel. Denn im Folgenden wird diese Grundaussage aus ganz verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet, hergeleitet, hinterfragt, erprobt und verteidigt. Klessmann fährt sehr viel Material auf (aus der Gesellschaftsdiagnostik und der Psychologie, aus Soziologie, Anthropologie und Theologie), ohne dass das ermüdend wirkt. Er hat die Gabe, klar und verständnisvoll zu argumentieren und andere Positionen fair zu Wort kommen zu lassen.

Unter der Überschrift „Psychosoziale Aspekte“ wird daran erinnert, dass die Traumdeutung vielschichtig sei und kein „richtig“ oder „falsch“ kenne. Dies gelte für Textdeutung und Gesprächsdeutung ebenso, denn Deutung sei immer auch Konstruktion und Vermutung.
Menschliches Leben sei konstitutiv von Konflikten bestimmt, u.a. zwischen Es, Ich und Über-Ich, zwischen Partizipation und Autonomie, zwischen Anpassung und Phantasie. Ambivalenz sei eine besondere Reaktion auf Konflikterleben und die Frage sei, wie man das bewertet: als belastend und verunsichernd oder als wertvolle Resilienz-Quelle. Krankhaftes Erleiden von Ambivalenz mache schizophren. Zwanghaftes Ausblenden von Ambivalenz mache außerdem rigide, unlebendig und sogar fundamentalistisch. Gesundes Wahrnehmen von Ambivalenz verschaffe Elastizität und lebendige Balance.

Ambivalenz als Signatur der Postmoderne geht auf den polnischen Soziologen Zygmunt Baumann zurück: Baumann sprach 1991 vom „Ende der Eindeutigkeit“. Nichts gelte mehr unhinterfragt; alles könnte auch ganz anders sein. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit war der Schlachtruf der Moderne; Freiheit, Verschiedenheit, Toleranz ist die Waffenstillstandsformel der Postmoderne.“ Es gebe nicht mehr die eine für alle gültige Wahrheit, sondern mehrere und man könne mehrere wichtig und wegweisend finden. Ambivalenz sei nicht zu beklagen. Sie müsse gefeiert werden.

Die Gegenbewegung dazu sei der Fundamentalismus. Fundamentalisten seien Vereinfacher, wollten durch ein Wörtlich-Nehmen das hermeneutische Problem (Auslegung) übergehen, meinten, Gottes Willen genau zu kennen und beanspruchten die alleinige Deutungshoheit über die Heilige Schrift. Aufkommende Zweifel sollten durch Verabsolutierung einer Position kompensiert werden. Klessmann sieht das kritisch, sogar in einer abgemilderten Variante, z.B. der Forderung des früheren Papstes Benedikt, „der Diktatur des Relativismus einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche“ gegenüberzustellen.

Ein solcher Dualismus ist Klessmann zufolge nicht hilfreich für die alltägliche Lebensbewältigung. Denn Glaube sei immer beweglich, mal fest, mal Neues suchend, mal vermutend, mal zweifelnd. So solle man auch in Bibelarbeit und Predigt überlegen, ob man auf Geborgenheit, Festigkeit und Beheimatung oder auf die Freude an der Differenz setzen will. Wenn die Kirche Ambivalenzen ausblende, sei es kein Wunder, wenn Menschen sich abwendeten.

Aus den vielen Anwendungsmöglichkeiten sei nur ein Feld herausgegriffen: die Kasualien. Deren Anlässe (Knotenpunkte) sind stets ambivalent: „Wow, ich bin schwanger“, aber: „Huch, ich kann nie mehr allein nach Berlin.“ Bei der Beerdigung der Mix aus Liebe, Wut, Schuld. Bei der Heirat die neu auszutarierende Rollenverteilung. Das Ritual „hält“ die widersprüchlichen Emotionen, die also nicht einseitig aufgelöst oder (aus Furcht) umgangen werden sollten.
Ein materialreiches, gut und verständlich geschriebenes Buch, das entlastend und ermutigend wirkt: Ambivalenz ist nicht das Gegenüber des Glaubens, sondern gehört zu ihm. Der Glaube wird dadurch nicht karg, sondern kräftig.
Zum Schluss: Ambivalent wirkt das Fehlen des Literaturverzeichnisses. Immerhin kann es beim Verlag heruntergeladen, ausgedruckt und dann hemmungslos mit Textmarkern traktiert werden.

Christian Stasch

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/2019

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