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Gymnasialpädagogischen Materialstelle der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (Hg.)
Unter die Haut – Stigmata und Tattoos
Theologische Verortungen, Texte, Bilder
Anregungen für den Religionsunterricht von Roland Deinzer
mit Beiträgen von Hans Jürgen Luibl, Inken Mädler, Peter Bubmann
Heilsbronn 2018,
Zu beziehen über: materialstelle.rpz-heilsbronn@elkb.de



Großartig! Da hat jemand ein genuin anthropologisches Thema verfolgt, das bisher tatsächlich noch niemand in dieser Reflexionstiefe für den Religionsunterricht entdeckt hat: Stigmata und Tattoos. Prämisse dieser Arbeitshilfe ist die Überzeugung, „Körperkunst und Körpermodifikationen [als] anthropologische Konstanten von vor Urzeiten bis zur Postmoderne“ seien sowohl als „künstlerischer Selbstausdruck“ als auch „als Manifestation von Transzendenzerfahrungen“ zu verstehen.

Ihren Anfang nahm diese Arbeitshilfe mit einem Seminar für Christliche Publizistik, das Prof. Hans Jürgen Luibl im Sommersemester 2014 an der Universität Erlangen-Nürnberg angeboten hat. Aus diesem Seminar heraus entstand die Konzeption einer Ausstellung, die 2015 bei BildungEvangelisch in Erlangen zu sehen war. Und schließlich mündeten die theoretischen Annäherungen an das Thema sowie konkrete unterrichtspraktische Ideen in die vorliegende Arbeitshilfe. Dass der Ausstellungskatalog als Materialschatz beiliegt, freut die Religionslehrerin besonders.

Hans Jürgen Luibl, Inken Mädler und Peter Bubmann stellen der Arbeitshilfe drei grundsätzliche Artikel voran: Luibl nimmt seine Leserinnen und Leser mit auf einen „kulturgeschichtlichen Spaziergang“ durch „Körperzeichen im Wandel der Zeiten“. Das erste Tattoo macht er 35.000 v. Chr. fest: Knochen mit Kerben, in die der Mensch seine Erfahrung der Jagd und des Überlebens eingeschrieben habe. Es folgt eine spannende biblische Rückbindung – vom Einritzen des göttlichen Odems in den Menschen bis zum im wahrsten Sinne des Wortes einschneidenden Erlebnis des Bundesschlusses. Der Weg geht weiter über Erfahrungen der Stigmatisierung beispielsweise bei Franz von Assisi und schließlich zur Bedeutung von Tattoos als Einschreibung menschlicher Grenz-Erfahrungen „in den individuellen, sozialen und religiösen Körper“. Luibls steile These am Ende: „Theologisch aber gilt: Der tätowierte und stigmatisierte Körper ist der materialisierte Stellvertreter Gottes. Wer oder was Gott ist, lässt sich nicht mehr in Geschichten erzählen, sondern im Abtasten und Ansehen von tätowierten und stigmatisierten stummen, dinglichen Körpern entdecken.“ Man erkennt die große Chance dieses Themas: ganz nah bei den Schülerinnen und Schülern und ganz nah bei gesellschaftlichen Entwicklungen und menschlichen Erfahrungen zu sein.

Mädler verfolgt den überzeugenden Gedanken von Tattoos als Kommunikation von Grenzerfahrungen. Das geschieht unter der Prämisse eines weiten Religionsbegriffs: „[V]iele scheinbar alltägliche Phänomene der als populär apostrophierten Ausdruckskultur [rekurrieren] auf Erfahrungen des Außeralltäglichen […] und [können] insofern religionshaltig sein […], als sie Kontingenzbewältigung vollziehen und Lebenserfahrung deuten, die sich an der Grenze dessen bewegt, was wir in der Hand haben.“ Neben diesem Zugang über visualisierte menschliche Grunderfahrungen bietet Mädler weitere Perspektiven und wunderbare Gesprächsanlässe für Jugendliche:

  • Tattoos seien signifikant für die Zugehörigkeit des Tätowierten zu einer bestimmten Gruppe und deren Identität, zeigten also exklusiven wie inklusiven Charakter. Hier verweist sie auch auf van Genneps Rites de passages.
  • Identitätsbildung geschehe in (veränderbaren) Bildern. Der Wunsch, Tattoos entfernen und ggf. erneuern zu lassen, lasse die eigene Haut „zu einer Art menschlichem Palimpset [werden], das frühere Texturen durchscheinen lässt“. Folgerichtig und theologisch spannend konstatiert Mädler für das tätowierte Individuum: Ich habe kein Tattoo, ich bin ein Körper mit einem Tattoo.
  • Hier denkt Mädler die Diskussion um Digitalisierung weiter: Ein Tattoo sorge für „echte Präsenz in Zeiten der virtuellen Verflüchtigung aller Bilder“.
  • Eine Tätowierung entsteht nicht auf der Haut, sie entsteht durch die Narben unter der Haut. Der Verweis auf Nietzsche „Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: Nur, was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis“ und Aleida Assmann: „Das Körpergedächtnis der Wunden und Narben ist zuverlässiger als das mentale Gedächtnis.“ wird Jugendliche auf ihre schmerzlichen Lebenserfahrungen hin ansprechen.
     

Mädler lässt ihre an sich für die Motive des Tätowierens offenen und interessierten Ausführungen nicht ohne den mahnenden Blick auf lebensfeindliche Formen wie das Ritzen. Sie unterscheidet aber diese Selbstverletzung, ein Vorgehen, hinter dem keine semantische Funktion stehe, von eigentlichen Tätowierungen.

Bubmann schließlich antwortet auf Mädler. Er kritisiert mögliche „kulturelle Hoheitskämpfe“ und die Absetzung von „etablierten Gruppen“ durch Tätowierungen. Sein Fokus liegt auf der abgrenzenden und seiner Einschätzung nach festlegenden Funktion von Tattoos, Mädlers Deutung einer Tätowierung als Transzendierungsprozess geht er nicht mit. Körperbilder seien für ihn als besondere Form des Schriftmediums praktisch-theologisch interessant. Er stellt einen Vergleich zur Bedeutung der Stimme im religiösen Kontext an: „Der Stimmklang ist vergänglich, gebunden an den Stimmträger und den Augenblick […], dem entspricht das Grundverständnis des Evangeliums“. In einer Tätowierung dagegen sieht er die Gefahr, eine Fixierung Gottes zu versuchen und Tattoos zu „dogmatischer Schriftlichkeit“ werden zu lassen. Hier liegt für ihn ein Widerspruch zu christlicher Freiheit. Sein rechtfertigungstheologischer Blick an dieser Stelle ist für das Gespräch mit den Jugendlichen absolut lohnenswert: Lassen sich Tattoos als „Ausdruck eines Willens zur Selbstrechtfertigung“ interpretieren?

Ja: Die Chancen und auch Grenzen von Tätowierungen – auch zum Ausdruck eigener Religiosität – müssen reflektiert werden. Richtig: Über die Gefahren festgelegter Körperbilder muss man ebenso sprechen wie man über ästhetische Grenzen streiten kann. Nichtsdestotrotz wirkt allerdings Bubmanns Appell: „Praktische Theologie als Lebenskunstwissenschaft hat eben auch aufzuzeigen, welche Grenzüberschreitungen im Medium kultureller Handlungsvollzüge wünschenswert und empfehlenswert sind“ wie der erhobene Zeigefinger derer, die glauben, sich von der Gruppe der Tätowierten abgrenzen zu müssen. Widerspricht sich die Argumentation an dieser Stelle nicht?

Den drei grundsätzlichen Artikeln folgt eine Einordnung des Themas in das Curriculum des Faches evangelische Religion in Bayern. Das tut dem Einsatz dieser ansprechenden Arbeitshilfe allerdings keinen Abbruch, sind doch die Ideen in allen Aspekten übertragbar auf das niedersächsische Curriculum, vor allem auf den Schwerpunkt „Religion und Identität“ in der Einführungsphase. Die sieben sich anschließenden Unterrichtsentwürfe können je nach eigener Schwerpunktsetzung genutzt werden und ermöglichen eine vielfältige, differenzierte Auseinandersetzung mit diesem innovativen Thema:

  1. Wer schön sein will, muss leiden – oder: Gehört den Schönen wirklich die Welt?
  2. Was geht mir unter die Haut – oder: Jeder hat sein (inneres) Tattoo!
  3. Wie drücken Menschen aus, was ihnen wichtig ist? oder: Ein Tattoo kann auch ein Schal sein!
  4. Tätowierungen und ihre religiöse Bedeutung – oder: Ein Bild ist mehr als nur ein Bild!
  5. Tätowierungen machen einen Menschen zu etwas Besonderem – oder: Menschsein alleine reicht nicht!?
  6. Tätowierungen – Modehype oder uralte Tradition?
  7. Alles hat seinen Preis – oder: Welche möglichen Risiken habe ich zu bedenken?
     

Der umfangreiche und qualitativ hochwertige, farbige Materialanhang mit zahlreichen Arbeitsblättern und Fotos macht Lust, einfach auszuprobieren.
Diese Arbeitshilfe holt die Tattoos aus der Schmuddelecke und lässt sie nicht bei einer bloßen veralteten Modeerscheinung stehen – wie wohltuend!

Kirsten Rabe

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/2018

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