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Anna-Katharina Szagun
Nur Gott selbst kann wissen, ob es ihn gibt!
Langzeitstudie zur frühkindlichen Entwicklung von Gotteskonzepten in zunehmend säkularen Kontexten.
Unter Mitwirkung von Stefanie Pfister und Andrea Klimt.
Reihe Kinder erleben Theologie, Band VI
Format Verlagsgruppe: Gera/Jena 2018
ISBN 978-3-946964-20-9
461 Seiten, 32,90 €



Jochens Mama glaubt nicht an Gott. Aber Papa tut es und geht mit den älteren Geschwistern zum Gottesdienst. Jochen erklärt sich das so: „Nur Gott selbst kann wissen, ob es ihn gibt.“ Die Folgerung des Vierjähren, die Anna-Katharina Szagun als Titel ihres Bandes ausgewählt hat, steht stellvertretend für Kinder, die erleben, wie unterschiedlich die Familie und ihr nahes Umfeld religiös denken und empfinden. Wie aber eignen sich Kinder heute religiöse Inhalte an? Die Rostocker Langzeitstudie zur Entwicklung von Gotteskonzepten versucht Antworten auf diese Frage zu geben. Der vorliegende sechste Band schließt eine Forschungslücke und wertet Erkenntnisse zur religiösen Entwicklung der drei- bis sechsjährigen Kinder aus. Darauf aufbauend werden Ziele, Inhalte und Methoden zur Begleitung von Kindern im Elementarbereich bzw. zu Beginn der Grundschulzeit umrissen. Darüber hinaus fasst der Band in Form von modellhaften Schemata und Thesen Einsichten zu den Rostocker Langzeitstudien zusammen.

Drei zentrale Fragestellungen leiten die Überlegungen: 1. Wie „funktioniert“ religiöses Lernen bei Drei- bis Sechsjährigen? / Welche (sozialisationsbedingten) Einflussfaktoren spielen eine Rolle? 2. Wie können Gottesvorstellungen angebahnt werden, die „mitwachsen“, sich auch in Krisen bewähren und eine potenzielle Gottesbeziehung eher stützen statt sie zu behindern? 3. „Wie kann biblisch-christliche Tradition so mit heutigem Denken und Empfinden verknüpft werden, dass sie auch für kirchendistanzierte Begleitpersonen wieder zu lebensrelevanten Herausforderungen wird?“ (S. 24)

Die Basis dieser Untersuchung bilden Einzelgespräche mit 55 Kindern aus vier evangelischen Kitas. Mehrere Merkmale zeichnen diese Untersuchung aus: Der zeitliche Rahmen der Forschung, bei der Szagun die Kinder bis zu vier Jahren begleitete; die Berücksichtigung der jeweiligen Lebenssituation der Kinder, so dass Wechselwirkungen von Einflussfaktoren auf das Denken über Gott sichtbar wurden. Ein weiteres Kennzeichen ist die Forschungsmethodik: Im Setting von persönlichen Gesprächen ermöglichen visualisierende Verfahren und Analogiebildungen eine Erkundung des mehrdimensionalen Gotteskonzeptes, die ein reines Gespräch aufgrund der sich erst entwickelnden Verbalisierungsfähigkeit der Kinder nicht ergeben würde. Dazu wählen die Kinder u.a. aus einer Materialsammlung mit sowohl explizit kirchlich erkennbaren wie nicht religiös festgelegten Gegenständen solche aus, die ihrer Meinung nach „ähnlich wie Gott sind oder irgendwie zu Gott gehören oder mit Gott zu tun haben“ und ordnen sie einander zu. Diese Methoden nutzt Szagun sowohl für die Erhebung der kognitiven Gottesvorstellungen als auch der emotionalen und motivationalen Gottesbeziehung.

Der Hauptteil des Bandes (S. 65-333!) stellt zwölf umfangreiche Einzelfallstudien vor und gibt einen detaillierten Einblick in die Gottesbilder der Kinder und die behutsamen Interventionen sowie anschließenden Kommentare der Forscherin. Ein beiliegendes Heft mit Fotos zu den Materialcollagen illustriert die jeweiligen Gottesbilder der Kinder.

Die Fülle der Äußerungen, die Vielfalt der Zugänge der Kinder sowie die wechselseitigen Einflussfaktoren bündelt Szagun in acht Ergebniscluster, die auf die Eingangsfrage antworten, wie „Gott in Kinderköpfe kommt“. Dabei belegt sie u.a., dass die emotionale Qualität in den Lernsituationen darüber entscheidet, ob sich das Kind auf seine Weise religiöse Vorstellungen aneignet. Ohne eine für das Kind als „Modell“ fungierende Person (in der Familie, der Kita oder Schule), die selbst einen Zugang zu Religion/Gott/Glauben gefunden hat, wird das Kind kaum eigene Gottesvorstellungen entwickeln, die eine tragende Gottesbeziehung ermöglichen.

Weitere Ergebnisse zeigen, welchen ambivalenten Einfluss Weihnachten (der Weihnachtsmann) und die Begegnung mit dem Tod auf Gottesvorstellungen haben. Gerade die Kinder, die in religionsdistanzierten Kontexten aufwachsen, begegnen dabei dem „traditionellen Mythenhimmel“ mit Gott als „jenseitig existierender Person“, als Nothelfer oder Aufpasser. Diese Gottesbilder können jedoch zu Stolpersteinen werden, die in Krisen nicht tragen bzw. schon von Kitakindern hinterfragt werden. Ob Kinder ihre fragilen Teilkonzepte weiterentwickeln bzw. nach der enttäuschten Inanspruchnahme von theistischen Gottesvorstellungen in der religiösen Entwicklung stagnieren, hängt entscheidend von kontinuierlichen und öffnenden Impulsen ihres Umfeldes ab.

Dabei plädiert Szagun für eine Vielfalt von Gottesmetaphern schon im Kindergartenalter. Dies unterstreicht sie in dem Kapitel „Theologische Entscheidungen“, in dem sie nach Möglichkeiten sucht, die Substanz des christlichen Glaubens in eine Sprache zu führen, die in der heutigen Lebenswelt tragfähig ist. Im Anschluss u.a. an Matthias Kroeger umreißt sie die Stärke „non-theistischer“ Vorstellungen, die Gott nicht auf personale Bilder festlegen, sondern sich an der ungegenständlichen Wirklichkeit Gottes als „Geheimnis der Welt“ orientieren. Jesus „als Sprachrohr des Göttlichen“ und die „Geistkraft der Liebe“ sind weitere Sprachbilder für ein mitwachsendes Gotteskonzept.

Szagun hat damit auch die religiösen Begleiterinnen in Kita, Schule, Gemeinde und Familie im Blick, denen der traditionelle Schatz an Gottesbildern fremd (geworden) ist. Praktische religionspädagogische Folgerungen deutet Szagun nur an und verweist auf den 2017 erschienenen Materialband „Wie kommt Gott in Kinderköpfe“, der didaktische Überlegungen genauso enthält wie ausgeführte Impulse und Andachten und sich darum für Praktikerinnen und Praktiker stärker eignen dürfte und schon bündelnde Abschnitte teilweise wortgleich enthält.

Insgesamt erhält der Band einen faszinierenden Einblick in die Unterschiedlichkeit religiösen Denkens und Erlebens von Kindern. Dies ist hilfreich für alle, die vor diesem Hintergrund eigene Erfahrungen mit Kindern vergleichen und zuordnen wollen. Mit ihren Ergebnissen kritisiert Szagun erneut kognitionspsychologische Stufenmodelle der religiösen Entwicklung.

Die vorgestellten Erhebungsmethoden regen zudem an, genauer hinzuschauen, welche Fragen die begleiteten Kinder in Kita oder Grundschule beschäftigen und welche „Resonanzräume“ (435) sie benötigen. Diese Methoden sollten darum verstärkt in der Ausbildung, Fortbildung oder in Teamstudientagen eingesetzt werden, nicht nur für Erzieherinnen, sondern auch im Vikariat und bei Pastorinnen und Pastoren, die die Kita religionspädagogisch begleiten.

Die Kritik an traditionellen Gottesbildern wie „Vater“ oder „Herr“, die Szagun auch in liturgischen Settings durch andere Formulierungen ersetzt, ist ein wichtiger Impuls für kontroverse Diskussionen.

Hervorzuheben sind zwei empfehlenswerte Kapitel zur Einordnung und Würdigung der Ergebnisse. Stefanie Pfister gibt einen Überblick über den Forschungsstand. Andrea Klimt richtet in einem Dialog mit A.-K. Szagun den Blick auf Schnittmengen und Unterschiede zu anderen Untersuchungen.

Gert Liebenehm-Degenhard

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/2018

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