Mein Psalm - ein Zugang zu religiöser Selbsterfahrung

von Karlheinz Vonderberg

 

1. Beobachtungen

Psalmen als explizites Unterrichtsthema - dazu noch in der gymnasialen Oberstufe? Selbstverständlich scheint dies nicht zu sein und die Hemmschwelle liegt hoch: eine "schwierige" Sprache, ein völlig anderer Lebenskontext, eine fremd anmutende Gottesbeziehung ... Auf der anderen Seite: gerade die Sprache der Psalmen erschließt die religiöse Dimension elementarer Erfahrungen von Glück und Leiden, Krankheit und Stärke, Bedrückung und Befreiung. In einzigartiger Weise drückt sich in ihnen aus, was fundamental zum Menschsein gehört: die Gottesbeziehung. Sie sind Ausdruck eines gelebten Glaubens, der die Höhen und Tiefen menschlicher Existenz in dieses Verhältnis setzt. Insofern ist ein probierender Umgang mit ihnen durchaus geeignet, das Funktionieren von Religion für Schülerinnen und Schüler nachvollziehbar zu gestalten.

 

2. Erfahrungen

Der Zugang für Schülerinnen und Schüler zu Struktur und Sprache der Psalmen beginnt mit eigenen Erfahrungen der Unterrichtenden. Im konkreten Fall kann dies so aussehen: Ich habe immer wieder Teile bestimmter Psalmen auswendig gelernt und sie einfach bei der passenden Stelle rezitiert (s. Beispiele). Die Verblüffung der Schüler war groß. Sie konnten die Texte nicht einordnen und staunten über die Sprache. Ich habe sie dann aufgefordert, den Inhalt wiederzugeben und sich Gedanken zu machen, wer das wohl wann gesagt haben könnte. Das Ergebnis war verblüffend: Bei den ersten Versuchen konnten sie den Inhalt nicht angeben und den Text auch nicht zuordnen. "Das ist sicher was aus der Bibel!", vermuteten sie, und ich forderte sie dann auf, doch einfach in der Bibel zu suchen. Das Erstaunen war groß, als sie zwischen Hiob und Sprüche fündig wurden und feststellten, dass dort 150 Psalmen zu finden sind. Dieses Erstaunen hat die Psalmen für sie nicht interessanter gemacht, aber sie meinten: "Dann war das für die damals doch sicher was wichtiges, wohl so eine Art Gebet." Und meine Gegenfrage war dann: "Könnte so etwas für uns auch wichtig sein?" Damit war der Einstieg geschafft.

Als Leitfragen für die weitere Arbeit ergaben sich:

  • Was ist für meine Schülerinnen und Schüler wichtig?
  • Was wollen sie in eine besondere Sprache einbinden?
  • Was wollen sie in Gebete einkleiden?
  • Was bedrückt, beglückt, bekümmert, ermutigt, bekräftigt .... sie?
  • Wie gehen wir vor, um dieses Ziel zu erreichen?
  • Arbeiten wir einzeln oder in Gruppen?
  • Was machen wir mit dem Ergebnis? Ist es vielleicht auch ein Psalm?


Ein Ergebnis:
Allwissender,
Notendruck lastet schwer auf mir,
in der Schule habe ich wenig Freude.
Schon wenn ich morgens aufstehe,
dann möchte ich am liebsten krank sein.
Komm! Begleite mich zu diesem Stress
gib mir Aussicht auf Erfolg,
schenke mir Geborgenheit in meinem Kummer.

 

3. Die Vorgehensweise

"Mein Psalm" ist das Ergebnis eines zunächst zweigleisigen "Sprachspiel-Prozesses", in dem auf der einen Seite Begriffsassoziationen zu Lebens-Erfahrungs-Feldern zu kurzen Sätzen geformt werden und auf der anderen Seite eben dies mit den Konnotationen zu Begriffen des persönlichen Glaubens geschieht. Der Psalm entsteht am Ende dieses Prozesses durch das "Verweben" der beiden Sprachkomplexe.

Der Prozess beginnt mit dem Sammeln wichtiger Stichworte aus dem nicht-religiösen Bereich, aus denen gemeinsam ein Stichwort ausgesucht wird (s. Beispiel "Schule"). Zu diesem Stichwort wird im Sinne eines Brainstormings das sprachliche Begriffsfeld erfasst (in Einzelarbeit, Gruppenarbeit oder im Plenum möglich). Zu einzelnen Stichworten werden kurze Sätze formuliert und im Anschluss daran inhaltlich verknüpft. In einem zweiten Gang werden Stichworte aus dem "religiösen" Bereich gesammelt und ebenfalls zu kurzen Aussagesätzen geformt.

"Mein Psalm" entsteht, wenn jetzt die beiden Satzkomplexe zusammengefügt und sprachlich geglättet werden. Hier liegt der Einstieg in die individuelle Gestaltung des jeweiligen Psalms; die Schülerinnen und Schüler greifen die erarbeiteten Sätze auf und gestalten sie mehr oder weniger originell um. Die Erfahrung zeigt, dass sie in der Regel ein Ergebnis erhalten, das sie selbst in seiner Geschlossenheit verblüfft. Sofern auch Muslime am Religionsunterricht teilnehmen, bekommen sie die Möglichkeit den Gottesnamen individuell zu gestalten.

Es hat sich als hilfreich erwiesen, einige dieser persönlichen Psalmen in eine kurze Meditationsübung einzubauen. Erstaunlich ist dabei die Bereitschaft sehr vieler Schülerinnen und Schüler, ihren jeweiligen Psalm vortragen zu dürfen. An solch eine Vorstellung schließt sich dann das Gespräch über Sprache und Kultur auch biblischer Psalmen gut an; dabei lassen sich insbesondere herausarbeiten:

  • Die Klarheit über Sitz im Leben und Person des Verfassers,
  • sein individuelles Empfinden des Textes
  • und seine persönliche Identifikation.

Den Schülerinnen und Schülern kann hier deutlich werden dass sie Gebete in einer besonderen sprachlichen Form konstruiert haben, ohne dass es zu künstlichen Sprachgebilden kam. Im Experiment erschließt sich ihnen, wie die religiöse Deutung von Alltagserfahrungen funktionieren kann, ohne dass ihnen dabei von vornherein ein bestimmter Glaube aufgenötigt wird, zumal das Verfahren die Möglichkeit beinhaltet, dass auch Erfahrungen der Gottesferne auf diese Art und Weise zur Sprache gebracht werden können und dürfen. Über dieses Experiment wird ihnen dann ermöglicht, bei weiteren Versuchen Sprach-Bilder aus den Psalmen für den eigenen Gebrauch heranzuziehen.

Mit den entstandenen Texten ist kreative Weiterarbeit möglich; z. B. können sie künstlerisch ausgestaltet werden (Initialen); dabei entstehen oft sehr schöne Miniaturen oder kalligraphische Werke. Möglich ist auch, einen Text zu vertonen zu lassen (analog den "zur Laute vorgetragenen Psalmen").

Die beschriebene Herangehensweise erfordert von den Unterrichtenden ein entsprechendes Maß an sprachlicher Flexibilität und an Lust zum Sprach-Spiel. Ein sicheres Gespür für Wortfelder und für die Sprache der Schülerinnen und Schüler sind dazu jedenfalls erforderlich, lassen sich aber auch im Zuge eigenen Experimentierens erarbeiten. 

Strukturmuster für den Entstehungsprozess "meines" Psalms am Beispiel "Schule"

Wir sammeln Stichworte aus der Erfahrungswelt unseres Alltags:
Liebe, Hass Eltern, Schule, Umwelt, Freundschaft... und wählen eines aus.

 

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Schule

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Zu dem ausgewählten Stichwort erfassen wir das sprachliche Umfeld (Assoziationen, Begriffe - keine Sätze)

 

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Schulweg, Lehrer, Lernen, Noten, Bücher, Leistung, Lerndruck, Schulfreunde, Tadel Zeugnisse, frühes Aufstehen, Erfolg, Lob, Versagen, Begabung,
...

    v
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    v
 
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Wir wählen einzelne Assoziationen aus (ca. 4-6) und drücken dazu in einfachen Sätzen unsere jeweiligen Erfahrungen aus. Dies kann individuell geschehen, aber auch in der Gruppe oder im Plenum (Kollektiverfahrungen).

 

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Lernen geht an meinen Bedürfnissen vorbei.
Ich empfinde Noten oft als ungerecht.
Meine Zeugnisse zeigen mir mein Versagen.
Ich lerne soviel und nichts bleibt im Kopf.
...

 

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      v
 
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Wir versuchen, Sätze inhaltlich zu verknüpfen

 

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Schon das Aufstehen morgens fällt mir schwer.
Denn ich weiß, es geht zur schule.
Dort warten Lehrer und Noten,
Leistungsdruck und Zeugnisse
...

 

     

In einem zweiten Arbeitsgang sammeln wir Stichworte aus dem "religiösen" Bereich (z.B. Assoziationen zu "Gott")

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Zuversicht, Hilfe Güte, Geborgenheit, Heil, Annahme, fern sein, allwissend

      v
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      v
 
      v
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Wir wählen einzelne Assoziationen aus (ca. 4-6) und drücken dazu in einfachen Sätzen unsere jeweiligen Erfahrungen aus. (individuell, in Gruppen oder im Plenum s.o.).

 

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In Gott liegt Zuversicht für den Tag.
Gott achtet nicht auf meine Noten.
Gott nimmt mich mit meinen Schwächen an.
Vor Gott sind alle gleich.
...

 

     

Beide Satzkomplexe - Alltagserfahrungen und religiöse Aussagen - werden nun ineinander "verwoben", sprachlich

   Allwissender,
Notendruck lastet schwer auf mir,
in der Schule habe ich wenig Freude.
Schon wenn ich morgens aufstehe,
wenn ich weiß, es geht zur Schule,
dann möchte ich am liebsten krank sein.
Komm! Begleite mich zu diesem Stress
gib mir Aussicht auf Erfolg,
schenke mir Geborgenheit in meinem Kummer.

 

Beispiele für die Verwendung von Psalmen/Psalmversen im Unterricht

Psalm

inhaltliche Zuordnung/Anlass

1

Der Glaube und die Überzeugung, gerecht zu handeln, gibt Stärke

2,7

Wir alle sind Kinder Gottes

10, 1-5

Kann ich mich in meinem Handeln auf Gott verlassen? Wo ist er?

19, 1-5

Wo treffe ich in dieser Welt den Schöpfer an?

23

Wer hält uns in der Hand (> R.M. Rilke: Herbst)

24, 1-2

Konflikt Ökologie-Ökonomie / Schöpfungstheologie

31, 1-6

Gerechtigkeit in dieser Welt, Gerechtigkeit im Glauben

49, 1-5

Gottes Wort geht an alle ohne Unterschied

71, 1-6

Vertrauen in Gott; "Ein feste Burg..."

90, 1-6

Mensch und Zeit - Gott und Ewigkeit

103, 1-6

Von Gott geht Gnade aus - ich kann mein Leben gestalten.

113

Lieder als Lob des Schöpfers; Gott ist einzig (Einstieg Thema Islam

121

Gott gibt uns im Glauben Stärke

130

Leben, Sterben und Tod im Glauben

137, 1-6

Babylonisches Exil - Wo ist der Mensch zuhause?

148, 1-5

Lob des Schöpfers; Ökologie und Schöpfungsauftrag

 

 

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/1998

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