Über Philipp Melanchthon ist  im Zusammenhang mit   seinem 500. Geburtstag am 16. Februar 1997 viel gesagt  worden:   Theologisches, Historisches, Pädagogisches, Politisches, darunter meist    höchst Gescheites und bisher Unbekanntes.
 
 Ich möchte die Gelegenheit  dieser Tagung benutzen, um etwas zu sagen,   das unter dem Gesichtspunkt auf- und  abgeklärter methodischer   historischer Schulung eigentlich unerlaubt ist: Ich  will Rechenschaft   ablegen über Assoziationen und Anregungen, die mir bei der  Lektüre   Melanchthons und deren Verarbeitung gekommen sind. Gerechtfertigt bin    ich dadurch, dass ich als Politiker nicht den gleichen gestrengen   Maßstäben unterliege  wie sie Wissenschaftler untereinander abverlangen.   Vor allem kann ich natürlich  etwas für aktuell halten, was ein   Historiker naserümpfend als unhistorisch  qualifizieren würde.
 
 Die erste Beobachtung bei  der Lektüre Melanchthons ist die ungeheure   Ferne und Fremdheit, die uns aus  seinen Schriften entgegentritt. Dies   liegt wohl in erster Linie an der  Selbstverständlichkeit, mit der alle   Äußerungen, die sich auf Weltliches (d.h.  auf Bildung, Schulen,   Lehrerinnen und Lehrer, Inhalte, Universitäten usw.)  beziehen, in einen   religiösen Kontext einbezogen sind. Das Evangelium und seine   Bedeutung  für die totale Existenz des Einzelnen und der Gesellschaft  und des   Staates, muss bei allen Überlegungen nicht nur als anwesend,  sonders als  Quelle  und Ziel allen Denkens gewusst sein. Da dieses  Evangelium aber  selbst nur  begriffen werden kann nicht als sichere  Verheißung, sondern  nach  reformatorischer Ansicht nur als Gnade Gottes  erfahrbar ist,  bleibt jedes  menschliche Leben in letzter  Unsicherheit. Aber gerade  diese Unsicherheit hat  die Reformation zu  den großen Anstrengungen  befähigt, die sie u. a. auf dem  Gebiet der  Bildung erbracht hat. 
 
 Melanchthon war, wie  vielfach beobachtet, der typische Mann der   zweiten Reihe, der hinter Luther die  Glaubensgrundsätze der Reformation   systematisierte und dort, wo daraus  praktisch-administrative Folgen  zu  ziehen waren, die Ausführungen und ihre  Begründungen lieferte. Er  war  der Mann des Überblicks und nicht des  Durchbruchs, eher der Kenner  des  Arguments als der Kenner der Deklamation. Ihn  kann man sich gut   vorstellen in den zermürbenden Verhandlungen auf Reichstagen  mit der   katholischen Seite, weniger gut in großen öffentlichen Disputen.
 
 Als offenbar früh erkannter  und geförderter Hochbegabter war er mit  18  Jahren perfekt in Latein und  Griechisch und mit 21 Jahren Professor   in Wittenberg (ich wüsste nicht einmal  zu sagen, ob es heute eine   rechtliche Möglichkeit gäbe, so etwas möglich zu  machen).
 
 Sein Zugang zur Welt der  Wissenschaft ist derart früh durch die   antiken Sprachen - und durch die  Inhalte, die sie transportieren -   geprägt, dass diese Seite, bei aller  Bezogenheit auf die Theologie und   Gott, sich auch heute noch gut nachvollziehen  lässt und zu den von mir   eingangs erwähnten Anregungen Anlass gibt.
 
 
 
 Zum 1.
 Ohne in seine etwas schwer  rekonstruierbare pädagogische Systematik   eintreten zu wollen (auch die  Lehrpläne im Einzelnen und die   Zeitkontingente interessieren nicht so sehr)  fällt, bezogen auf die   Sprache folgendes auf: Das Lernen der alten Sprachen ist  nicht   Selbstzweck - man könnte fast ironisch mit Lichtenberg sagen, die frühen    Griechen hätten sich nicht den Luxus des Lernens einer toten Sprache   geleistet  -, sondern Mittel zum Zweck der Bewältigung aktueller   Aufgaben. Das Neue  Testament ist in der griechischen Sprache   geschrieben (für ihn ein  entscheidendes Argument); historische,   rhetorische und philosophische  Argumentationen sind im Griechischen und   Lateinischen zu erlernen. Im Gegensatz  zu der verkommenen   scholastischen Bildung war sein (und die der humanistischen    Zeitgenossen) Ruf „ad fontes“ ein Zeichen des Aufbruchs zu den   Originalen.  Dieser Gesichtspunkt einer authentischen Bildung scheint   mir nun höchst  aktuell. Wenn alle Welt - von Roman Herzog bis Bill   Gates, von der Deutschen Bank  bis zu den auflagenstärksten   Wochenmagazinen - darauf hinweist, dass  lebenslanges Lernen angesagt   sei, dass man das Wichtige vom Unwichtigen  unterscheiden lernen müsse,   dass sich das Wissen sehr schnell selbst überhole  und veralte, dann   muss die Rückfrage erlaubt sein, welches denn die Maßstäbe  sein sollen,   nach denen die Menschen - und vor allem die Jugend - dies leisten    sollen. Der allgegenwärtige Markt ist das Zauberwort der Ökonomen: Was   sich  verkaufen lässt, muss gelernt werden, was nicht, soll vergessen   werden. Mal  ganz abgesehen davon, ob man Gelerntes einfach mechanisch   vergessen kann wie  man ein Licht abschaltet, so kann es ja wohl nicht   das letzte Wort sein, nach  rein ökonomischen Gesichtspunkten die Schule   auszurichten. Unter Bildung haben  wir in Deutschland und in Europa,   und auch kluge Amerikaner haben dies immer so  gesehen, ein bisschen   mehr verstanden. Die Gesetze der Logik, die Wirksamkeit  und   Nachhaltigkeit von in vergangenen Zeiten getroffene Entscheidungen für   die  Gegenwart (die Reformation selbst!), die Dimension des   kulturell-musischen für  die Persönlichkeitsentwicklung der Menschen,   der differenzierte Umgang mit  Sprache und Symbolen, der Sinn für    Transzendentales und letzte Fragen sind den Marktgesetzen vorgelagert.   Sie in  ihrer existentiellen und gesellschaftlichen Bedeutung zu   begreifen, wäre die  Hauptaufgabe aller Bildung.
 
 Dieses Hauptanliegen eines  lebenslangen Lernens besteht also nicht in   der Übung, jeden Tag etwas Neues zu  lernen, um es morgen wieder zu   vergessen, sondern darin, an für das eigene  Leben und das Leben der   Mitmenschen wichtigen Einsichten, die jeweils neuen  Aufgaben zu   reflektieren und zu bewerten und dann auch zu handeln.
 
 Die Rede vom lebenslangen  Lernen vergisst meist, dass auch das  Falsche  und vorgeblich Veraltete Bildungswirkung  hat. Wer nur ständig  neu  lernt, ohne es verarbeiten zu können, wird ein  Spielball fremder   Interessen und besinnungslos. Dies ist nicht meine Vision von  Menschen   der Zukunft. Die Frage nach der ordnenden Mitte und ihrer Ausbildung    ist die notwendige Komplementärfrage zur Besinnungslosigkeit des   lebenslangen  Lernens. Für Melanchthon war diese Frage leicht zu   beantworten: Die  Rückbezogenheit auf Gott und das Evangelium machte es   ihm nicht schwer. In  einer säkularisierten Welt mit einer zur   weltanschaulichen Neutralität  verpflichteten Schule ist dies aber viel   komplizierter. Die Antwort ist eben  nicht, dass alles erlaubt sei,   sondern dass Entscheidungen begründet werden  müssen, nämlich für   Handeln, für zu Erlernendes, aber auch für das Nichthandeln.
 
 Für diese Art des Fragens -  wohlgemerkt für die Zukunft des 21.   Jahrhunderts - gibt es eine schöne  Formulierung Melanchthons: „Das   gesamte menschliche Zusammenleben, die Ordnung  des öffentlichen und   privaten Lebens, die Beschaffung aller lebensnotwendigen  Güter, endlich   aller Handel und Verkehr werden von der Sprache umfasst (omnia   sermone  continentur). Weiterhin mache man sich klar, dass nur der sich  treffend   und deutlich äußern kann, der seine Redefähigkeit in der bei  uns  öffentlich  gebrauchten Sprache kunstfertig und sorgfältig  ausgebildet  hat“.
 
 Hierin stecken zwei  Beobachtungen: Einerseits der selbstverständliche   Hinweis, dass ohne Sprache  nichts geht, und andererseits, dass Sprache   private und öffentliche Dimensionen  hat. Die Forderung nach   lebenslangem Lernen kann in diesem Lichte nur bedeuten,  sich die   Möglichkeiten der Sprache vollständig anzueignen, um verschiedene    Lebensanforderungen überhaupt aktiv bestreiten zu können. Wer sich in   der  Sprache reduziert, reduziert seine Lebensqualität und macht sich   für andere  uninteressant oder zum Ausbeutungsobjekt. Das unendliche   Geschnatter unserer  Talkshows, die leicht durchschaubare Balz- und   Blähsprache ist allerdings  häufig nicht auf die Klärung von   Sachverhalten, sondern auf die Erzeugung von  Wirkung und Unterhaltung   aus. Nun soll jeder seinen Spaß haben, wie auch jeder  seine Kitschecke   braucht. Der Sinn der Aufklärung aber ist es, dies auch zu  wissen.
 
 Etwas anderes ist aus  heutiger Sicht an Melanchthons Gedanken noch   interessant: Sprache wird nach  seiner Meinung nur klar, wenn man sie   übt, möglichst systematisch. Auch wenn er  dies für Latein und   Griechisch meint, so gilt dies auch für die eigene  Muttersprache, und   in demokratisch verfassten Staaten umso mehr. Ich gehe wohl  nicht fehl   in der Diagnose, wenn ich sage, dass unsere medienvermittelte    parlamentarische Demokratie nicht die sprachliche Höhe hat, die sie   braucht, um  Akzeptanz und Klarheit zu sichern. Sprache dient nicht nur   der Aufklärung,  sondern auch der Verschleierung und der Manipulation.   Die strukturelle  Doppelbödigkeit unserer öffentlichen Sprache halte  ich  für ein großes Problem  (man redet über Sachen und verschweigt die   Interessen; man redet über Glück und  meint das Geld; man redet über   Strukturen und meint den eigenen Vorteil usw.).  Dies kann man nicht mit   moralischen Appellen beseitigen, sondern mit  eingeforderter   öffentlicher Redefähigkeit, die auch die Rezipienten einbezieht.  Wie   katastrophal es ist, wenn Überzeugungen und Gedanken nicht öffentlich    kommuniziert werden können, kann man an den Folgen der DDR-Gesellschaft   sehen.  Ich glaube, dass das Abdrängen des eigentlich Gemeinten und   Gedachten in die  private Nischensprache der DDR seinerzeit mit dazu   beigetragen hat, dass sich  in den Monaten der Einigung so wenig   authentisch Gesprochenes in der  öffentlichen Debatte der ehemaligen   DDR-Bürgerinnen und -Bürger finden ließ.  Eigentlich waren es nur der   kirchliche Raum und einige naturwissenschaftlichen  Bereiche, die eine   eigene öffentliche politische Sprachkultur pflegen konnten.  Die Folgen   beklagen wir noch heute.
 
 Diese Beobachtungen lassen  mich fragen, ob unsere Argumentations- und   Redefertigkeiten in den Schulen  nicht zu wenig geübt werden.   Vielleicht ist in diesem Sinne eine gründliche  Revision von den Klassen   1 bis 13 nötig. Gute Beredsamkeit hat ja etwas mit  Klugheit und nicht   mit Phrasendrescherei zu tun. Ich werde aber nicht den  Fehler machen,   dies auch fürs Lateinische und Griechische verlangen!
 
 
 
 Zum 2.
 Melanchthons starke Betonung  der alten Sprachen und die daran   geknüpften Inhalte führten ihn auch für die  Schul- und   Universitätsbildung zur Betonung der sog. allgemein bildenden  Fächer,   vor allem der Philosophie: „Mit der Bezeichnung Philosophie umfasse ich    die Wissenschaften von der Natur und von den Gründen sittlichen   Verhaltens  sowie die geschichtlichen Beispiele“ (scientia naturae,   rationes morum et  exempla). „Wer davon recht erfüllt ist, hat sich den   Weg in die höchsten  Bereiche bereits gebahnt. Wenn er eine bestimmte   Sache zu vertreten hat, steht  ihm dann alles zu Gebote, woraus er eine   reichhaltige und ansinnliche Rede  schöpfen kann. Widmet er sich   Verwaltungsaufgaben, so kann er daraus die Normen  für das, was gerecht,   billig und gut ist, gewinnen.“
 
 Mir scheint, dass, seiner  Zeit gemäß, die unmittelbare Anwendbarkeit   historischer Beispiele und  moralischer Vorbilder überschätzt wird.   Gleichwohl ist der Gedanke  bemerkenswert, dass die Rechtfertigung   dieses Lernens mit der späteren  beruflichen Verwendbarkeit bei Gericht   oder in der Verwaltung gekoppelt ist.  Alle Bildungsbemühungen haben  für  Melanchthon nicht den Sinn, Bildung um der  Bildung willen zu   betreiben, sondern die Nützlichkeit mit einzubeziehen. Dies  gilt,   zeitgemäß interpretiert, auch für heute. Bildung rechtfertigt sich nicht    aus sich, sondern aus den Vorstellungen von Menschen, des   gesellschaftlichen  Zusammenlebens und der materiellen und kulturellen   Reproduktion.
 
 Eine Bildungsvorstellung,  die dies negiert, wäre lediglich   nostalgisch. Die heutigen technischen  Modernisierer der Schule sind   keine geborenen Feinde eines umfassenden  Bildungsbegriffs. Sie sind es   nur dann, wenn sie Mittel und Zweck  verwechselten. Melanchthon hätte   vermutlich nichts gegen den Einsatz von  Computern gehabt. Er hätte   seine Ideen womöglich sogar über das Internet  propagiert, so wie er das   seinerzeitige modernste Kommunikationsmittel, die  Flugschrift, sehr   wohl zu nutzen wusste.
 
 So kann der Inhalt seiner  Bildungsvorstellungen beinahe universal   genannt werden, weil er  selbstverständlich auf der Höhe seiner Zeit   argumentierte, und dies war der  Humanismus der Renaissance-Zeit.   Melanchthon ist gegen das chaotische und  richtungslose Lernen. So   notwendig nach seiner Auffassung die Ausgerichtetheit  allen Lernens auf   das Evangelium sein muss, so wenig fand er in der Bibel die  Hinweise   auf Vorschriften des täglichen Lebens ausreichend. „Man darf nicht    meinen, Christus sei in die Welt gekommen, um diese Vorschriften zu   lehren.  Alles das werde vielmehr in der Philosophie weitergegeben“. Es   sind nach seiner  Auffassung „Vorschriften zum weltlichen Leben nötig,   denen die Menschen  entnehmen, wie sie friedlich zusammenleben können“   (quomodo homines inter se  tranquille vivere possint). Ein solcher  Satz,  wie man täglich friedlich  miteinander zusammen leben kann, wäre  ein  Motto für die heutige Schule. Und  schließlich: „Wer sich gegen die   Philosophie wendet, liegt daher nicht nur im  Streit mit der wahren   menschlichen Natur, sondern tut auch der Würde des  Evangeliums   Abbruch“. Das Verhältnis von ethischen Vorschriften und religiösem    Denken zu diskutieren ist nicht antiquiert, sondern heute aktueller denn   je,  wenn man die Auseinandersetzungen um den zeitgemäßen   Religionsunterricht und um  das Fach LER (Lebensgestaltung, Ethik,   Religionskunde) in Brandenburg  betrachtet. Daher wäre es nach meiner   Auffassung sehr oberflächlich, ihn sofort  auf die eine oder andere   Seite der heutigen Disputanten ziehen zu wollen.
 
 
 
 Zum 3. 
 Auf einem Kongress, der von  einer Lehrerorganisation ausgerichtet  ist,  nicht über Melanchthons Rede „de  miseriis paedagogorum“ von 1533  zu  sprechen, wäre nicht recht.
Mich hat diese Rede  überrascht, weil sie so richtig  für den  heutigen Seelenzustand unserer  Lehrerinnen und Lehrer  geschrieben zu  sein scheint. Streift man alles  Zeitbezogene der  Argumentation ab  (keine LehrerInnen, keine SchülerInnen,  schlechte  Bezahlung,  ausgewählte Schüler), so überrascht doch der unveränderte   Klagegesang,  der durch die Jahrhunderte unserer Geschichte zu vernehmen  ist.  Die  Unmittelbarkeit des Tons spricht dagegen, dass es sich nur um  ironische   oder satirische Bemerkungen handelt. Wir haben uns heute in  der  aktuellen  pädagogischen Diskussion daran gewöhnt, den   sozialpädagogischen und/oder  erzieherischen Aspekt der Schule zu   betonen. Vor allem aus Grundschule und  Hauptschule wird gemeldet, die   Kinder seien unfähig zuzuhören, man müsse erst die  Kinder beruhigen, um   überhaupt mit dem Unterricht beginnen zu können. Dies  alles wird mit   dem Totschlagsargument der veränderten Kindheit vorgetragen, das    zugleich ein Analyse- und Kampfbegriff ist. Es wird der Eindruck   erweckt, als  handele es sich um ein vollständig neues Phänomen.   Melanchthon schreibt: „Die  meisten, die zur Schule geschickt werden,   bringen so arge Sitten und so  schlimme Gewohnheiten mit, dass sie ganz   umgebildet werden müssen“. „Es lässt  sich gar nicht beschreiben, welch   großen Zuwachs aller Art die Schlechtigkeit  erfahren hat. Die  häusliche  Zucht ist geschwunden, während sie in unserem  Knabenalter  noch  einigermaßen vorhanden war“. Da haben wird das abendländische   Stereotyp  wieder, wie schlecht die jeweilige Jugend ist. Über den  angeblichen   Wertewandel wird ja heutzutage auch genug lamentiert. Auch  der folgende  Satz  scheint nicht 470 Jahre alt zu sein: „Auch die  Eltern der Schüler  schätzen uns  nicht höher als diese selbst. Sie  denken nicht daran, dass  sie die Sorge für  ihre Kinder auf uns  abgeladen haben“.
 
 Die historische  Relativierung der Klagen über das Lehrerdasein darf   nun nicht dazu führen, die  heutigen pädagogischen Bedingungen und   Belastungen zu verniedlichen. Die  Lehrerinnen und Lehrer und ihre   Organisationen täten aber gut daran, in der  Öffentlichkeit nicht   ständig den Eindruck erwecken zu wollen, als ob sich in  ihrem Beruf das   gesamte Elend der Welt konzentriere. 
 
 Besonderheiten der  Gegenwart in  der Erziehung bestehen heute nicht  darin, dass Erziehung immer  schwer  ist, sondern darin, dass eine  Jugend heranwächst, die über die Medien   informatorisch und kulturell  praktisch Zugang zu allem hat. Dies  verändert ihr  Verhalten und ihre  Erwartungen. Im Unterschied zu  Melanchthon hat die heutige  Jugend aber  keine klaren  Orientierungsmöglichkeiten mehr. An die Stelle des   Evangeliums ist als  Orientierungspunkt die Suche nach Orientierung  getreten,  die fast  unaufhörliche Suche, die gerade auch Schule und  Lehrer anfragt. Bei   dieser Suche erhalten die Jugendlichen oft  unbefriedigende,  unglaubwürdige  Antworten, sofern sie nicht selber  gelebt werden. Dies  gilt für tägliches  Verhalten z.B. beim Rauchen  oder beim höflichen oder  unhöflichen Umgang aber  auch in  grundsätzlichen Fragen. Wenn  Lehrerinnen und Lehrer für Schülerinnen   und Schüler interessant und  wertvolle Personen sein wollen, dann müssen  die  Lehrerinnen und Lehrer  mehr sein als nur Wissensvermittler.
 
 Hinzu kommt die Anwesenheit  von Kindern vieler Völker und aus   schwierigen sozialen Verhältnissen. Wir haben  genug Stoff, der auch für   die Gesellschaft interessant sein kann. Lehrer, die  klagen, sind für   die Gesellschaft und für die Politik uninteressant. Lehrer,  die sich  in  die Gesellschaft einmischen und über ihre eigenen Probleme hinaus   sich  einbringen, wären etwas. Und sie gibt es massenweise.
 
 
 
 Zum 4. 
 Melanchthon hat ungeheuer  viel geschrieben. Als homo doctus und homo   politicus sind sein Leben und seine  Schriften eine Fundgrube   transferierbarer Überlegungen, z.B. seine hinreißende  Rede vor den   Ratsherrn von Nürnberg im Jahre 1526 aus Anlass der Gründung einer    neuen Schule, die wohl etwa vergleichbar wäre mit einer heutigen   gymnasialen  Oberstufe. Die Rede ist eine Lobpreisung der Bildung für   die ökonomische und  kulturelle  Prosperität eines  Gemeinwesens.   Melanchthon formuliert: „Weil sie (die Bürger Nürnbergs) das  Wissen,   das aus den Künsten entspringt, für die Regierung des Staates fruchtbar    machten, schafften sie es, dass diese Stadt alle übrigen Städte   Deutschlands  bei weitem übertrifft ... Wenn auf eure Veranlassung hin   die Jugend richtig unterrichtet  wird, wird sie der Schutz der Stadt   sein, denn kein Bollwerk und keine  Befestigung macht eine Stadt stärker   als gebildete, kluge und mit anderen  Tugenden begabte Bürger“.
 
 In der Terminologie von  heute würde man wohl sagen, dass hier von dem   „Megathema Bildung“ die Rede ist,  das auch über die Entwicklung des   künftigen Deutschland entscheiden wird.  Während die ganze Gesellschaft   heute nach möglichst schnell verwertbarem Wissen  schreit (von der   „Wirtschaftswoche“ über die Debatte zur beruflichen Bildung),  die   politischen Parteien um die Wette Bildungsthemen zu Wahlkampf-Highlights    erklären, hat Melanchthon aber noch einen zusätzlichen Aspekt im  Sinn,  dessen  Beachtung uns auch heute nicht schaden könnte - und bei  der  Herzog-Rede in  Berlin zu kurz kam. Melanchthon spricht von  kulturellem  Ansehen und politischer  Bedeutung, die mit der Ausbreitung  von Bildung  zusammenhängt. Dies ist bei ihm  umfassender gemeint als  nur die  ökonomische Effektivität. Den ganzen Menschen,  z.B. auch mit  seinen  Tugenden, hat er im Blick. Für ihn selbst wäre der   Wissenstransfer von  den gelehrten Anstalten in die gesellschaftlichen  Bereiche  hinein nur  Mittel zum Zweck einer allgemeinen Entwicklung.  Unsere heutigen   Schnelligkeitsanbeter in Wirtschaft und Politik  vergessen häufig, dass   Schnelligkeit niemals das Argument ersetzen  kann. Obgleich ich als  Politiker  Situationen kenne, wo eine schlechte  oder falsche  Entscheidung manchmal besser  ist als gar keine. Wissen  als Fundament  und Bildung als Einordnungsfähigkeit  einer Entscheidung  sind gefragt,  nicht gefragt ist Wissen als „Goldenes Kalb“  und Bildung  als  „Verhinderungsinstanz“.
 
 
 
 Zum 5. 
 Melanchthon galt in seiner  Zeit als Reformer des Schul- und   Universitätswesens. Er hatte von der  Nachhaltigkeit seiner Reformen   naturgemäß noch keine Vorstellung. Dass sie  sogar über Jahrhunderte   reichen ist uns heute klar. Aber seine frühen  Überlegungen zu einer   Studienreform (bereits 1518 beginnend), seine lebenslange  Betonung   einer soliden Ausbildung in den Sprachen und Artes (wozu auch u.a.    Mathematik gehörte) machen ihn bildungshistorisch mindestens genauso    interessant wie Wilhelm von Humboldt. Dass Melanchthons noch auf   praktische  Verwertbarkeit gerichtete Bildungsvorstellung in   säkularisierter Form ein  Eigenleben zu entfalten begann und schließlich   daran die Vorstellung einer  verwert- und wertfreien Bildung daraus   werden konnte, halte ich für einen  Irrweg, für den Melanchthon nicht   verantwortlich zu machen wäre. Der  Grundgedanke einer vollständigen   Entfaltung der Persönlichkeit, der die  Nützlichkeit und die   Einordnungsfähigkeit zugleich im Blick hat, ist bei  Melanchthon noch   ungeschmälert vorhanden. Die Grundstruktur dieser Überlegung  ist auch   heute in mehrfach veränderter Form noch vorhanden: Bei der  Formulierung   des Bildungsauftrags der Schulen, bei der Frage, ob wohl   Berufsschüler  auch noch Unterricht in Deutsch, Religion und Politik  brauchten,  ob  der Fächerkanon überzeugend ist oder nicht usw..  Allerdings gibt es bei   Melanchthon auch Anzeichen von romantisierender  akademischer Idealität,  die sich  wie das Werbeprogramm einer  Campus-Universität lesen. Dass so  etwas ohne das  Evangelium  funktionieren könnte, war für ihn eine nicht  denkbare Variante.
 
 
 
 Zum 6. 
 Es gibt eine Seite im Leben  Melanchthons, die strukturell auch heute   von hohem politischen und psychologischen  Interesse ist: Die Frage nach   der moralischen Vertretbarkeit von Kompromissen.  Damit stellt sich   auch immer die Frage nach der Glaubwürdigkeit von Personen.  Schon bei   den Formulierungsversuchen der loci communes (der Glaubensgrundsätze)    von 1521 und bei den Verhandlungen, die zum Text der Confessio Augustana   von  1530 führten, stellt sich für Melanchthon immer die Frage, wie  bei  allem  Festhalten an reformatorischen Grundsätzen dennoch genügend   Anknüpfungspunkte  für die Einheit der Christenheit gegeben bleiben.   Solange Luther noch lebte,  war dies zwischen den beiden aushandelbar,   wobei Luther die unbestrittene  Autorität und von Melanchthon auch so   akzeptiert war. Die sinnbildhafte  Gleichrangigkeit ihrer Grablege in   der Wittenberger Schlosskirche hat nichts  mit dem tatsächlichen   Verhältnis der beiden zu tun, auch wenn die Zeitgenossen  es anders   sahen. In den krisenhaften politischen Auseinandersetzungen des    Schmalkaldischen Krieges und vor allem nach dem Sieg Karls V. bei   Mühlberg 1547  geriet die protestantische Seite existentiell unter   Druck. Der Kaiser versuchte  mit dem sog. Augsburger Interim von 1548   die katholische Seite auch theologisch  durchzusetzen (lediglich   Laienkelch und Priesterehe sollten für die  Protestanten noch vorläufig   möglich sein). In der für die Protestanten  entscheidenden Frage der   Rechtfertigung hielt auch Melanchthon keinen Kompromiss  für möglich.   Aber viele andere Fragen - Kirchengewänder, Bischöfe als  Vorgesetzte,   sogar die Priorität des Papstes - hielt er für nachrangig (Adiaphora)    und riet zur Annahme um des Friedens willen. Diese Position wurde in   weiten  Teilen der protestantischen Theologen mit Empörung registriert,   und es wurde  gegen ihn ins Feld geführt, er verrate das Erbe Luthers.   Ton und Denkweise der  Kritik klingen sehr fundamentalistisch und im   Stil der Zeit gehässig, ja  menschenverachtend.
 
 Diese Art der  Auseinandersetzung ist nicht zeitgebunden. Die   Gegenstände sind es. Es lässt  sich noch heute fast jede politische   Versammlung, jeder Parteitag oder jede  Delegiertenzusammenkunft   daraufhin besichtigen, inwiefern Grundsatztreue und  pragmatische   Lösungsversuche in Konflikt geraten. Dabei ist es prinzipiell    unentscheidbar, was gerade Adiaphora sind oder nicht. Dies selbst ist   abhängig  vom Interesse, Machtkonstellationen und Voreinstellungen. Dass   Melanchthon, der  Mann der zweiten Reihe, jetzt, nach Luthers Tod  1546,  in diesen Streit geriet  und seine unbestrittene gelehrte  Autorität zur  Beschwichtigung des Konflikts  nicht ausreichte, ist fast   paradigmatisch. Es ist nicht immer analytisch  entscheidbar, was  wichtig  oder unwichtig ist. In menschlichen Angelegenheiten  ist dies  immer  auch das Ergebnis eines politischen Kampfes. In der Demokratie   haben  wir dafür Regeln entwickelt, die zumindest die persönliche  Diffamierung   reduzieren sollen. Melanchthon konnte damit noch nicht  getröstet  werden.
 
 
 
 Vorläufiges Fazit: 
 Es lohnt sich, Melanchthon  zu lesen. Man kann dies aus verschiedener   Perspektive tun. Der Genus des  Historikers an lebendiger Anschauung,   der Geist des Theologen nach  prinzipieller Auseinandersetzung oder auch   das Interesse des Politikers an  einem konfliktreichen politischen   Leben können Motive sein. Wenn man hinter den  Schleier zeitbedingter   Äußerung schaut und die Strukturen versucht zu  verstehen, ist   Melanchthon nicht nur der Praeceptor Germanie, sondern zugleich  ein   großer Anreger bis heute hin.
 
 
 Vortrag im Rahmen des  Symposiums des Deutschen Philologenverbandes über Melanchthon in Wittenberg am 7.  Mai 1997
 
