Lazarus - Fact, Fiction, Friction

von Stefan Alkier

 

I. Wunder fact oder fiction
Die Wunder Jesu und die besonderen charismatischen Fähigkeiten der sogenannten "Urchristen" sind ein häufig und leidenschaftlich kontrovers geführtes Thema von den Anfängen des Christentums an. Schon die Evangelien, vor allem das Johannesevangelium, ringen mit dem rechten Verständnis der Wunder und Paulus hält die Auferstehung Jesu für den Dreh und Angelpunkt aller christlichen Hoffnung und Abrahams Wunderglaube an die Möglichkeit einer unnatürlichen Schwangerschaft seiner hochbetagten Frau für das Vorbild christlichen Glaubens. Sarah aber lachte, Isaak war die Folge ...

So unüberschaubar die Literatur zu den neutestamentlichen, insbesondere zu Jesu Wundern ist, so dürftig und leidenschaftslos wird das Thema in der alttestamentlichen Wissenschaft behandelt. Es sieht so aus, dass die Annahme der Fiktionalität der alttestamentlichen Wundergeschichten für christliche Theologen weitgehend feststeht und sie auch kein Problem darin sehen.

Die Ergebnisse historischkritischer Forschung vor allem im Zuge der Entmythologisierungstheorie von Johann Philipp Gabler bis Rudolf Bultmann machte diese Auffassung auch für das Neue Testament geltend. 1957 stellte Ernst Käsemann in seinem Aufsatz Zum Thema der Nichtobjektivierbarkeit einen Konsens der Exegese bzgl des Problems des Wunders fest:

»Man darf wohl sagen, dass der Kampf [...] auf dem Felde der theologischen Wissenschaft zu seinem Ende gekommen ist. Der traditionelle kirchliche Wunderbegriff wurde dabei zerschlagen.«

Rudolf Mack und Dieter Volpert hingegen geben den Schülern in ihrem Materialheft Der Mann aus Nazareth Jesus Christus, Oberstufe Religion die entgegengesetzte Auskunft:
»Kein Bibelwissenschaftler bestreitet heute mehr, dass Jesus außergewöhnliche Taten vollbracht hat, die man landläufig "Wunder" nennt. Um zu verstehen, was hier mit "Wunder" gemeint ist, muss man sich freilich erst über eine Anzahl von Gesichtspunkten klar werden:«

Mack und Volpert können sich für diese Auskunft auf so namhafte Exegeten wie Gerd Theissen und Hans Weder berufen. Gerd Theißen schreibt in seinem viel gelesenen Buch Urchristliche Wundergeschichten:

"Zweifellos hat Jesus Wunder getan, Kranke geheilt und Dämonen ausgetrieben. Die Wundergeschichten geben diese historischen Ereignisse jedoch in einer gesteigerten Gestalt wieder."

Hans Weder, der den letzten Forschungsbericht über die Wunderexegese veröffentlichte, vertritt sogar die Auffassung, "[...] dass die Wundertätigkeit Jesu im Sinne von wunderbaren Heilungen und Exorzismen (möglicherweise auch von Wiederbelebungen von Toten) historisch nicht bestreitbar ist (Légasse 128, Theissen 274)."

Mack und Volpert vermitteln den Schülern also mit der Auffassung der Faktizität der Wunder des NT ein exegetisch weit verbreitetes Wunderverständnis, das der Position der Entmythologisierung diametral entgegengesetzt zu sein scheint. Wunder sind "In", Bultmann ist "Out", oder wie es im "Editorial" der Internationalen katholischen Zeitschrift im Januarheft 1989 heißt: "Man verlangt nach dem Wunderbaren und glaubt wieder an 'Wunder'". Wunder genauer gesagt die Wunder Jesu sind facts und nicht einfach religious fiction.

Auch in der breiten Öffentlichkeit wächst die Bereitschaft, Wunder für möglich zu halten, wie diverse Fernsehsendungen zuerst der Privatsender, 1995 aber auch die ARD Samstagabends um 18.00 zeigten. "Unglaubliche Geschichten" so der Titel der Sendung wie die Rückkehr Toter, Vorauswissen, Wunderheilungen und vieles mehr wurden hier im Stile eines dramatisierten Tatsachenberichtes dem Publikum als real und unbestreitbar präsentiert. Freilich geht es hier nicht um Wunder Jesu, sondern um geheimnisvolle Kräfte und Wesen, die die Einschaltquoten ankurbeln sollen. Ansonsten ist die neutestamentliche Exegese endlich mal an einer Stelle im gesellschaftlichen Trend.

 

II. Friction
Wunder sind "In", Bultmann ist "Out". Wunder sind facts und nicht einfach religious fiction. Aber in die Texte der Wunderbefürworter schreiben sich Brüche ein, die die einfache Opposition fact vs fiction fraglich erscheinen lassen. Es entstehen Reibungen, frictions, in der Argumentation. Neben offensichtlicher Skepsis, finden sich nämlich Bruchstücke der Wunderskepsis bei nahezu allen, die sich für die Faktizität der Wunder Jesu stark machen, indem sie diese durch einen nachgeschobenen, scheinbar erklärenden Satz einschränken oder sogar wieder zurücknehmen. Sehen wir uns das TheissenZitat nochmals an:

"Zweifellos hat Jesus Wunder getan, Kranke geheilt und Dämonen ausgetrieben. Die Wundergeschichten geben diese historischen Ereignisse jedoch in einer gesteigerten Gestalt wieder."

Bei den "Wundern", die Theissen als "zweifellos" anführt, handelt es sich um Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen. Jesu Seewandel, die Brotvermehrung, die Erweckung des Lazarus sind ihm keineswegs zweifellos. Die »Geschenkwunder«, zu denen Theißen die Speisungsgeschichten zählt, sind seiner Auffassung nach »sehr viel unwahrscheinlicher als Exorzismen und Therapien« . »Uns ist nichts bekannt von Leuten, die sich anboten, Brot zu vermehren, Wasser in Wein zu verwandeln. [...] Den Geschenkwundern fehlt als Hintergrund die Lebenspraxis, die anderen Wundern Anschaulichkeit verleiht. Keine Gattungen der Wundergeschichten ist so sehr der Phantasie entsprungen wie diese, keine hat so sehr den Charakter der Schwerelosigkeit, des Wunsches, der unbefangenen Märchenhaftigkeit.«

Theißen hält keineswegs die Wunder des NT als Wunder für reale Ereignisse, denn selbst die "unbezweifelbaren" Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen erzählt das Neue Testament nach ihm »in einer gesteigerten Gestalt«. Ganz im Sinne des Rationalismus wertet Theißen als "zweifellos" das, was er sich mit seinen soziologischen, psychologischen und religionsphänomenologischen Wirklichkeitskategorien als real möglich vorzustellen vermag. Das Wunderbare des Wunders wird dabei genauso wegrationalisiert wie schon bei den Rationalisten des 19.Jahrhunderts, nur dass Theißen etwas geschickter verfährt als diese und so breite Zustimmung von Wunderbefürwortern und Entmythologisierern gleichermaßen erfahren kann. So erklärt Theißen letztlich in der Tradition David Humes stehend »[...] dass die urchristlichen Wundergeschichten aus dem archaischen Stoff einer kindlichen Erfahrung gestaltet sind. Sie sind Ausdruck einer "kindlichen" Menschheit.«

Humes Wunderauffassung steht hier unausgesprochen und wohl auch ungewollt Pate. Hume faßte den Wunderglaube als Aberglaube für Ungebildete auf und etablierte folgende Assoziationskette: Wunder (miracles) Fiktion (fiction) Aberglaube (superstition) Angst (anxiety) Unbildung (uneducated) Soziale Unterschicht (social lower class).

Wie bei Theißen selbst, so finden sich auch in dem Unterrichtskonzept von Mack und Volpert solche Reibungen. In rationalistischer Manier erklären sie die Wunder Jesu mit einer Theorie des »"Paranormalen"«. Den Schülerinnen und Schülern wird erklärt:

»Wir müssen davon ausgehen, dass Jesus ebenfalls paranormale Kräfte besessen hat und bei seinem Wirken angewendet hat.«

Auf diese Weise werden aus den einzigartigen neutestamentlichen Geschichten über das Wirken göttlicher Kraft prinzipiell rationalistisch erklärbare paranormale "Unglaubliche Geschichten", die ganz in die gleichnamige Fernsehserie passen würden. Mit den biblischen Texten hat eine Theorie des Paranormalen, in die Jesus unter anderen eingereiht wird, nichts gemein.

Genau gegen solche kryptorationalistischen Erklärungsversuche richtete sich die Entmythologisierung von Johann Philipp Gabler über David Friedrich Strauß, Ferdinand Christian Baur und Rudolf Bultmann. In prinzipieller Übereinstimmung mit dem Weltbild der Aufklärung sollten die neutestamentlichen Geschichten so interpretiert werden, dass sie dem Fortschritt menschlicher Erkenntnis nicht entgegenstanden und gleichzeitig theologisch bedeutsam blieben. Daher wurde den Wundergeschichten das Wunderbare als zeitlich bedingte Form abgestreift um die überzeitige innere Botschaft für die Gegenwart neu hören lassen zu können. Die Entmythologisierung war also eine Antwort auf die Erkenntnis der historischkulturellen Differenz zur Lebenswelt des Neuen Testaments. Die Kritik an dem Wirklichkeitsverständnis der Entmythologisierung sah von Anfang an zu Recht, dass hier aber in naturwissenschaftstreuer und fortschrittsgläubiger Manier die eigene Weltsicht nicht einfach als anders, sondern als besser und richtiger eingeschätzt wurde. Zudem wurde der zutreffende Einspruch erhoben, dass man Form und Inhalt nicht wie Kern und Schale trennen kann, sondern sie dermaßen einander zugeordnet sind, dass sich mit dem einen auch je das andere ändert.

Trotzdem bleibt die Einsicht der Entmythologisierungstheorien in die historischkulturelle Differenz von unaufgebbarer Bedeutung für ein reflektiertes Verständnis des Neuen Testaments und gerade auch seiner Wundergeschichten. Ebenso bleibt die Warnung vor allen Rationalismen und Kryptorationalismen aktuell, die das Problem nur vernebeln.

 

III. Viermal Lazarus
Ich möchte Ihnen nun vier Lektüren der LazarusGeschichte aus dem 11. Kapitel des Johannesevangeliums vorlegen und diese nach dem jeweiligen kulturell konventionalisierten Wissen über /Wunder/ befragen, also die Geltungsannahmen hinsichtlich der Realität von Wundern beleuchten, die diesen Auslegungen explizit oder implizit zugrunde liegen.

 

1. Welches von den vielen Gleichnissen Jesu gefällt Dir am besten?
Der neapolitanische Grundschullehrer Marcello D'Orta gab 1990 unter dem Titel Io speriamo che me la cavo eine Sammlung von 60 Schulaufsätzen neapolitanischer Kinder heraus, die mittlerweile auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Die überaus lesenswerten Aufsätze bezeichnet Marcello D'Orta treffend als "muntere[.] und erbarmungslose[.] Alltagschronik", die zugleich "Weisheit und uralte Resignation, aber auch ausgelassene, in ihrer proletarischen Unschuld geradezu mitreißende Freude" vermittelt. Die Aufsätze beschäftigen sich vorwiegend mit der Alltagserfahrung der Kinder. Innerhalb der Sammlung finden sich auch drei Aufsätze zu der Frage: "Welches von den vielen Gleichnissen Jesu gefällt Dir am besten?" Ich drucke den zweiten der drei Aufsätze ungekürzt ab:

"Welches von den vielen Gleichnissen Jesu gefällt Dir am besten?

Das Gleichnis, das mir am besten Gefallen hat, ist das mit lazarus, lazarus war ein Freund von Jesus, und manchmal sind sie zusammen weg zum Einkaufen. Aber dann hat Lazarus eines Tages eine schlimme Hautkrankheit gekriegt, und weil in dem Ort das nächste Krankenhaus in Rom war, ist er bis dahin gestorben. Dann hat die ganze Familie geweint, sie waren alle sehr traurig. Sie haben gesagt, o je, ist das ein Unglück.

Am nächsten Tag taten sie ihn ins Grab und machten ihn mit einem Stein zu, den nicht einmal der Ulk weggekriegt haben würde. Eines Tages begegnet seine Frau dem Jesuskind und sagt zu ihm, dein armer Freund lazarus ist tot, wenn du vorbeikommen könntest, wäre das ein Gefallen.

Also geht Jesus ganz ruhig zum Friedhof. Wie sie ihn sehen, laufen ihm alle nach, und jeder sagt, Jesus, mein Bruder ist gestorben, Jesus, meine Mama ist gestorben, Jesus, mein Vetter ist gestorben, aber Jesus konnte nur einen retten: es waren zuviele Tote!

Also hat er ganz laut geschrien und gesagt, lazarus komm raus, und lazarus ist gekommen. Aber man kriegte angst, er war wie eine Mumie und ist gelaufen wie ein Zombi, aber er hat gelebt, und auch wenn er noch einen Verband am Mund hatte, lächelte er vor Freude. Jesus umarmte ihn und sagte: Lazarus, diesmal verzeihe ich dir noch, aber das nächstemal darfst du nicht mehr sterben.

Und wie der Judas das gesehn, ging er hin und verriet ihn."

Die Auferweckung des Lazarus wird in diesem Aufsatz eines italienischen Grundschulkindes mit der semantischen Achse der eigenen Lebenswelt ebenso verknüpft wie mit der der Comic Superhelden der unglaubliche Hulk und der der Zombies. Eine realitätsdifferenzierende Opposition wie fact/fiction, real/irreal lässt sich hier auf den ersten Blick nicht ausmachen.

Dennoch enthält dieser Text ein faszinierendes Realitätsprinzip, dass mit kindlicher Phantasie das Theodizeeproblem der Wundergeschichten kurzerhand löst: »Jesus konnte nur einen retten: es waren zu viele Tote!« Die Realitätserfahrung, mit der dieses Kind den Text liest, ist die Tatsache, dass das Leid dieser Welt und auch der physische Tod durch Christi Wunderwirken nicht aufgehört haben. Christi Wunderwirken wird hier als partielle Machttat, genau wie die des unglaublichen Hulk eingestuft. Die Lebenswelt wird in diesem Aufsatz als Kontinuum von Leidenserfahrungen aufgefasst, denen lediglich Superhelden partiell entgegenwirken können.

Dabei findet sich in dem Aufsatz keine Enttäuschung oder Empörung gegenüber einem Jesus, der nur einen retten konnte, vielmehr ist die Rettung eines Einzelnen Anlassu aufrichtiger Freude. Was mit den vielen anderen geschieht, denen nicht geholfen wurde, wird nicht thematisiert. So liest ein italienisches Grundschulkind mit einem lebensbejahenden Realitätsprinzip die Lazarusgeschichte.

 

2. Rudolf Bultmann: Lazarus symbolisch
Rudolf Bultmann schrieb seinen Johanneskommentar einige Zeit nach Verlassen der Grundschule. Die erste Auflage seines Kommentars erschien 1941, inmitten des 2.Weltkrieges und der größere Abschnitt, in den Bultmann die Lazarusgeschichte stellt, betitelt er mit der Überschrift: »Der geheime Sieg des Offenbarers über die Welt.«

Bultmann vertritt die literarkritische These, dass in Joh 11 eine der SemeiaQuelle angehörige Wundergeschichte vorliege, die der Evangelist durch seine Komposition entmythologisiert und das Wunder so bereits im Johannesevangelium rein symbolisch aufgefaßt werde:

»[...] die Steigerung der Größe des Wunders durch die Aufgabe, dass Lazarus schon seit drei Tagen tot war, entspricht wohl der Tendenz der Wunderüberlieferung, nicht aber der des Evangelisten, für den das Wunder zum Symbol wird.«

Der Evangelist selbst wird so zum Gewährsmann einer entmythologisierenden symbolischen Auslegung der Wundergeschichten, die sich gegen ein materielles Wunderverständnis richtet, das selbst dieser Welt ganz und gar verhaftet bliebe. Der »geheime Sieg des Offenbarers über die Welt« besteht nun ja gerade nicht in einem offensichtlichen Wunderakt, sondern in dem missrständlichen, symbolischen Ruf an die Glaubenden, der zur Entweltlichung auffordert, »Leben und Tod, so wie er [der Mensch] sie kennt, wesenlos sein zu lassen« . Wie dagegen das verheißene Leben aussehen wird, darf gerade nicht gefragt werden, denn es steht als »eschatologische [...] jenseits der menschlichen Möglichkeiten. Die Bereitschaft für sie ist die bereite Übernahme des irdischen Todes, d.h. die Preisgabe des Menschen, so wie er sich kennt und sich will.« Die Entmythologisierung verspricht keinen Rosengarten. Sie vertröstet nicht auf supranaturale Hoffnungen, sondern ruft in ein augenblickhaftes, volles Leben, das als unverfügbar, von Gott geschenkt und deshalb als eschatologisch erfahren wird. Zu diesen Augenblicken eschatologischen Seins ruft nach Bultmann das in den Texten freizulegende Kerygma.

Damit hat Bultmann das Mirakulöse des Wunders als narrative, mythische Form abgestreift und an dessen Stelle eine überzeitliche, diskursive Botschaft formuliert, die das Problem des Wunders ebenso kurzerhand "löst", wie der oben angeführte Grundschulaufsatz das Theodizeeproblem. Beide formulieren die Lazarusgeschichte kurzerhand um, um sie den eigenen Realitätsannahmen kompatibel zu machen. Bei Bultmann wird nun auch nicht ein einziger Toter wieder lebendig. 1941 gab es derer zu viele.

 

3. George Stevens Lazarus lebendig gezaubert
Der Spielfilm Die größte Geschichte aller Zeiten (The greatest Story ever told, USA 1963) setzt die LazarusGeschichte effektvoll in Szene als die Wundergeschichte, die tatsächlich Glauben weckte indem sie vom Klagegesang anläßlich des Todes des Lazarus zum Anstimmen von Händels Halleluja führt.

Nach Jesu stummer, nur von tontechnisch gruselig verfremdetem Klagegesang begleiteten Ankunft im Haus des Lazarus, die 90 Sekunden der 11 Minuten langen LazarusSequenz dauert, macht ihm Maria schwere Vorwürfe, hätte er als ausgewiesener Wundertäter Lazarus doch retten können. Jesus spricht dann die Worte nach Joh 11,25f.:

»Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt wird leben, auch wenn er gestorben ist, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben. Glaubst Du das? [...]«

Anstelle des Messiasbekenntnisses der Marta, das die Antwort auf Jesu Frage in der johanneischen Lazarusgeschichte darstellt, schweigen in Steven's Film Maria und Martha, schenken ihm also keinen Glauben, worauf Jesus weinend aber entschlossenen Gesichtsausdrucks allein zum vom Haus der Schwestern aus sichtbaren Grab des Lazarus geht. Dort nimmt Jesus eine verkrampfte und angestrengte Körperhaltung ein und formuliert folgenden Zauberspruch:

»Wer ist Dir gleich o Vater im Himmel?
Wer gleicht Dir strahlend in Heiligkeit,
furchtbar an Ruhmestaten, Wunder vollbringend?
Es ist niemand, der mich aus Deiner Hand befreit.
Du schlägst Wunden und heilst auch wieder.
Du tötest und machst lebendig.
[Pause]
Von den 4 Winterrichtungen komme o Geist
und hauche den Toten an,
dass er wieder lebendig werde.«

Jesus öffnet die Tür und ruft Lazarus mit technischem Echo heraus. Chormusik und Geigen setzen ein. Man sieht die entsetzten und erwartungsvollen Gesichter, der von weitem auf das Geschehen Blickenden. Dann sieht man den Grabhügel und kaum zu erkennen Lazarus vor dem Grab. Es folgen die Reaktionen der Zeugen, aus denen einige hervorgehoben werden. Immer wieder werden der vorher im Film geheilte Lahme und der geheilte Blinde eingeblendet. Der am ausgiebigsten gezeigte Zeuge ruft aus: »Ich hab es mit eigenen Augen gesehen. Lazarus war tot, jetzt lebt er wieder.« Nun setzt Händels Halleluja ein. Der Augenzeuge rennt zum Stadttor Jerusalems, gefolgt vom Exlahmen und Exblinden. Er ruft zum Stadttor hinauf: »Der Messias ist gekommen. Der Messias ist gekommen. Ein Mensch war tot, jetzt lebt er wieder.« Der soeben angekommene Exlahme fügt hinzu: »Ich war lahm, jetzt kann ich wieder gehen.« Und der Exblinde ruft: »Ich war blind, jetzt sehe ich wieder.«

Eine sonore Stimme fragt vom Stadttor herunter: »Wer hat das getan?« Antwort der Zeugen: »Ein Mensch mit dem Namen Jesus.«

Denkt man an die mittelalterliche Malerei und die Jesusfilme der ersten 50 Jahre der Filmgeschichte, so setzt Stevens das Wunder selbst sehr sparsam in Bilder um. Das Entscheidende ist ihm die Reaktion der Menschen, die allerdings im Johannesevangelium nicht erzählt wird. Stevens gestaltet die Szene für seinen Film so, dass das unbezweifelbare Wunder die Augenzeugen zwangsläufig zur Erkenntnis der Messianität Jesu führt. Dabei ist wichtig, dass eine andere inhaltliche Botschaft, als die der Messianität Jesu kaum angeführt wird.

Der Messias erscheint durch seine magische Haltung und sein Tremolo in der Stimme beim Herbeirufen des Geistes als Zauberer, die ganze Szenerie wirkt gruselig. Das italienische Grundschulkind könnte seine Zombieassoziation durchaus diesem Film entnommen haben.

Durch den kurz eingeblendeten Lazarus vor dem Grab in einer Totalen aufgenommen, den man allerdings schnell übersieht, und durch die Augenzeugen bietet der Film eine realistische Wundervorstellung an, die aber im Gegensatz zum Johannesevangelium an keiner Stelle diesen Wunderglauben thematisiert sondern ihn ungebrochen zur Schau stellt. Die Tatsache der je unterschiedlichen Enzyklopädie des Johannesevangeliums und der der Zuschauerinnen und Zuschauer des Films wird schlicht ignoriert, was immer wieder zu ungewollten Lacheffekten führt.

Durch den Vor und Abspann steht allerdings das gesamte Filmgeschehen in der Klammer der Gattung Hollywoodspielfilm, so dass es der Enzyklopädie der Zuschauer überlassen bleibt, den Film als religious fiction oder als realistische Nachstellung zu sehen. Bibelfeste werden aber wegen der massiven Umgestaltungen, Auslassungen und Einfügungen schwerlich den Film als bibeltreue realistische Nachstellung sehen können.



4. Jürgen Becker Lazarus zwischen den Schichten
Jürgen Beckers vielgelesener Johanneskommentar, den er 1991 in dritter überarbeiteter Auflage vorlegte, sieht in Joh 11 einige kompositorische Schwierigkeiten, die er mit einem literarkritischen Schichtensystem zu beheben sucht:

»[...] man muss [...] mit einer dreifachen Schichtung des Textes rechnen: mit der Vorlage für die SQ [Semeiaquelle] aus der mündlichen Tradition, der Stufe der SQ und der Ebene von E [Evangelist]. Die KR [Kirchliche Redaktion] hat an dem Text nicht gearbeitet.«
Als »Urform der Erzählung« arbeitet Becker folgendes heraus:

»1 Nun war da einer krank, Lazarus aus Bethanien, aus dem Dorf Marias und ihrer Schwester Martha ... 3 Da sandten die Schwestern zu ihm und ließen (ihm) sagen: "Herr, schau, der, den du liebhast, ist krank." ... 17 Als Jesus nun ankam, fand er ihn bereits vier Tage in der Gruft liegen ... 38 Das Grab aber war eine Höhle, und vor ihr lag ein Stein. 39 Sagt Jesus: "Entfernt den Stein!" ... Da hoben sie den Stein weg ... 43 Und ... er rief mit lauter Stimme: "Lazarus, komm heraus!" 44 Der Verstorbene kam heraus, an Füßen und Händen mit Binden umwickelt, und sein Gesicht war mit einem Schweißtuch bedeckt. Jesus sagt zu ihnen: "Macht ihn frei und lasst ihn gehen!"«

Die Literarkritik arbeitet also so wie das Grundschulkind und der Drehbuchautor: aus einer komplizierten und verwickelten Story wird ein möglichst einfacher plot herausgearbeitet, der nun aber nicht als eigene kreative produktive Leistung des Exegeten, sondern als »Urform der Erzählung« behauptet wird. Diese "Urform" wird zunächst interpretiert. Die Interpretation der beiden Überarbeitungen zunächst der Semeiaquelle und dann des Evangelisten vollzieht sich als Interpretation der jeweiligen Veränderungen gegenüber der Vorlage.

Für die Einschätzung der Wirklichkeitsebene des Wunders spielt dabei die ganze Interpretation keine Rolle. Sie liegt vor der Interpretaion fest. Namennennung und Ortstradition sind für Becker »ein Versuch, konkrete Wirklichkeit angesichts auffälliger Wunder zu beschreiben.«

»Nun kann man von ihm rühmend berichten, dass er selbst einen schon vier Tage begrabenen Toten auferweckte. Das ist schon ein grelles Plakat, das auf diesen Jesus missionarisch aufmerksam macht. In einer für das Wunder offenen Zeit kann man damit Fremde zum Anhören der christlichen Botschaft bringen [...] Eine historische und medizinische Aufarbeitung der Problematik, ob solches Wunder vorstellbar oder gar verifizierbar sei, liegt ihr ganz fern, so sicher in Verwesung übergegangene Leichen nicht erneut leben können. Darum sollte eine historisierende Auslegung von Joh 11 aus methodischen und sachlichen Gründen ganz unterbleiben.«

Solche Beurteilung reibt sich dann aber mit der Auffassung, die Becker mit Bezug auf die von ihm angenommene Fassung der Lazarusgeschichte in der Semeiaquelle formuliert, nach der diese Wundererzählung »in (auch damals) unvorstellbar gesteigeter Form« inszeniert wurde. Die Semeiaquelle will nach Becker »natürlich durch V 39 das Wunder ins kaum noch Vorstellbare steigern. Dieses letzte Wunder in der SQ soll nochmals in massiv zugespitzter Form Jesu Wundermacht aufzeigen. Selbst wundergläubige damalige Leser der SQ werden dies als besonders gewaltigen Schlussakkord betrachtet haben.«

»Anstößig wirkt die Aussage, Jesus freue sich um der Jünger Willen, dass er Lazarus nicht vor dem Tode geholfen habe (V 15). Dies ist die spitzeste Formulierung in der SQ für den Tatbestand, dass Jesus nicht aus Mitleid hilft, ja Mitleid gar nicht kennt, sondern Situationen nur ausnützt, um sich als Wundertäter höchster Qualität zu offenbaren. Vorherwissen und planerische Eigeninitiative sind eingesetzt, um durch Wunder Glauben zu wecken (vgl. 20,30f. und die Planung in 6,5f.).«
Man erkennt hier nun einen wichtigen Unterschied zwischen der literarkritischen Argumentation Beckers und der Filmstrategie George Stevens. In Steven's Film werden schwierige Passagen, die das Bild vom lieben Jesulein ankratzen könnten, einfach weggelassen, während Becker sich bemüht, diese über ein literarkritisches Wachstumsmodell einzelnen Schichten zuzuordnen und sie dann mit dem Gesamteindruck der rekonstruierten Schicht zu interpretieren. Trotzdem wird an den zitierten Passagen deutlich, dass Becker unabhängig von und vor aller Interpretation die Wirklichkeitsebene der erzählten Geschichte als unangenehme religious fiction einstuft, »so sicher in Verwesung übergegangene Leichen nicht erneut leben können.«

 

IV. Umberto Eco Eine semiotische Theorie des Lesens
Meine vier knappen Skizzen von doch sehr unterschiedlichen Lazaruslesarten können deren Komplexität und deren jeweiligen Vorzüge nicht angemessen wiedergeben. Was ich aber gezeigt zu haben hoffe ist, dass die Frage nach der Realität oder Fiktionalität von Wundergeschichten nicht auf der Ebene ihrer jeweiligen Textauslegung beantwortet wird, sondern vor aller Lektüre feststeht. Es ist hingegen die kritische Aufgabe einer semiotischen Lektüre mittels einer semiotischen Theorie des Lesens durchsichtig und kommunizierbar zu machen, wie sich solche Zuschreibungen von Wahrheitswerten und Annahmen über die Möglichkeit von Welten gestalten, und es ist ihre historischkritische Aufgabe, die vom Text nahegelegten und die vom Leser vorausgesetzten extensionalen Annahmen über den Geltungsbereich des Ausgesagten zu unterscheiden.

Die Lektüre eines Textes Text meine ich hier in einem umfassenden semiotischen Sinn als Gewebe aus syntagmatischen, semantischen und pragmatischen Beziehungen ist kein passives Verfahren reiner Aufnahme sondern ein interaktiver Prozess, der eine kreative Mitarbeit der Lesenden verlangt. Umberto Eco, wohl der einflussreichste lebende Semiotiker, hat in seinem Buch Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München/Wien 1987, versucht, die bisherigen Lektüretheorien und semiotischen Arbeiten in einem weiteren Sinn zu kombinieren und daraus ein eigenes Modell zu entwickeln. Nach Ecos Einsichten ist der Lektürevorgang ein komplexes Verfahren, das nicht mit dem auskommt, was "da" steht, sondern bei jeder Lektüre auf eine Enzyklopädie kulturell konventionalisierten Wissens zurückgreifen muss, um den Text aufführen zu können. Diese konventionalisierte Enzyklopädie ist eine regulative Hypothese, die erklären soll, was wir tun, wenn wir lesen.

Die Lektüre eines Textes fordert Leserinnen und Lesern eine erhebliche Mitarbeit ab. Es genügt nicht, die reine Ausdrucksebene, also die lineare Manifestation des Textes, wahrzunehmen. Es genügt aber auch nicht, Wort für Wort zu addieren und grammatische Regeln anzuwenden. Die Arbeit des Lesens erfordert nicht nur die Entzifferung dessen, was dasteht, sondern ebenso die Aktivierung oder Narkotisierung kulturellen und intertextuellen Wissens, die das Entzifferte erst zu einem sinnvollen Ganzen werden lassen. Der Akt des Lesens gehört zum Text selbst.

Nun ist es ein Problem, dass Sender und Empfänger nur im (real nicht existierenden) Idealfall über dieselben Codes verfügen, ein Problem, das sich bei der Interpretation von Texten anderer Zeiten und bzw. oder/und anderer Kulturen nochmals potenziert. Der Hl. Geist übernahm in pietistischen Hermeneutiken genau diese Funktion, die Codes kurzzuschließen, die ihm eine Textsemiotik in Übereinstimmung mit historischkritischer Exegese nicht mehr zuzugestehen bereit sein kann.

Daher ist die Arbeit an den Einleitungsfragen nach wie vor eine wichtige Aufgabe neutestamentlicher Wissenschaft. Für eine Textsemiotik übernimmt sie die Aufgabe, danach zu fragen, welcher Enzyklopädie sich die lineare Manifestation des Textes verdankt und welche Enzyklopädie dem Lektüreakt zugrundegelegt werden muss, wenn man in Treue zu dem vorhandenen Text lesen will.

Es handelt sich bei dem Gedanken einer Enzyklopädie um eine regulative Hypothese, die davon ausgeht, dass jeder Mensch als Teilnehmer einer bestimmten Kultur über kulturelles Wissen verfügt und dass Texte dieser Enzyklopädie weitgehend verpflichtet sind. Auch wenn Texte dem kulturellen Wissen widersprechen oder es erweitern, bleibt es auch wenn es nicht genannt wird als Bezugspunkt des Neuen von konstitutiver Bedeutung für den gesamten Signifikationsprozeß.

Diese Enzyklopädie besteht aber nicht nur aus einem Wörterbuch, vielmehr enthält sie Koreferenzregeln, Kontextuelle und situationelle Selektionen, allgemeine und intertextuelle Szenographien (das sind typische Situationen, die in der Lebenswelt und in geläufigen Texten immer wieder vorkommen) und übercodierte Ideologie. Ein Eintrag in diese virtuelle Enzyklopädie enthielte »die Definition, die eine Gesellschaft konventionell für eine bestimmte kulturelle Einheit akzeptiert.« In die Enzyklopädie des Römischen Reichs gehörte ein Eintrag unter dem Stichwort /Liebeszauber/. Ob es hingegen einen Eintrag /Liebeszauber/ in eine Enzyklopädie der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland geben sollte, wäre zumindest fraglich. Auf jeden Fall aber gäbe es in der Römischen Enzyklopädie dazu juristische Ausführungen, in der bundesdeutschen aber nicht. »Enzyklopädie oder Thesaurus sind das Destillat (in Form von Makropropositionen) anderer Texte.«

Setzt man die regulative Hypothese einer je verschiedenen Enzyklopädie voraus, so lässt sie sich annäherungsweise nur durch die Interpretation und Analyse von Texten konkretisieren. »Es handelt sich um eine Zirkularität, die eine strenge Untersuchung nicht unbedingt entmutigen muss: das Problem besteht nur darin, so rigoros vorzugehen, dass von dieser Zirkularität auch Rechenschaft gegeben werden kann.« Daher muss man bereit sein, die angenommene Enzyklopädie durch die semiotische Analyse von Texten zu korrigieren.

Der durch den Leseakt aktualisierte Inhalt der Texte muss intensional nach den diskursiven Strukturen hier geht es um die Reduktion von Szenographien, Hervorhebung und Narkotisierung von semantischen Eigenschaften, Auswahl von Isotopien und den erzählerischen, Aktanten und ideologischen Strukturen befragt werden. Es geht sehr verkürzt gesagt um den Bedeutungsgehalt des gelesenen Textes.

Der durch den Leseakt aktualisierte Inhalt der Texte muss aber auch nach seinen Extensionen befragt werden, vor allem nach den Weltstrukturen. Hier geht es um das Erkennen von propositionalen Standpunkten, um Matrix von Welten, Zuschreibung von Wahrheitswerten, um Urteile zur Annehmbarkeit von Welten und um Wahrscheinlichkeitsdisjunktionen. Verkürzt gesagt: hier fragt man nach dem Geltungsbereich des Ausgesagten.

In aller Kürze lässt sich sagen, dass eine Semiotik des Wunderbaren in frühchristlichen Texten einen Eintrag (oder mehrere Einträge) in eine virtuelle Enzyklopädie des frühen Christentums tätigen will und deshalb nach Intensionen und Extensionen solcher frühchristlicher Texte fragt, die Auskunft über »Zeichen, Wunder und machtvolle Taten« geben.
Eines möchte ich noch klarstellen. Eine semiotische Lektüre will andere Lektüren nicht ersetzen und schon gar nicht ihre Legitimität bestreiten. Semiotik eröffnet aber eine Möglichkeit zu fragen, wie solche Lektüren zu ihren Ergebnissen kommen und die unausgesprochenen Annahmen, denen sich die konkreten Lektüren verdanken, deutlich zu machen. Semiotik relativiert in einem ideologiekritischen Interesse den Absolutheitsanspruch jeder einzelnen Lektüre und eröffnet damit die Vision einer ökumenischen Lektüregemeinschaft, die die Vielfalt der Lektüren nicht als gefährliches, zu beseitigendes Übel anvisiert, sondern sie als dem Reichtum der Texte angemessen zu schätzen lernt.

 

5. Eine semiotische Skizze der Lazarusgeschichte
Abschließend möchte ich nun einige semiotische Anmerkungen zur Lazarusgeschichte anfügen. Freilich will und kann ich hier keine ausgiebige semiotische Analyse vorlegen, was den hier zur Verfügung stehenden Raum sprengen würde, und gegenüber den nur kurz angerissenen vier Lazaruslektüren wäre das auch nicht ganz fair. Trotzdem möchte ich in aller Kürze andeuten, was eine semiotische Lektüre nun zu tun hätte und wie sie mit dem Problem von fact, fiction und friction der Wundererzählungen umgehen sollte.

Der erste Faden einer semiotischen Lektüre ist die syntagmatische Analyse. Makrosyntaktisch wird nach der Funktion bzw. den Funktionen der Lazarusgeschichte für die gesamte Erzählung des Johannesevangeliums gefragt, mikrosyntaktisch geht sie der Erzählabfolge innerhalb der Lazaruserzählung nach.

Der zweite Faden ist die semantische Analyse. Hierbei geht es makrosemantisch um die Verwendung der in der Lazarusgeschichte vorkommenden Worte im gesamten Evangelium und mikrosemantisch um den konkreten semantischen Gehalt innerhalb der Lazaruserzählung.

Der dritte Faden wäre die pragmatische Analyse. Während Schritt 1 und 2 ausschließlich mit dem konkreten Text zu tun haben, geht es in der pragmatischen Analyse um das Verhältnis von Text und Lektüre und zwar in zwei Hinsichten: 1. Wie handeln die Leser am Text, um ihn aufzuführen? 2. Welche Lektüreanweisungen gibt der Text?
Dass sich die drei Schritte nicht fein säuberlich getrennt nacheinander vollziehen lassen, sondern auf jeder Ebene immer die anderen beiden vernachlässigten eine Rolle spielen, liegt genau daran, was ein Text ist: eine Gewebe aus syntagmatischen, semantischen und pragmatischen Beziehungen.

Die These, die ich zur Diskussion stellen möchte, besagt, dass die binäre Opposition fact versus fiction durch ihre unhintergehbare Bezogenheit auf ein drittes Glied nämlich die jeweilige Enzyklopädie als Interpretanten dieser Opposition unzureichend ist und dass sich daher fact, fiction, friction, also der Wirklichkeitsstatus einer gegebenen Erzählung auf der Ebene der pragmatischen Lektüre entscheidet. Ich vernachlässige also nun die syntaktische und die semantische Analyse, um abschließend der Frage nach Fiktionalität, Faktizität und Störungen dieser einfachen Opposition innerhalb der Lazaruserzählung pragmatisch im Sinne der Semiotik nachzugehen, wobei aufgrund der Seinsweise von Texten syntaktische und semantische Probleme immer auch eine Rolle spielen.

 

5.1. Die Mitarbeit der Lesenden
Leserinnen und Leser der Lazarusgeschichte nehmen zunächst die lineare Manifestation des Textes wahr um dann auf die eigene Enzyklopädie zurückzugreifen. Sofern diese Enzyklopädie die Bibel als christlichen Bezugstext gespeichert hat und davon werde ich nun ausgehen selektiert der Leser die Bedeutung >biblischer Text<. Je nach Grundhaltung zu biblischen Texten wird er dem Lazarustext mit Ablehnung, Gleichgültigkeit, Interesse, Glauben oder anderen Vorerwartungen begegnen.

Zu der kontextuellen Selektion tritt eine situative Selektion hinzu. Je nach Ort und Anlass wird die Lektüreerwartung unterschiedlich ausfallen. Der Text im Gottesdienst als Evangelium des Sonntags gelesen weckt andere Vorerwartungen als eine meditative Lektüre, die in einer Bibliodramagruppe andere, als die von Schülerinnen und Schülern im Religionsunterricht. Wählen wir aus den verschiedenen Möglichkeiten die selektive Situation, die sich der vorliegende Text verdankt. Es handelte sich um einen von mir als wissenschaftlicher Assistent für Neues Testament am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg in Loccum am RPI anlässlich eines Mentorentages gehaltenen Vortrages. Das weckte vermutlich die situative Selektion, einen mehr oder weniger interessanten, wissenschaftlich geprägten Vortrag zu hören, wie man ihn aus dem Theologiestudium kennt und man wird kaum damit gerechnet haben, dass ich LazarusGedichte vortrage, ein Lazaruslied vorsinge oder eine Predigt halte. Nachdem die Leser und Leserinnen die enzyklopädischen Entscheidungen >biblischer Wundertext in europäischwissenschaftlichtheologischer Lektüre< getroffen haben, werden Sie auf der aktualisierten Inhaltsebene diskursive Strukturen, erzählerische Strukturen, Aktantenstrukturen und ideologische Strukturen der Lektüre ausmachen. Die diskursiven Strukturen lassen die Thematik der Geschichte erkennen, die erzählerischen Strukturen den Handlungsablauf, die ideologischen Strukturen lassen die Lesenden von vornherein wissen, dass Jesus in dieser Erzählung ziehmlich gut wegkommen wird, anders, als wenn sie etwa einen CelsusText lesen würden.

Hinsichtlich der Frage nach fact, fiction, friction sind all diese intensionalen Fragestellungen zwar wichtig, aber entschieden wird sie auf der Ebene der Extensionen. Hier stellt sich den Lesenden die Aufgabe, dem aktualisierten Inhalt einen Geltungsbereich zuzuschreiben. Tiere können in Fabeln sprechen, aber Sie wären wohl ziemlich überrascht, wenn Sie beim Spaziergang ein Dackel nach der Uhrzeit fragen würde. Biblizistische Leser haben aufgrund dieser pragmatischen Selektionen auch keine Probleme mit Wundergeschichten. Selbst wenn sie nie ein Wunder in ihrem Alltag erlebten, würden sie die biblischen Erzählungen als eine absolut annehmbare Welt beurteilen, da das biblisch Erzählte für ihr Realitätsempfinden nicht dem historischen Gesetz der Analogie unterliegt. Beckers Analogieschluss »so sicher in Verwesung übergegangene Leichen nicht erneut leben können«, würden Biblizisten für jeden Zombiefilm, für jede religionsgeschichtliche Parallele in Anspruch nehmen und ihn so als Aberglaube oder groben Unfug behandeln, aber für den biblischen Text gibt es für Biblizisten keinen Grund, Beckers Satz anzuwenden, denn Gottes Handeln in Jesus Christus ist schlichtweg analogielos. Erst die historische Kritik des ausgehenden 18. und dann des 19.Jahrhunderts schärft den Bibellesern ein, dass die Bibel als von Menschen geschriebenes Buch ganz und gar dem Analogieschluss unterliegt, wenn man intellektuell redlich und auf der Höhe des allgemeinen Weltwissens Bibel lesen will und für die Wahrheit christlichen Glaubens keine Sondergesetze anzunehmen bereit ist. Diese Entscheidung wird in Ihrer Enzyklopädie weitgehend vorhanden sein, zumindest als Problemanzeige. Jedenfalls verdankt sich mein Aufsatz immer noch dieser Problemstellung. Hier jedenfalls stehen wir dann vor der Frage, ob wir den Text als religiöse Fiktion einstufen oder ihn als reales Faktum verorten. Eine Zwischenlösung ist nicht möglich, da Lazarus entweder nach vier Tagen auferweckt wurde oder nicht.

Haben Sie für sich eine klare Entscheidung getroffen, wie Jürgen Becker, der den Text als religiöse Fiktion betrachtet, die der Mission dient, oder wie ein Biblizist, der alles als tatsächlich geschehen beurteilt, ist die Frage geklärt. Aber wie verhält es sich, wenn Sie sich für die Fiktion entscheiden, mit der Auferstehung Jesu und was machen Sie als Biblizist mit der Frage der Theodizee? Die Antwort: »Jesus konnte nicht alle heilen. Es waren zu viele Tote.« wird auf Dauer nicht reichen. Beide Rückfragen funktionieren als Reibungen, die eindeutigen Antworten, einfachen Oppositionen und Immunisierungsstrategien Sand ins Getriebe werfen. »Kein Bibelwissenschaftler bestreitet heute mehr, dass Jesus außergewöhnliche Taten vollbracht hat, die man landläufig "Wunder" nennt«, ist keine gute Antwort auf das Wunderproblem. Es verspricht Schülern und Schülerinnen eine Eindeutigkeit, die Rückfragen nicht standhält und bereits im eigenen Text zumeist wieder zurückgenommen wird.

 

5.2. Lektüreanweisungen des Textes
Wir versuchen nun die umgekehrte Perspektive einzunehmen. Der Text gibt uns Signale, wie er gelesen werden will. Das Johannesevangelium ist voll von solchen Signalen, ja an einigen Stellen wendet es sich direkt an die Leser. So heißt es in 19,34f., unmittelbar nach Jesu Tod:

»[...] einer der Soldaten stieß mit der Lanze in seine Seite, und sogleich floss Blut und Wasser heraus. Und der, der es gesehen hat, hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr. Und er weiß, dass er Wahres berichtet, damit auch ihr glaubt.«

Und in 20,30f, also die Stelle, die von den Vertretern der Semeiaquelle als Abschluss eben dieser Quelle angesehen wird, heißt es:

»Noch viele andere Zeichen, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben sind, hat Jesus vor den Augen seiner Jünger getan. Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.«

Die Exegeten, die die Zeichen Jesu und damit auch die Lazarusepisode als missionarischen Text einstufen, haben völlig recht, aber im Verständnis des Johannesevangeliums können die erzählten Zeichen nur Glauben wecken, wenn angenommen wird, dass sie wirklich geschehen sind. Sie werden als reale Augenzeugenberichte in realen Orten und in einer geschichtlichen Zeit geschildert. Zwar wird der Glaube, der nicht sieht und doch glaubt, höher bewertet als der, der sehen muss, um zu glauben, aber auch letzterer Glaube wird als legitimer Glaube gewertet. Nirgendwo aber gibt das Johannesevangelium zu verstehen, dass man nur Jesus als Gottessohn glauben soll, seine Fähigkeit, einen in Verwesung begriffenen Leichnam lebendig zu machen aber in Abrede stellen könne. Dies haben nach dem Johannesevangelium nicht einmal Jesu Gegner getan. Vielmehr heißt es in 12,10f.: »Die Hohenpriester aber beschlossen, auch Lazarus zu töten, weil viele Juden seinetwegen hingingen und an Jesus glaubten.«

Der Text des Johannesevangeliums erzählt die Zeichen Jesu als Glaubenshilfe, damit wir mit Marta in der Lazarusgeschichte sagen können: »Ja Herr, ich glaube, dass Du der Messias bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll.« Genau diese Hilfestellung wird Menschen im Zuge der Aufklärung und besonders einer Theologie nach Auschwitz zum Problem. Wer vollmundig und reibungslos von den Wundern Jesu und Gottes spricht, muss auch ein Wort über den Holocaust sagen. Das sollte alle Wunderdiskussion sich zur Regel machen.

Was haben wir nun von den textpragmatischen Überlegungen zur Lazarusgeschichte? Ich möchte den Ertrag der Argumentation abschließend in 8 Thesen formulieren:

  1. Die Beantwortung der Frage nach der Realität oder Fiktionalität von Wundergeschichten hängt von der Enzyklopädie der Leserinnen und Leser ab.
  2. Jede eindeutige Antwort löst Reibungen aus, die die einfache Alternative "fact or fiction" als unzureichend erkennen lässt.
  3. Die neutestamentliche Wundergeschichten wollen Glauben wecken in der Überzeugung, dass die Wunder tatsächlich geschehen sind.
  4. Die Enzyklopädie der neutestamentlichen Schriften ist nicht identisch mit der seiner heutigen Leser und Leserinnen.
  5. Die Frage nach der Wirklichkeit der biblisch erzählten Wunder ist eine legitime Frage, da ihre Beantwortung das jeweilige Gottes, Christus und Wirklichkeitsverständnis entscheidend berührt und zu je unterschiedlichen Erwartungen führt.
  6. Was als Wirklichkeit erfahren oder angenommen wird, hängt von der jeweiligen Enzyklopädie ab, in der wir leben.
  7. Für eine multikulturelle Gesellschaft und gerade auch für Religionen in multikulturellen Gesellschaften ist es überlebensnotwendig, mit verschiedenen, teilweise unvereinbaren Enzyklopädien nebeneinander umgehen zu lernen. Dies muss Aufgabe aller Lehre und allen Lernens sein.
  8. »Welches von den vielen Gleichnissen Jesu gefällt Dir am besten?«
    Das Gleichnis, das mir am besten Gefallen hat, ist das mit lazarus ...«

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/1996

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