Armut wird gemacht – Reichtum auch

Von Franz Segbers

 

Das Sozialbündnis Krefeld wandte sich vor der Bundestagswahl 2017 mit einer „Krefelder Erklärung zur Armutsbekämpfung“ mit der Bitte um Unterschrift an die Politiker. Sie wurden unter anderem gebeten, Initiativen und Gesetzesvorhaben dahingehend zu prüfen, ob sie zu einer Zunahme von Armut und Ausgrenzung beitragen. Doch enttäuscht musste das Bündnis feststellen, dass weniger Politiker als erhofft zu einer Unterschrift bereit waren. Den einen war die Forderung zu pauschal, andere reagierten erst gar nicht, wieder andere wollten sich aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht binden lassen. Dabei ging es dem Bündnis um die Frage, wie Armutsbekämpfung zu einer verbindlichen Aufgabe der Politik werden könnte, und darum, wer für die wachsende Ungleichheit im Lande verantwortlich sei. Bei Fragen der Geschlechtergerechtigkeit ist die Politik per Gesetz gefordert, durch „Gender mainstreaming“ eine Ungleichbehandlung der Geschlechter auszuschließen. Warum sollte es nicht auch ein vergleichbares „Social mainstreaming“ geben?
 

 
Die große Ökumene in der Ablehnung des Kapitalismus

Papst Franziskus hatte mit seinem ersten Schreiben „Die Freude des Evangeliums“ im November 2013 weltweite Aufmerksamkeit erreicht.2 Völlig anders als gewohnt war nämlich die klare und radikale Sprache des Papstes, mit der er der kapitalistischen Wirtschaft ein vierfaches Nein entgegenschleudert: Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung, Nein zur neuen Vergötterung des Geldes, Nein zu einem Geld, das regiert statt zu dienen und Nein zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervorbringt. Seine Folgerung lautet: „Diese Wirtschaft tötet.“ Die Medien waren überalarmiert und aufgeschreckt. Marc Beise, Leiter der Wirtschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung (SZ), reagierte ungehalten: „Drei Wörter: ‚Diese Wirtschaft tötet‘, härter geht das nicht. Falscher auch nicht.“ (SZ vom 30.11.2013) Rüdiger Jungbluth mahnte in der ZEIT: „Franziskus kritisiert in seinem Lehrschreiben den Kapitalismus. Auch Christen sind gut beraten, ihm da nicht zu folgen.“ (DIE ZEIT 20.12.2013) Rainer Hank, Leiter der Wirtschafts- und Finanzredaktion der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS), kritisierte, dass der Papst nur das „Konzept Mutter Teresa in Kalkutta“ – also Barmherzigkeit und Almosen – anzubieten habe. „Dass es zur Überwindung der Armut Marktwirtschaft und Kapitalismus braucht, kann dieser Papst nicht sehen.“ (FAS 1.12.2013) Damit ist der Kernpunkt benannt: Der Papst wagt es, den Konsens in Frage zu stellen. Er macht den Kapitalismus für die Verarmung der Menschen verantwortlich.

Diese mediale Aufmerksamkeit konnten die zeitgleich beschlossenen Erklärungen und Beschlüsse des Ökumenischen Rates der Kirchen in Busan (Südkorea) vom November 2013 nicht erreichen. Doch geradezu atemberaubend und hierzulande verschämt verdrängt und verschwiegen ist, dass die Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates mit den Äußerungen des Papstes überraschend eine ganze Reihe grundsätzlicher Übereinstimmungen aufweisen.3

In seinem Aufruf zum Handeln für eine Ökonomie des Lebens beurteilt der Ökumenische Rat der Kirchen die gegenwärtige Lage nicht anders als der Papst: „Unsere ganze derzeitige Realität ist so voll von Tod und Zerstörung, das wir keine nennenswerte Zukunft haben werden, wenn das vorherrschende Entwicklungsmodell nicht radikal umgewandelt wird und Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit zur treibenden Kraft für die Wirtschaft, die Gesellschaft und die Erde werden.“4  Die Übereinstimmung ist auffallend und doch wiederum auch nicht. Es gibt eine große Ökumene der orthodoxen, anglikanischen, lutherischen, methodistischen, reformierten und römisch-katholischen Kirchen in einer klaren Ablehnung von Geist, Logik und Praxis des Kapitalismus als Ursache der Armut. Doch wirklich erstaunlich ist diese Übereinstimmung wiederum auch nicht, denn die armen Menschen stellen weltweit die Mehrheit und inzwischen auch die Mehrheit des Christentums dar. Mit dieser neuen Lage tun sich die Kirchen in Europa, im Zentrum des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, schwer. Die armen Kirchen bilden eine große Ökumene aller Kirchen in den entscheidenden weltweiten Überlebensfragen des Globus, noch bevor die Kirchen zu einer Ökumene in Lehrfragen gefunden haben.

Es ist gemeinsame Überzeugung aller Kirchen der Ökumene, dass das herrschende Wirtschaftssystem ein „ungerechtes System“5  und auch nach dem Urteil des Papstes „an der Wurzel ungerecht“6 ist. Es lässt sich also nicht mit bloßen Korrekturen bessern, sondern die innere Dynamik und Logik ist ungerecht. Diese Einsicht spitzt der Papst in seiner Schöpfungsenzyklika „Laudato si“ zu, in der es heißt: „Es gibt nicht zwei Krisen nebeneinander, eine der Umwelt und eine der Gesellschaft, sondern eine einzige und komplexe sozio-ökologische Krise.”7 Was hier zur Debatte steht, geht über bloße soziale Verteilungsfragen hinaus. Vielmehr wird offenbar, dass unsere ganze Zivilisation strukturell nicht gerechtigkeitsfähig ist. Wer über Armut und ihre Bekämpfung auf der Höhe der Zeit reden will, der muss deshalb über mehr sprechen als über Verteilungsfragen.
 


Armut kehrt zurück

Bis Mitte der 1970er-Jahre war Armut in Deutschland zumindest im Grund bekämpft. Sie war nur noch ein Randphänomen. Die Politik nach dem Zweiten Weltkrieg und in Zeiten der Sozialen Marktwirtschaft war insgesamt erfolgreich: So gab es Armut eigentlich nur noch jenseits der Arbeit. 1952 wurde das Gesetz über Mindestarbeitsbedingungen verabschiedet, das jedoch nie angewendet werden musste. Leiharbeit blieb bis 1972 gänzlich verboten und wurde erst später streng reguliert zugelassen. Bis 1985 waren befristete Arbeitsverträge nur unter strengen Auflagen möglich, geringfügige Beschäftigungsverhältnisse gab es eigentlich gar nicht und Leiharbeit war bis 1972 auf drei Monate befristet. Geringverdiener konnten eine Mindestrente beziehen.

Diese Welt gibt es nicht mehr. Ab Mitte der 1980er-Jahre hat die Politik mit ihren bisherigen sozialpolitischen Grundüberzeugungen gebrochen. Statt Armut und Niedriglöhne bewusst zu beseitigen, wurde die politische Strategie zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit verfolgt, Billigformen von Arbeit zu ermöglichen und den Niedriglohnsektor auszuweiten. Dies ist der wesentliche Faktor, der zur Rückkehr von Armut beitrug.

Diese politisch gemachte Armut wird verdrängt und mit ihr auch die Menschen, deren Leben prekär geworden war. Europaweit ist zu beobachten, dass die Rechte im Aufwind ist. Ihre Wählerklientel sind arme Menschen und Menschen aus der unteren Mittelschicht, die erleben mussten, wie ihr Leben und Arbeiten unsicherer geworden war. Mit ihrer Wahloption für rechtspopulistische Parteien wie die AfD wenden sie sich gegen jene, die ihre Arbeitsplätze verschlechtert und ihre Lebensbedingungen sozial entsichert haben. Schon seit Jahren verweisen Soziologen auf die Entwicklung einer ohnmächtigen und adressatenlosen Wut, sodass die gegenwärtige Entwicklung kaum überrascht.8  Eine Wut hat sich aufgestaut, die sich gegen die Verursacher in der Politik richten müsste, doch sie wendet sich gegen die anderen: die Ausländer, die Türken und schließlich die Flüchtlinge.

„Aus der Gesellschaft des Aufstiegs und der soziale Integration“, so Oliver Nachtweys These, „ist eine Gesellschaft des sozialen Abstiegs, des Prekarität und Polarisierung geworden.“9  Diesen Vorgang nennt Oliver Nachtwey eine „regressive Modernisierung“. Damit verweist er auf eine soziale Entwicklung, die hinter einen erreichten Stand sozialer Rechte wieder zurückfällt. Es ist ein Fortschritt, der den Rückschritt in sich trägt. Obwohl der Reichtum zunimmt, hat in Deutschland, einem der reichsten Länder der Erde, die Zahl der Armen mittlerweile das Rekordniveau 15,7 Prozent erreicht – 12,9 Millionen Menschen. 10 Mit dem Hinweis auf die wachsende Armut mitten im wachsenden Reichtum löst der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) mit seinen Sozialberichten regelmäßig heftige Debatten aus. Dabei zeigt sich ein auffälliger Konsens. So nennt das Zeitmagazin die Armutsberichterstattung einen „Nonsens in seiner reinsten Form“11, die Zeitschrift FOCUS spricht von einer „Horrorstudie“12  und die Süddeutsche Zeitung meint: „Der Fehler liegt im System.“13 Auch die Arbeitsministerin Andrea Nahles kritisiert die Methode der Armutsberichterstattung: „Der Ansatz führt leider schnell in die Irre.“ – „Es gibt zum Beispiel mehr illegale Einwanderer und sehr viele jüngere Erwerbsgeminderte, da haben wir es mit wirklicher Armut zu tun.“14  Bemerkenswert ist die Kritik des früheren Generalsekretärs des Caritasverbandes Georg Cremer. Er kritisiert, dass Armutsrisiko und Armut gleichgesetzt werde. In seinem Buch „Armut in Deutschland“ führt er aus: „Damit löst sich der Armutsbegriff von den gängigen Vorstellungen, die mit einem Leben in Armut verbunden sind.“15  Man ist sich einig: Armut existiert in diesem Lande nicht. Was arm genannt werde, sei nicht Armut. Sind nur die wirklich arm, die Flaschen sammeln, zur Tafel gehen oder in Obdachlosenheimen eine Unterkunft für eine Nacht suchen?

Wann ist arm wirklich arm?16  Die Europäische Union hat sich darauf verständigt, Armut so zu bemessen: Wer über weniger als sechzig Prozent des mittleren Einkommens verfügt, gilt als arm. Gemessen wird mit der relativen Armut die Quote jener Menschen, die vom Wohlstand abgekoppelt sind. Relative Armut setzt also die Armut in ein relatives Verhältnis zum Reichtum einer Gesellschaft. Die harsche Kritik in Medien und Politik lässt vermuten, dass es gar nicht so sehr um Statistik geht, sondern um die andere Seite, den verheimlichten Reichtum. Er soll unsichtbar und außer Streit gestellt werden.17

Doch die Daten des Fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung sind eindeutig: So konnten die reichsten zehn Prozent der Haushalte ihr reales Nettoeinkommen zwischen 1991 und 2014 um 27 Prozent mehren und besitzen mehr als die Hälfte des gesamten Netto-Vermögens – die untere Hälfte nur ein Prozent. Zudem gibt es Reallohn-Verluste bei den unteren Einkommen. Die unteren vierzig Prozent der Beschäftigten haben 2015 real weniger verdient als Mitte der 1990er-Jahre. Der Bericht fasst zusammen: „Die starke Zunahme der Ungleichheit der Markteinkommen zu Beginn der 2000er-Jahre ist auch eine Folge der Ausdifferenzierung der Lohnarbeit: Niedriglohnbeschäftigung, nachlassende Tarifbindung und die Zunahme atypischer Beschäftigung haben zu einer stärkeren Spreizung der Erwerbseinkommen beigetragen. Bis in die Einkommensmitte hat es Reallohnverluste gegeben.“18 Verarmung bezieht sich keineswegs nur auf Lebensverhältnisse am unteren äußersten Rand. Wenn die unteren vierzig Prozent der Beschäftigten reale Lohneinbußen haben, so sind hier Kindergärtnerinnen, Krankenpfleger, die Paketausträger, Niedriglöhner und Leiharbeiter angesprochen.

Auch die Europäische Kommission hat im Jahr 2017 die Bundesregierung für diese Politik kritisiert, die zu einer sich dramatisch ausweitenden prekären Beschäftigung geführt hat. In ihrem Länderbericht kritisiert die Europäische Kommission: „Im Zeitraum 2008 bis 2014 hat die deutsche Politik in hohem Maße zur Vergrößerung der Armut beigetragen, was auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass die bedarfsabhängigen Leistungen real und im Verhältnis zur Einkommensentwicklung gesunken sind.“19  Die Bundesregierung hat also eine Politik verfolgt, die Armut vergrößert hat. Die Kommission wirft der Regierung vor, mit der Erhöhung der Regelsätze für Hartz IV-Bezieher nicht einmal Kaufkraftverluste durch die Preissteigerung ausgeglichen zu haben. Auf der anderen Seite aber hat die Bundesregierung Vermögenssteuer abgeschafft, den Einkommensteuerspitzensatz von 53 Prozent im Jahr 2000 auf 42 Prozent im Jahr 2004 gesenkt und die pauschale Besteuerung von Kapitalerträgen eingeführt. Diese Politik habe zur Spreizung der Einkommen geführt.

Diese Politik ist nicht nur sozial problematisch, sie gefährdet auch die Demokratie. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung nimmt eine „soziale Spaltung der Wahlbeteiligung“20  wahr. Je prekärer die Lebensverhältnisse an einem Ort, desto niedriger fällt die Wahlbeteiligung aus. Der Unterschied macht bis zu fünfzig Prozent aus. Angesichts einer solchen Spaltung sind die Wahlen kaum mehr sozial repräsentativ. Ein Staat, der Armut zulässt, höhlt seine demokratische Legitimation aus. Arme zählen nichts mehr und vor ihnen braucht sich die Demokratie nicht mehr zu legitimieren.
 


Auf dem Weg zu einer „Vollerwerbsgesellschaft“

Vollbeschäftigung ist zu unterscheiden von einem Vollerwerb. In einer Vollerwerbsgesellschaft sind alle irgendwie beschäftigt: prekär, zu Löhnen, die nicht die Existenz sicheren, in Minijobs, Teilzeitarbeit oder Leiharbeit. Um eine Kernbelegschaft mit unbefristeten Arbeitsverträgen und sozialstaatlicher Absicherung hat sich ein Ring gelegt von Teilzeitbeschäftigten, Leiharbeitern, befristet Eingestellten oder Vollzeitbeschäftigten, deren Lohn durch Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld II aufgestockt werden muss. Aus der Mitte der Erwerbsarbeit verläuft eine Abwärtsspirale, die immer mehr Beschäftigte in ihren Strudel zu reißen droht und eine Beschäftigung zweiter Klasse schafft. In dieser Gesellschaft der Vollerwerbstätigkeit nimmt zwar Erwerbstätigkeit insgesamt zu, doch es gibt einen Teil von Erwerbstätigen, die hinter rechtlich abgesicherten Formen des Arbeitnehmerstatus zurückfallen. Sie sind Arbeitnehmer zweiter Klasse.
 


Armut ist falsch verteilter Reichtum

Armut und Reichtum sind nicht die beiden Enden einer Verteilungsskala. Armut entsteht durch Reichtum. Was hat es mit privater Armut und privatem Reichtum auf sich? Was ist mit Reichtum und Vermögen gemeint? Die Eigentumswohnung, das Auto auf Pump? Das alles ist noch kein Reichtum. Die Regeln, die für das Privateigentum an Gebrauchsgütern gelten, sind nicht dieselben Regeln, die für das Privateigentum an Produktionsmitteln gelten, denn wer Eigentum an Produktionsmitteln hat, der nimmt fremde Arbeit in Anspruch, um sein Vermögen rentabel zu verwerten. Wer deshalb Armut bekämpfen will, der muss den Reichtum unserer Gesellschaft heranziehen.

Die Politik hat kein Interesse daran, den Schleier über die Reichtumsverhältnisse zu lüften. Nachdem die Familie Quandt allein durch ihre Aktienanteile bei BMW im Jahr 2016 schon 980 Millionen Euro bekommen hat, konnte sie im Jahr 2017 über eine Milliarde Dividenden erzielen. Das ist ein schier unvorstellbarer Betrag. Er wird fassbarer, wenn er in einen Vergleich gesetzt wird: Bei einem Durchschnittsnettolohn eines Beschäftigten in der Höhe von netto ca. 1.600 Euro müsste ein Durchschnittsarbeiter ca. 55.000 Jahre arbeiten, um ein Vermögen in der Höhe anzusparen, das die Familie Quandt allein in einem Jahr erzielen konnte. Der Reichtum hat einen Spitzenwert erklommen. Das Vermögen des oberen einen Prozents, 800.000 der wohlhabendsten Deutschen, ist fast genauso groß wie das Vermögen der übrigen achtzig Millionen. 36 Personen besitzen mehr als vierzig Millionen Bundesbürger zusammen.21 Die kleine Spitze ganz oben, das eine Prozent, das über 99 Prozent des Reichtums in diesem Land besitzt, ist ein „exklusiver Reichtum”. Dieser exklusive Ein-Prozent-Reichtum ist eine ungeheure Macht in den Händen Weniger. Die exklusiv Reichen entfliehen jeglicher staatlichen Kontrolle. Das Hauptproblem ist dieser exklusive Reichtum – nicht einfach nur die Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Und darüber darf nicht länger geschwiegen werden.

Es war die Politik, die durch Steuergesetze die Gewinne der Banken, die sie aus dem Verkauf der Industriebeteiligungen erzielt hatten, steuerfrei gestellt hat. Sie hat Kapitalbeteiligungsgesellschaften steuerlich nicht als gewinnorientierte Unternehmen, sondern als Vermögensverwaltungen eingestuft. Sie hat bei der Bankenrettung die Gläubiger und Anteilseigner geschont, die Kosten der Finanzkrise auf die Allgemeinheit und auf die schwächeren Teile der Bevölkerung abgewälzt. Sie hat eine Finanz- und Steuerpolitik geschaffen, welche die Vermögenden begünstigt und eine massive Umverteilung von unten nach oben organisiert. Sie hat die Reichen und Vermögenden steuerlich entlastet.

Dieser exklusive Reichtum wird zudem vererbt. Die Erbschaftssteuer ist zu einer Bagatellsteuer geworden. Hohe Erbschaften passen nicht in demokratische Gesellschaften, die Chancengleichheit für alle propagieren. Gern schmückt man sich als Wohltäter mit Stiftungen, die vom Staat gefördert werden. Doch was ist das anderes als vorenthaltene Löhne oder nicht gezahlte Steuern? Statt dafür zu sorgen, dass der gesellschaftliche Reichtum sich für Gemeinwesen nützlich machen kann, macht sich die Regierung nützlich, dass eine weit abgehobene Elite entsteht. So entsteht ein Vererbungskapitalismus wie im Feudalismus.


Mehr als Umverteilung

Um Armut zu bekämpfen, sind gerade am unteren Ende der Einkommensverteilung gezielte Maßnahmen nötig und möglich. Dazu gehört zuerst ein Mindestlohn, der vor Armut schützt. Ein Schlüssel für eine verstärkte Umverteilung von oben nach unten und für mehr soziale Gerechtigkeit ist die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, eine gerechte Versteuerung der Kapitaleinkünfte sowie eine Erbschaftssteuer, die sicherstellt, dass das hohe Ausmaß von Ungleichheit sich nicht verfestigt. Doch gerade das Faktum Armut in einem reichen Land zeigt, dass es um mehr geht als um Umverteilung. Deshalb sollten die Kirchen in Zeiten entgrenzter Märkte mit den ökumenischen Einsichten Schritt halten, dass Armut systembedingt ist.
 


Literatur

  • Berger, Jens: Wem gehört Deutschland? Die wahren Machthaber und das Märchen vom Volksvermögen, Frankfurt 2004
  • Cremer, Georg: Armut in Deutschland. Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln? München 2016
  • Detje, Richard / Menz, Wolfgang / Nies, Sarah / Sauer, Dieter: Krise ohne Konflikt? Interessen und Handlungsorientierungen in der Krise – die Sicht von Betroffenen, Hamburg 2011
  • Heitmeyer, Wilhelm (Hg.), 2010: Deutsche Zustände. Folge 8. Frankfurt a.M.
  • Nachtwey, Oliver: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Modernisierung, Berlin 2016
  • Der Paritätische Gesamtverband: Menschenwürde ist Menschenrecht. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland, Berlin 2017
  • Segbers, Franz: Wann ist arm wirklich arm? Zum Deutungsstreit über Armut, Armutsdaten und Armutslagen, in: Stimmen der Zeit 11/2017
  • Segbers, Franz: Wie Armut in Deutschland Menschenrechte verletzt, Oberursel 2016
  • Segbers, Franz / Wiesgickl, Simon (Hg.): „Diese Wirtschaft tötet“ (Papst Franziskus). Kirchen gemeinsam gegen Kapitalismus, Hamburg 2015

     

Anmerkungen 

  1. Überarbeiteter Vortrag vor dem Sozialbündnis in Krefeld am 4. Mai 2017.
  2. Evangelii Gaudium (Die Freude des Evangeliums), abgedruckt in: Segbers, Franz / Wiesgickl, Simon (Hg.): „Diese Wirtschaft tötet“ (Papst Franziskus). Kirchen gemeinsam gegen Kapitalismus, Hamburg 2015, 238-242.
  3. Segbers, Franz / Wiesgickl, Simon: Die große Ökumene der Kirchen gegen den Kapitalismus, in: Segbers, Franz  /  Wiesgickl, Simon (Hg.): „Diese Wirtschaft tötet“ (Papst Franziskus). Kirchen gemeinsam gegen Kapitalismus, Hamburg 2015, 10-25.
  4. Ökumene des Lebens. Gerechtigkeit und Frieden für alle. Eine Aufruf zum Handeln (Busan), abgedruckt in: Segbers, Franz  /  Wiesgickl, Simon (Hg.): „Diese Wirtschaft tötet“ (Papst Franziskus). Kirchen gemeinsam gegen Kapitalismus, Hamburg 2015, 190.
  5. Ebd. 209.
  6. Evangelii Gaudium, 239.
  7. http://w2.vatican.va/content/francesco/de/encycli cals/documents/papa-francesco_20150524_encicli ca-laudato-si.html (15.11.2017).
  8. Detje, Richard / Menz, Wolfgang / Nies, Sarah / Sauer, Dieter: Krise ohne Konflikt? Interessen und Handlungsorientierungen in der Krise – die Sicht von Betroffenen, Hamburg 2011; Heitmeyer, Wilhelm (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 8. Frankfurt a. M. 2010.
  9. Nachtwey, Oliver: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Modernisierung, Berlin 2016, 8.
  10. Der Paritätische Gesamtverband: Menschenwürde ist Menschenrecht. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland, Berlin 2017, 6.
  11. Martenstein, Harald: Über Armutsforschung und Nesthocker, in: ZEITMAGAZIN NR. 20/20152, Juni 2015.
  12. Focus online vom 2.4.2015.
  13. Bohsem, Guido: Warum man Armut neu definieren muss, in: SZ vom 30. März 2015.
  14. Bohsem, Guido  /  Öchsner, Thoma: Interview mit Arbeitsministerin Nahles in: SZ vom 27. März 2015.
  15. Cremer, Georg: Armut in Deutschland. Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln? München 2016, 16.
  16. Vgl. Segbers, Franz: Wann ist arm wirklich arm? Zum Deutungsstreit über Armut, Armutsdaten und Armutslagen, in: Stimmen der Zeit 11/ 2017, 1-10.
  17. Segbers, Franz: Wie Armut in Deutschland Menschenrechte verletzt, Oberursel 2016.
  18. Lebenslagen in Deutschland. Der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, 53; www.armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Bericht/Der-fuenfte-Bericht/fuenfter-bericht.html (15.11.2017) (pdf-Download).
  19. https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/2017-european-semester-country-report-germany-de_1.pdf, 6. (25.9.2017).
  20. www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle- meldungen/2017/mai/landtagswahl-in-nrw-soziale- spaltung-der-wahlbeteiligung-hat-sich-verschaerft (15.11.2017).
  21. www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/ demokratiemonitor/projektthemen/gespaltene- demokratie-soziale-spaltung-der-wahlbeteiligung (25.9.2017).