Pädagogische Freiheit – Grundsätzliche Fragen und Perspektiven für die Praxis

von Rolf Wernstedt

 

Das Reden und Nachdenken über Freiheit hat wieder Konjunktur. Das Thema ist uralt und begleitet das europäische Denken seit der griechischen Antike. Es hat alle Tyranneien, Diktaturen und Gottesstaaten überdauert.

Bevor ich mich den direkten Absichten und Möglichkeiten dessen nähere, was pädagogische Freiheit sinnvoller Weise sein kann, möchte ich auf drei aktuelle begriffliche Freiheitseinbrüche in den öffentlichen und wissenschaftlichen Raum eingehen und dessen Bedeutungsgehalt für die Pädagogik diskutieren.

 

"Mehr Freiheit wagen"

Es hat überrascht, dass am 30. November letzten Jahres die frisch gewählte Bundeskanzlerin als bewussten rhetorischen Akt die Deutschen aufrief "mehr Freiheit zu wagen". Sie wollte damit offensichtlich Willy Brandts "mehr Demokratie wagen" überbieten.

Unabhängig von den situativen Überlegungen eines solchen Zitats darf und muss gefragt werden, was denn die Substanz ihres Freiheitsverständnisses in dieser Redefigur ist.

Unzweifelhaft scheint mir, dass Freiheit für einen Menschen, der aus der DDR kommt, semantisch anders aufgeladen ist als für jemanden, der in seinem Leben bürgerliche Freiheiten von Anfang an erlebt hat.

Der zu allen Zeiten und in jeder Lebenslage emotional tief reichende Gehalt der Freiheit ist erlebte Unfreiheit. Es gibt ernst zu nehmende Argumentationen, die ohnehin darauf verweisen, dass es Freiheit gar nicht geben könne, sondern nur konkret erlebbare und angebbare Unfreiheit, deren Beseitigung Freiheit konstituiere.

Alle durch die Deklaration der Menschenrechte und unsere Verfassung verbrieften Freiheiten sind von dieser Natur. Die Faszination freier Wahlen kann man nur begreifen, wenn es keine gibt oder sie unfrei sind. Gibt es freie Wahlen, sind sie offenbar weniger anziehend. Die massiv sinkende Wahlbeteiligung in den neuen Bundesländern - in den alten nicht minder - zeigt dies. Die Enttäuschung an den Inhalten oder Erwartungen ist stärker als die Wahrnehmung des Freiheitsrechts der Wahl.

Diese Überlegung ist für unsere Schulen auch praktisch nicht unerheblich. Ich erinnere mich noch heute an das Erstaunen einer ziemlich schwierigen Klasse von 39 Jungen (vor 35 Jahren), als ich ihnen erklärte, dass die Schulpflicht und viele Regelungen des Alltags mit grenzenloser Freiheit gar nichts zu tun hätten, sondern dass dies natürlich Einschränkungen der Freiheit seien, die in einem lang dauernden demokratischen Prozess entstanden seien.

Sie hatten geglaubt, meine Verteidigung unserer staatlichen Freiheit mit ihren alltäglichen als Zumutung empfundenen Pflichten widerlegen und damit für irrelevant erklären zu können.

Dieses Beispiel macht auch deutlich, dass die politischen Freiheiten, von denen Angela Merkel ausgegangen sein mag, noch etwas Anderes sind als die Befreiung von Tagesbedrängnissen.

Das Raffinierte oder Hintergründige an der rhetorischen Hervorhebung der Freiheit ist aber ein anderer Aspekt:

Die Gegenwart ist durch einen nahezu grenzenlosen, d. h. freien Austausch von Finanzen, Waren, Reisen und Informationen gekennzeichnet. So viel Freiheit haben sich weder die französischen Revolutionäre noch die Autoren der amerikanischen Verfassung noch die Mütter und Väter des Grundgesetzes vorstellen können. Es wird der Eindruck erweckt, als sei die Beseitigung aller von Menschen gemachten Hemmnisse, die der totalen Verfügung von Kapitaltransfer, Spekulation und Warenverkehr im Wege stehen, ein Freiheitskampf.

Die gründlichsten Denker des Libertarianismus - wir reden ja meist von Neoliberalismus -, nämlich Robert Nozick und Friedrich A. Hayek, haben dies auch so formuliert. Da in ihren Augen die abstrakte Freiheit des Marktes die höchste Form der Freiheit darstellt, ist ihm alles unterzuordnen. Sollten Menschen bei diesem Marktwirken den Kürzeren ziehen, so müssen sie es wie ein Naturgesetz ertragen. Denn nach Hayeks Auffassung sind "objektive Handlungshindernisse", die nicht auf einen menschlichen Willen zurückzuführen sind, nicht freiheitseinschränkend. Nach seinem Verständnis beschränken gesetzliche Regelungen die Freiheit, aber nicht der "Marktprozess und seine Ergebnisse".2

Das "mehr Freiheit wagen" von Angela Merkel steht in diesem gedanklichen und realen, die ganze Welt umspannenden Zusammenhang.

Es ist hier ein Freiheitsverständnis am Werk, das nicht den von allen akzeptierten Kampf gegen politische Unfreiheit meint, sondern ein wirtschaftliches Freiheitsdogma, dem allerdings die Annahme zugrunde liegt, der ökonomischen Freiheit folge jede andere Freiheit auch real.

Es kommt somit zum Vorschein, dass der am 30. November 2005 verwendete Freiheitsbegriff einen unbestrittenen - die politische Freiheit - und einen durchaus befragbaren Aspekt enthält. Denn natürlich ist nicht jede Vorschrift freiheitseinschränkend.

Das gesamte soziale Recht, die Mitbestimmungsregeln und die Vorstellungen von Gleichberechtigung, kultureller und politischer Teilhabe sind ihrer Idee nach Freiheitsrechte.

Eine Wirtschaftsordnung, die diese Rechte wahrzunehmen unmöglich macht, ist eigentlich freiheitsverhindernd, nicht umgekehrt.

Dies ist naturgemäß ein unbestimmtes Terrain. Die Areale in diesem Feld zu bestimmen, ist Aufgabe der politischen Tagesauseinandersetzung

 

Karikaturen und Toleranz

In der auffälligsten Auseinandersetzung der letzten Zeit geht es auch um freiheitliche Grundsätzlichkeit, im Streit um die so genannten Mohammed-Karikaturen. Abgesehen von den tagestaktischen Implikationen, dass Islamisten und korrupte Regime aus den gegensätzlichen Gründen ihr Süppchen kochen, kann man konstatieren: Hintergrund des Konflikts ist durchaus ein kultureller, nämlich der von Glaubensfreiheit, Toleranz und säkularer Welt einerseits und Glaubensgewissheit und Missionierungsanspruch andererseits.

Hierüber gibt es eine lange Auseinandersetzung. Historisch gesehen ist das ganze europäische Mittelalter der Kampf um den geistlichen Einfluss auf die Politik, von der Ämterbesetzung bis zur Lebensführung, von der jeweiligen rechtgläubigen Verrichtung ritueller Handlungen bis zur Ächtung falschen Denkens. Hegels Satz, die Weltgeschichte sei der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit, hat schon seinen tieferen Grund.

Aber ganz so einfach, wie wir Kinder Voltaires und Lessings, des Grundgesetzes und des Bildungsauftrags der Schule glauben, ist die Sache mit der Freiheit und der Toleranz gar nicht. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass allen monotheistischen Religionen begriffsnotwendig der Ausschließlichkeitsanspruch innewohnt. Juden, Christen und Muslime glauben, dass ihr Gott allmächtig, Schöpfer der Welt und der Menschen ist. Dies hat zur Folge, dass jeder gläubige Anhänger einer dieser Religionen glaubt, dass sein Glaube und sein Lebenswandel der einzige Weg eines gottgefälligen Lebens ist.

Der Anspruch der Aufklärung ist es nun nach 1700 Jahren christlicher Intoleranz, 3000 Jahren jüdischer Glaubensexklusivität und 1300 Jahren islamischer Letztsiegelbehauptung, dass sich die drei Religionen nicht gegenseitig anerkennen, sondern den Glauben des Anderen als existent respektieren. Es mag jeder nach seiner Fasson selig werden, meinte Friedrich II. von Preußen etwas flapsig und pragmatisch. Denn es geht um die Tolerierung des Glaubens, ohne in die Frage der Glaubenswahrheit einzutreten. Es ist gleichsam die Verbannung der religiösen Geltung aus den weltlichen Angelegenheiten. Wir nennen diesen Prozess auch Säkularisierung.

Dies kann man mit Nathans Ringparabel gut nachvollziehen. Die Probe der Belastbarkeit dieser Toleranz setzt erst in dem Moment ein, in dem Prinzipien und Werte des Staates und der säkularen Welt durch religiöse Forderungen tangiert werden. Im Kopftuchstreit ist das sichtbar aufgebrochen.

Ist das Kopftuch Ausdruck religiöser Selbstdefinition oder religiöser Anspruch auf die prinzipielle Minderwertigkeit der Frau? Wie weit reicht das Recht religiöser Gemeinschaften auf Respektierung ihrer Rituale und Tabus? Wird unser Verständnis von Meinungs- und Pressefreiheit nicht unzulässig berührt und eingeschränkt, wenn wir uns an das für Muslime geltende Abbild-Verbot für Mohammed halten sollen? Warum sollen bei uns die Satire und der Spott über den christlichen Glauben erlaubt, aber über den Islam verboten sein?

Wird unsere Auffassung von der Gleichberechtigung der Religionen nicht dadurch widerlegt, dass sich der Islam als das Siegel aller monotheistischen Religionen versteht, also als letzte und gültige Interpretation aller überlieferten Offenbarungen, auch der christlichen? Wie geht man mit der Behauptung des Islam um, den Djihad als berechtigt zu deklarieren, wenn jeder einzelne Imam seine eigene Interpretation der Anwendung des Koran hat?

Diese Fragen sind nicht nur auf den Straßen von Damaskus, Teheran oder Islamabad von Bedeutung, sondern können bei der religiösen Zusammensetzung unserer Schülerschaft in jedem Klassenzimmer aufbrechen.

Bevor über pädagogische Freiheit gesprochen werden kann, muss man die Bruchstellen unseres eigenen Freiheitsverständnisses aufsuchen.

Die religiösen Toleranz- und Freiheitsprobleme in aufklärerischer Absicht hat vor 150 Jahren wohl am Eindrücklichsten John Stuart Mill in seiner fundamentalen Schrift "On Liberty" durchdiskutiert. Sein durch und durch radikalliberales Konzept ist sehr modern. Er geht von der Annahme aus, dass die "Quelle alles Respektablen im Menschen als einem intellektuellen und moralischen Wesen ... die Korrigierbarkeit seiner Irrtümer" ist. "Er ist fähig, seine Fehler durch Diskussion und Erfahrung zu berichtigen".3

Dies ist die Sicht, von der abzugehen ich nicht raten kann.

Die Möglichkeit, dass man sich irren kann, dass auch die Position des Anderen etwas Wahres enthalten kann, darf niemand mehr aufgeben, wer sich für aufgeklärt hält. Spätestens mit Max Horkheimers und Theodor W. Adornos "Dialektik der Aufklärung" sind wir auch geschützt vor unangemessenen Sichtweisen einer selbstgerechten Aufklärung.4 Diese Überzeugung impliziert auch die politisch und intellektuell nicht hintergehbare Position, dass man zu einer Auffassung oder einem Glauben nicht gezwungen werden kann.

Dies schließt aber ein - und ich glaube, dass John Stuart Mill recht hat -, dass man sich seiner Argumente ständig neu versichern muss. "Wo es eine stillschweigende Übereinkunft gibt, dass Prinzipien nicht diskutiert werden sollen, wo Diskussionen der höchsten Fragen, die die Menschheit beschäftigen können, als abgeschlossen gilt, da können wir nicht hoffen, das hohe allgemeine Niveau geistiger Aktivität zu finden."5 Die Quintessenz ist: "Wenn die Pflege des Verstandes in etwas mehr als in allem anderen besteht, dann sicherlich darin, dass man Gründe der eigenen Meinung lernt."6

Diese Maxime gilt auch für den Umgang mit der eigenen Religion oder Weltanschauung.

In unserer konkreten aktuellen Situation hieße das, dass man den Anspruch jeder Religion, die einzig wahre und richtige zu sein, für den Träger einer Religion nicht bestreiten sollte, sich aber scharf gegen die Unterstellung wehren muss, dass man selber damit automatisch ungläubig ist und deshalb Objekt von Aggressionen sein darf. Dieses Argument gilt unanhängig davon, ob man einer Religion anhängt oder nicht. Umgekehrt: "Wenn Christen die Ungläubigen lehren wollen, gerecht gegen das Christentum zu sein, so sollen sie selbst gegen den Unglauben gerecht sein."7

Die Substanz unseres Freiheitsverständnisses ist nicht die Gleichgültigkeit gegenüber vorgetragenem Unsinn. Aber es ist die Pflicht zu immer neuer Begründung.

 

Neurophysiologische Einsprüche

Der seit einigen Jahren schärfste Angriff auf die Freiheit wird von einigen Neurophysiologen vorgetragen. Mit dem Hinweis darauf, dass vor jeder menschlichen Entscheidung, die man sich einbildet, frei zu fällen, bereits Aktivitäten im Gehirn feststellbar sind, wird behauptet, es gebe überhaupt gar keine freien Entscheidungen, mithin auch keine Freiheit. Alles sei gleichsam neurophysiologisch und damit mit naturwissenschaftlichen Methoden nachweisbar vorbestimmt.

Was schon in der Determinismusdebatte des 19. Jahrhunderts klar geworden war, taucht hier natürlich auch wieder auf: Wenn alles determiniert ist, gibt es keinen freien Willen. Wenn man aber beispielsweise gar nicht entscheiden kann zwischen gut und böse, dann wäre man für eine böse Entscheidung auch gar nicht verantwortlich.

Die Folgen für die Rechtsprechung wären unabsehbar, denn man dürfte weder einen Mörder noch einen Dieb bestrafen, denn er wäre für seine Tat nicht verantwortlich.

Auch die Theologen hätten nichts mehr zu tun, denn wenn ein Christenmensch etwas Böses täte, wäre es nach neurophysiologischer Auffassung so determiniert, dass kein Spielraum für Gottes Gnade oder Gottes Wohlgefallen wäre. Eigentlich wäre Gott unmittelbar für alles verantwortlich und die Kirche funktionslos. Ich weiß natürlich, dass man aus der Existenz der Kirche nicht auf die Notwendigkeit der Kirche schließen kann.

Und für die Pädagogen wäre das Geschäft nahezu aussichtslos. Denn wenn die Schwierigkeit, etwas vermitteln und besser lernen zu wollen und zu sollen, oder die Unlust zu lernen, neurophysiologisch determiniert und sie zu überwinden einer freien Entscheidung nicht zugänglich sind, könnte man eigentlich die Schule abschaffen.

Gegen die Position dieser Neurophysiologen sind erhebliche Einwände von Philosophen, Theologen und Kulturwissenschaften vorgetragen worden. Sie sind pragmatischer und grundsätzlicher Natur.

Pragmatisch ist der Hinweis, dass sich alle Menschen in ihrer Alltagspraxis so verhalten, als ob sie einen freien Willen hätten, und dass es deshalb geradezu gefährlich sein könnte, sich aus dieser Übereinkunft zu lösen. Ein Pädagoge kann, ohne auf prinzipielle oder gar die Gottesfrage eingehen zu müssen, darauf verweisen, dass der Aufbau neuronaler Netze im Gehirn und damit die Konstituierung einer Person, nicht nur ein neurophysiologischer Prozess sei, sondern eine Person sich durch aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt und den Symbolen wie Sprache und Zeichen bilde. Es existiere daher genügend Spielraum für pädagogische Entscheidungen, auch wenn man nicht genau wisse, wie es im Gehirn im Detail zugehe.

Grundsätzlich ist der Hinweis, dass der experimentell nachweisbare Vorlauf von Gehirnaktivitäten vor der Bewusstwerdung nicht bedeuten müsse, dass ein kausaler Zusammenhang inhaltlicher Art bestehen müsse. Und sogar Kant kann man mit der Überlegung heranziehen, dass allein die Tatsache, dass ich real entscheiden kann, ob ich nach Italien oder Spanien fahre, oder ob ich ein Geheimnis verraten soll oder nicht, Kriterien voraussetzt, die gar nicht materieller Natur sein können. Mein Selbst beruft sich auf ein Prinzip oder Gesetz, nach dem ich mich richten will.8 Das ist, ins Griechische übersetzt, Auto-Nomie. Gleichwohl kommt die neurophysiologische Forschung heute an Fragen heran, die im Determinismusstreit noch keine Rolle spielen konnten.

Im Deutschen Theater am Schiffbauerdamm in Berlin wurde "Die Schändung" von Botho Strauß aufgeführt. Der Regisseur Thomas Langhoff lässt in einer Szene einen Neurophysiologen auftreten, der einer Frau Bilder zeigt, auf der diese in scheußlichste sexuelle und sadistische Situationen verwickelt ist. Die Frau sagt, sie habe so etwas nie getan oder erlitten. Der Arzt antwortet, er hätte aus ihren gemessenen Hirnströmen diese Bilder gewonnen.

Dass so etwas nicht theatralische Übertreibung ist, bestätigt indirekt der Mainzer Philosoph Thomas Metzinger, wenn er sagt: "Es könnte möglich werden, dass man in Zukunft eine antisoziale Persönlichkeitsstörung bereits vor der Pubertät mit einem Hirnscanner diagnostizieren kann."9

Man kann sich gut vorstellen, dass alle grausigen Szenarien, die wir vor Jahrzehnten an Orwells "1984" oder Huxleys "Schöne neue Welt" diskutiert haben, wieder neu aktuell werden.

Neurophysiologen geben keine Antwort auf die Frage, nach welchen Grundsätzen wir unser Leben gestalten wollen. In unserem Beispiel: Wer nach welchen Grundsätzen entscheidet, und was wir scannen, was verboten oder was erlaubt ist?

Es gibt keine neuronalen Determinanten, die das Denken in Alternativen ausschlössen und Regeln und Prinzipien produzieren. Julian Nida-Rümelin resümiert seine nachlesenswerten Essays "Über menschliche Freiheit" daher gut nachvollziehbar mit dem Satz: "Da menschliche Freiheit nichts anderes ist als die naturalistische Unterbestimmtheit unserer Handlungs- und Urteilsgründe, kann diese Form der Freiheit nach dem heutigen Stand der Wissenschaft nicht als widerlegt gelten."10

Weil politische Freiheit kein Zustand, sondern ein Prozess ist, weil man zur Abwehr von Unfreiheit sich ständig seiner Handlungs- und Urteilsgründe neu versichern muss (Mill, Habermas) und weil die Neurophysiologen die Freiheit brauchen, um die Abwesenheit von Freiheit behaupten zu können, ist es umso wichtiger, sich seiner tragenden Lebensgründe bewusst zu werden und zu sein.

Das verlangt, in demokratischen Zuständen noch mehr als anderswo, die Fähigkeit zum begründeten Urteil, das sich an anderen Gründen messen lassen muss. In diesem Sinne ist die Urteilskraft, wie Hannah Arendt zu Recht gesagt hat "die Hüterin der Freiheit".11

 

Pädagogische Freiheit

Ich möchte den Umfang der pädagogischen Freiheit in diesen Überlegungen nicht eingegrenzt sehen auf die juristischen Formulierungen der Schulgesetze, die in der Regel auf die methodische Eigenverantwortung der Lehrenden im Rahmen der gesetzlichern Vorschriften abheben. Lehrerinnen und Lehrer sowie Schulleitungen und Schulaufsicht sind als Vertreterinnen und Vertreter des Staates (oder eines anderen Schulträgers) einschränkenden verbindlichen Rahmenbedingungen unterworfen - vom Grundgesetz über das Schulgesetz und Organisationserlasse bis hin zu inhaltlichen Lernvorgaben.

Mit Ausnahme der in der Verfassung geschützten Grundrechtspositionen und der allgemeinen Zweckbestimmung der Schule ist nichts zwingend notwendig. Als vor 25 Jahren der damalige Niedersächsische Kultusminister Werner Remmers die "erlassfreie Schule" propagierte, ging ein ungläubiges und staunendes Raunen durch das interessierte und betroffene Publikum. Niemand konnte sich das richtig vorstellen. Erst als in den 1990er Jahren eine Debatte um die Effizienzsteigerung in Wirtschaft und Verwaltung einsetzte (Stichworte: flache Hierarchien und dezentrale Verantwortung), gab es neuen Diskussionsspielraum.

Wirklich durchgreifende politische Entscheidungen geschehen meistens auf finanziellen Druck. Deswegen müssen sie nicht falsch sein, was in Lehrerkreisen gern automatisch unterstellt wird.

Der Umgang mit Menschen bedarf allerdings darüber hinaus noch anderer Rücksichten als es in der Wirtschaft üblich ist. Fehlerhafte oder zu langsame industrielle Produktionsprozesse bringen unter Umständen Ausschuss hervor. Die Korrektur erfolgt nach rationellen und präzisen Vorgaben. Einen jungen Menschen, der nicht das gelernt hat, was er sollte oder könnte, als "Ausschuss" zu bezeichnen und zu behandeln verbietet unser humanes Selbstverständnis.

Wenn wir akzeptieren, dass in der Politik, in der Juristerei, in der Medizin und im Wirtschaftsprozess immer neu begründet und entschieden werden muss, wie ein Problem bei gegebenen Voraussetzungen gelöst werden kann, dann doch erst recht in der Pädagogik. Gelingende Pädagogik - also Lehren und Lernen -, kann nichts anderes sein als der angemessene Gebrauch der Freiheit. Das Wesentliche ist: Wer Freiheit nicht nutzt, vermehrt sie nicht, sondern schränkt sie ein - für sich und für andere. Freiheit zu nutzen heißt aber automatisch Verantwortung zu übernehmen.

Diese unumgänglichen Freiheitsräume kann man durch kleinkarierte Schulaufsicht und ängstliche organisatorische Vorgaben genauso einschränken wie durch antiintellektuellen Hinweis auf einen Stoff, den man noch durchnehmen müsse.

Erstmals systematisch ist über größere Freiräume in staatlichen Schulen in der Nordrhein-Westfälischen Denkschrift "Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft" im Jahre 1995 nachgedacht worden.12

Erste vorsichtigen Schritte der Verwaltungsreform mit der Übertragung von Kompetenzen auf die Schulen sowie die Debatte über erweiterte Verantwortlichkeiten unter Einschluss von Schulprogrammen hatte ich in Niedersachsen noch zu meiner Amtszeit als Kultusminister 1996/97 eingeleitet.13

Die PISA-Untersuchungen haben gezeigt, dass offenbar die Art des Lernens in Deutschland defizitär ist, so dass sich weder emotionale Zufriedenheit noch intellektuelle Leistungsfähigkeit einstellen können.

Wenn Freiheit nichts anderes ist, wie wir bei Kant, Mill und Nida-Rümeli gesehen haben, als die gelernte und selbstverständliche Fähigkeit, mit revidierbaren Gründen leben zu können und zu wollen, dann wäre es die vornehmste Pflicht, alle Menschen dies lernen zu lassen, und zwar im Elternhaus, im Kindergarten, in der Schule, der Hochschule, im Beruf und in der Freizeit.

Die in ganz Deutschland eingeleitete Reform der Schulen, die einerseits durch die Formulierungen von Lernstandards und andererseits durch die Übertragung von bisher nicht für möglich gehaltenen Entscheidungsfreiräumen gekennzeichnet ist, ist eine Herausforderung und Chance für Inanspruchnahme verantworteter Freiheit.

Es wäre für jede Bildungseinrichtung, also auch für ein Studienseminar, von elementarer Wichtigkeit, nicht nur auf professionelle Unterrichtstechnik und didaktische Reduktion zu achten - beides ist und bleibt unbedingtes Pflichtprogramm -, sondern auch auf den strengen vernunftgeleiteten und begründeten Umgang mit der Freiheit. Denn das erst schafft die Voraussetzung für die Beantwortung der Frage von 1946, ob denn Freiheit zu revolutionären Zuständen führen müsse. Freiheit, so ist die Antwort, ist nicht Willkür, sondern an begründeten Prinzipien orientiertes verantwortetes Handeln.

 

Anmerkungen

  1. Vortrag aus Anlass des 60-jährigen Bestehens des Studienseminars für das Höhere Lehramt Göttingen am 14. Februar 2006 in Göttingen.
  2. Die politische Theorie des Libertarianismus. Robert Nozick und Friedrich A. von Hayek, in: Brodocz, Andre / Schaal, Gary S. (Hg.): Politische Theorien der Gegenwart I, Opladen 2002, S. 96.
  3. Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 2003.
  4. Mill, John Stuart: Über Freiheit, Frankfurt a. M. 1987, S. 28.
  5. Ebd., S. 44.
  6. Ebd., S. 45.
  7. Ebd., S. 63.
  8. Höffe, Otfried: Der entlarvte Ruck. Was sagt Kant den Gehirnforschern?, in: Hirnforschung und Willensfreiheit, hrsg. v. Christian Geyer, Frankfurt 2004, S. 177ff.
  9. FOCUS Nr. 6, 2006, S. 89.
  10. Nida-Rümelin, Julian: Über menschliche Freiheit, Stuttgart 2005, S. 171.
  11. Schnädelbach, Herbert: Nur im Einzelfall, in: Frankfurter Rundschau, 10.2.2006.
  12. Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft. Denkschrift der Kommission beim Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Neuwied 1995.
  13. Schulentwicklung - Schulprogramm und Evaluation, hrsg. v. Niedersächsischen Kultusministerium, Hannover 1997.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/2006

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