'Wenn dein Kind dich morgen fragt ...' - Dialoge zwischen Konfirmanden und alten Menschen in einem Besuchsprojekt

von Stephan Schaede
 

Religiöse Hintergründe und ihre Provokation für das generationsübergreifende Gespräch in der Gemeinde

Wenn dein Kind dich morgen fragt ... Der Hinweis, dass das Kirchentagsmotto Hannover 2005 auf das 5. Buch Mose anspielt, ist trivial. Weniger trivial sind die Hintergründe dieser Anspielung. Man war nämlich so kühn, für den Kirchentag 2005 einen der zentralen Texte jüdischer Religionspraxis zum Motto zu machen.
 

5. Mose 6,25 und der Sederdialog
Dieser Text ist in der "Gründungslegende und ‚Urszene’ ... für die ‚Erinnerungskultur’" der jüdischen Religion verwurzelt.1 Als einst auf Betreiben des Königs Josia der baufällige Tempel zu Jerusalem ausgebessert wurde, zog der Hohepriester Hilkia aus den Trümmern der Baustelle ein Buch der Thora (sefer hattora). Als dem König daraus vorgelesen wurde, zerriss er seine Kleider. Denn in dem Buch stand, wie das Zusammenleben von Menschen Würde gewinnt und wie sehr dies mit Gott zu tun hat. Das alles war mit dem Buch im Allerheiligsten selbst verschüttet worden. Der König war schockiert. Er und sein Volk hatten vergessen, was darin notiert war, vergessen, worauf es im Leben mit Gott ankam. Nun war das Buch der Thora, das Hilkia entdeckte, nichts anderes als das Deuteronomium. Das Deuteronomium ist das Vermächtnis des Mose an Israel. Eine literarische Fiktion lässt in diesem Buch Mose vor den Zeitzeugen des Auszugs aus Ägypten auftreten. Er mahnt sie, die "Gebote, Zeugnisse und Satzungen", die Gott ihnen anvertraut habe, nicht mehr zu vergessen. Die Bedeutung des Erinnerns2 soll sich in das Gedächtnis des Volkes eingraben. Vergessen hat fatale Folgen für die Zukunft. Deshalb nennt das "Buch nicht weniger als acht verschiedene Verfahren kulturell geformter Erinnerung".3

Drei zentrale Verfahren sind

  • die schriftliche Fixierung religiöser Einsichten von kanonischem Rang,4
  • die Kommunikation religiöser Überzeugungen und Erfahrungen zwischen den Generationen.5
  • sowie die Erinnerung durch Feste, welche zentrale Ereignisse der Geschichte des Volkes mit Gott vergegenwärtigen.
     

Alle drei Formen kommen im Passafest zusammen. Das Fest erinnert an den Auszug aus Ägypten. Entsprechende Texte aus der Thora werden verlesen. Und die Frage aus 5.Mose 6,20 wird im Ablauf des Festes selbst an entscheidender Stelle als Eröffnung eines Gesprächs zwischen den Generationen aktualisiert.

"Wenn dich nun morgen dein Sohn fragen wird ..." ist also erheblich mehr als ein Zitat aus einem bedeutsamen Kapitel der eigenen Religionsgeschichte. Diese Worte funktionieren anders als die Weihnachtsgeschichte bei Christen. "Wenn dich nun morgen dein Sohn fragen wird ..." ist vielmehr eine Handlungsanweisung. Und sie bleibt, so alt sie ist, hochaktuell.

Das Judentum hält mit dieser Handlungsanweisung eine religiöse Kultur der Frage wach. Das Kind – der Sohn – fragt wenigstens einmal im Jahr den Vater. Am Abend vor dem Passafest ist es so weit.

Wer es plastisch liebt, vertiefe sich in den 1998 erschienen Roman "Zwei Hochzeiten und ein Pessachfest" von Allegra Goldmann. Unter der Kapitelüberschrift "Die vier Fragen" taucht man in die Welt des sogenannten Sederdialogs ein, also in jene Welt, die 5.Mose 6,20 nicht zu einem bloßen Zitat verkommen lässt. Es ist der Vorabend zum Pessachfest in einer amerikanischen jüdischen Familie. Aus allen Teilen der Staaten sind Tanten, Onkels, Neffen, Nichten, Enkel und Großeltern eingetroffen. "Ed", der Familienvater, ist derjenige, der jedes Jahr die Sedertexte vorträgt. Die Verwandten "Sol und Estelle sind sehr angetan davon, wie er das macht, schon weil er soviel weiß. Eds Spezialgebiet ist der Nahe Osten, und daher zieht er Parallelen zwischen Pessach und Gegenwart ... ‚Wir begehen heute das Fest der Befreiung’, sagt Ed, ,ein Fest zur Erinnerung an die Erlösung aus der Knechtschaft’." Er hält ein Stück Mazze hoch und zitiert aus der revidierten Übersetzung der Haggada".6 Die kommentierte Textlesung durch den Familienvater nimmt ihren Lauf. "Wir essen diese Mazze, damit wir nie vergessen, was Gefangenschaft ist, und damit wir uns auch weiterhin hineinversetzen können in die notleidenden Völker überall auf der Welt ... wir denken an das kriegsgeschüttelte Israel und beten um Kompromisslösungen." Rituale stehen als solche nicht schon für eine vitale Erinnerungskultur ein. Auch daraus macht der Roman kein Hehl. Neben Augenblicken, die allen Feiernden unter die Haut gehen, stehen Phasen ritualbedingter Abschweifung. So muss Ed die geistesvergessenen Enkel Ben, Amy und Avi aufrütteln. ",Wenn dich nun morgen Dein Sohn fragt ... nun ist es Zeit für die vier Fragen’, sagt er in scharfem Ton. Und setzt mit Rücksicht auf Amy hinzu: ‚Das jüngste Kind wird die vier Fragen vortragen.’... Amy ... liest: ‚Warum unterscheidet sich diese Nacht von allen andern Nächten? An gewöhnlichen Abenden essen wir gesäuertes Brot; warum essen wir an diesem Abend Mazze? An gewöhnlichen Abenden essen wir die verschiedenen Kräuter; warum an diesem Abend nur bittere? An gewöhnlichen Abenden tunken wir überhaupt nicht ein; warum an diesem Abend gleich zweimal? An gewöhnlichen Abenden essen wir entweder aufrecht sitzend oder bequem ausgestreckt; warum lagern wir uns an diesem Abend alle auf die Ruhekissen?’"7 Ed fordert Avi auf, den Text auf Hebräisch zu wiederholen, bei Tisch wird gestritten, ob die Bitterkräuter durch "Petersilie" oder "nur irgendein Grüngemüse" ersetzt werden dürfen. Und dann steigt die Spannung, wenn Ed darauf aufmerksam macht, dass die Haggada vier verschiedene Kinder ins Feld führt, "das weise, das verstockte, das einfältige und das, das nicht weiß, was es fragen soll". Also "den aufgeschlossenen Typus, den desinteressierten, den kontaktarmen und den angepassten".8 Und dann heißt es: "Soviel also zum Sederdialog."

Ja, soviel zum Sederdialog ...

 

Auf der Suche nach einer Fragekultur bei Christinnen und Christen
Gibt es bei Christinnen und Christen eine entsprechende Fragekultur? Eine praktisch orientierte Antwort auf diese Frage darf nicht in einer unreflektierten Adaption jüdischer Traditionen in die christliche Religionspraxis münden. Die christliche Erinnerungskultur fällt nicht mit der jüdischen zusammen. Das Chris-tentum kann nicht wie das Judentum auf eine gemeinsame wechselvolle Geschichte dieser Art zurückblicken, kann nicht in gleicher Weise die Kirchengeschichte als Geschichte Gottes mit
seinem Volk lesen. Sederfeiern im vorösterlichen Grundschulunterricht, inszeniert von christlichen Unterrichtenden, sind hochproblematisch, weil sie jüdische Praxis für das Christentum vereinnahmen.9

Deshalb noch einmal die Frage: Wo hat in der christlichen Religionspraxis jene Fragekultur ihren Ort, die das religiöse Gespräch zwischen den Generationen belebt und für die Zukunft zentrale Erinnerung wach hält? – Die christliche Praxis kennt durchaus Verfahren der Erinnerung durch Feste und Texte. Man sollte sich hüten, den Weihnachtsbaum verächtlich zu machen. Vielleicht wird ja unter dem Weihnachtsbaum hier oder dort – einmal im Jahr – die Weihnachtsgeschichte nach Lukas 2 vorgelesen. Und erst recht pflegt die Gottesdienstkultur das religiöse Gedächtnis der Christinnen und Christen durch Lesungen in Sonntags- und Kasualgottesdiensten. Aber Fragen, eine Kultur der religiösen Frage und des Gesprächs – so etwas gibt es weder unter dem Weihnachtsbaum noch bei Tisch. Auch nicht in der Kirche, wo die predigende Person unter Einsatz all ihrer rhetorischen Fähigkeiten Fragen exponieren mag, die womöglich ihr hörendes Gegenüber gestellt haben könnte, stellen sollte, oder gar in der Tat stellen wird ...

Wo wird im Christentum gefragt? – In der Schule und im Konfirmandenunterricht? Ja, das ist wahr. Aber ist es evangelisch, wenn sich die Fragen allein an das religionskundige Lehrpersonal richten? Wird da nicht die christliche Erinnerungskultur hinter die Mauern professioneller Bildungs- und Gebetsstätten verbannt? Wo vor allem – und das ist ja die Pointe von 5.Mose 6,20 – fragen
Kinder und Jugendliche ihre Eltern oder gar ihre Großeltern generationsüber-greifend nach ihrem Glauben? Das ja erst würde die christliche Religionskultur zu einer generationenübergreifend lebendigen (Frage)kultur machen.

Wenn dein Kind dich morgen fragt – "wenn’s mal so wäre" ... Und zugleich fürchtet sich so mancher Vater und manche Mutter vor diesen Fragen. Religiöse Fragen sind erschreckend direkt und sehr persönlich. Was soll man da antworten?

Wenn dein Kind dich morgen fragt ... Um es abschließend deutlich zu sagen: Wenn Interesse an einer religionspädagogisch verantworteten Aufnahme der religiösen Grundidee dieser Worte besteht, geht es nicht um wohlvorbereitete Grundsatzgespräche bei angezündeter Kerze am runden Tisch. Es geht darum, selbstverständliche Gelegenheiten und Gegebenheiten aufzusuchen oder zu eröffnen, in denen sich solches Fragen natürlicherweise ergeben kann.

Das im folgenden skizzierte Konfirmandenprojekt versucht dies, indem Konfirmandinnen und Konfirmanden für ein ganzes Jahr regelmäßig einen alten Menschen in ihrer Umgebung besuchen, mit ihm etwas unternehmen und ins Gespräch kommen – in ein Gespräch über Alltag, Leben und Glauben.

Angesichts der soeben skizzierten Hintergründe haben vor allem drei Motive über die Ausgestaltung des Projektes entschieden.

Ein generationsübergreifendes Gespräch sollte etablierte werden, sich durch praktische Erfahrungen ein eingeschränktes Bild vom alten Menschen auflösen, und zugleich mit der dem Bewusstsein der Konfirmanden entschwundenen Eigenart diakonischer Praxis als Glaubenspraxis bekannt gemacht werden.

 

Der alte Mensch

Überraschenderweise ist der alte Mensch in der neutestamentlichen Literatur nicht zentrales Thema theologischer Reflexion. Nur an drei bedeutsamen Stellen ist vom "Altsein" im strengen Sinne des Wortes die Rede (Es handelt sich um den griechischen Stamm gerao und seine Ableitungen).10 In Lk 1,36 verweist der Engel die über ihre Schwangerschaft verblüffte Maria auf ihre Verwandte Elisabeth, die auf ihre alten eigentlich bereits unfruchtbaren Tage doch noch ein Kind erwartet. In Joh 3,4 interessiert sich der Pharisäer Nikodemus in einem nächtlichen Gespräch mit Jesus für die Frage, "wie ... ein Mensch von neuem geboren werden" kann, "wenn er alt ist". Und in Joh 21,18 warnt Jesus Petrus vor dessen Todesschicksal mit den Worten: "wenn du aber alt wirst, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hin willst ..." Die übrigen Belege beziehen sich auf den Presbyter als institutionalisierte Leitungsfigur.11

Der klassische Bestand evangelischer Sozialethiken und Anthropologien spiegelt diese Beobachtung am Neuen Testament nur zu sehr. Der alte Mensch wird keiner eigenen Verhandlung gewürdigt. Er interessiert erst, wenn er stirbt und der Tod zum Thema des christlichen Ethos wird. Immerhin führt die Neuausgabe des Evangelischen Soziallexikons einen ausführlichen Artikel "Alter".12 Ein Umbruch grundsätzlicher Natur steht offenbar vor der Tür. Die Synode der EKD 2005 wird das Alter zum Thema machen.13

Man kann der kirchlichen Praxis kaum vorwerfen, sie sei altenvergessen. Altenkreise, Geburtstagsbesuche, kirchliche Pflege- und Altenheime, diakonisch ambulante Betreuung und dergleichen mehr signalisieren, dass die alten Menschen längst schon an die Seite der biblischen Witwen und Waisen gerückt sind, die besondere diakonische Aufmerksamkeit verdienen. Das allein allerdings unterschätzt das Potenzial alter Menschen. Hans Thomae hat völlig zu Recht beklagt, "die gesellschaftliche Bewertung der Kompetenz Älterer" entspreche "in keiner Weise ihren realen Fähigkeiten".14

Wenn dein Kind dich morgen fragt – Es muss ja nicht gleich von Honoratioren15 die Rede sein. Aber die einstmals von Weber benannte Kompetenz alter Menschen gehört generationenübergreifend auch in Kirchengemeinden neu wahrgenommen.

Es ist schädlich, die Würde eines alten Menschen auf den achtsamen Umgang mit seiner mehr oder weniger intakten Physis und dem reduzierten Zustand seines Intellektes zu beschränken. Das ist unchristlich und aus Sicht einer anthropologischen Phänomenologie dilettantisch.16 Jeder, der mit alten Menschen intensiver zu tun hat, weiß, dass die Emotionen blutjung bleiben – der Seelenhaushalt eines über 90-jährigen unterscheidet sich kaum von dem einer 18-jährigen Teenagerin, wenn es um die zentralen Themen sex and crime geht. Gerade auch das, wie nachher zu zeigen sein wird, macht alte Menschen für Jugendliche interessant.

Unübertroffen jedoch beherrschen alte Menschen das Themengebiet "Tradition". Dabei ist an etwas mehr als das Deutschlandlied und Psalm 23 zu denken: alte Gesellschaftsspiele, wie man früher lebte, aß und schlief, Heu machte oder eine Straße in den Berg sprengte, Ostern und Konfirmation feierte ... Auch das macht sie zu interessanten Gesprächspartnern. Als solche sollten sie wiederentdeckt werden, und zwar nicht nur von ihresgleichen und Angestellten von "Essen auf Rädern", sondern von Mitmenschen anderer Generationen.

Freilich muss der Zugang von Jugendlichen zu alten Menschen schrittweise angebahnt werden. Denn wenn Konfirmanden ihre Eltern bereits mehr oder weniger liebevoll "Alte" bzw. "Alter"17 nennen, so sind für sie Menschen jenseits der 65 in der Tat uralt.

Die Konzeption des Konfirmandenunterrichtsprojektes hat darauf Rücksicht zu nehmen, wenn es im Kontext des Themenfeldes "Kirchengemeinde und Diakonie" mit Konfirmanden auf alte Menschen zugeht. Nur – was besagt das Wort Diakonie für einen Konfirmanden im Jahr 2004?

 

Diakonie

Um es gleich klar zu stellen: Diakonie – das Wort sagt keinem Konfirmanden überhaupt irgendetwas. Wird etwa das weiße Kronenkreuz auf himmelblauem Grund DIN A2 in noch so guter Qualität in die Mitte eines Stuhlkreises gelegt, so ist ein immer wieder zu hörender Kommentar: "Sieht aus wie ein Kreuz mit Pobacken ..." Im Konfirmandenunterricht gehört die "Diakonie" aus diesem symbolmuffigen Schattendasein in das Rampenlicht christlicher Glaubenspraxis hinausgerückt. Mit einer vierstündigen Einheit Diakonie, die der Situation behinderter, armer, drogensüchtiger, suchender und schuldig gewordener Menschen in einer mehr oder weniger gut bebilderten und durch Rollenspielen aufgelockerten Abfolge von Methodenschritten nachspürt, ist es nicht getan.

Denn Diakonie ist zentraler Bestandteil christlicher Glaubenspraxis. Der griechische Ausdruck diakonein bedeutete im Profangriechisch zunächst einmal bei Tisch Speisen und Getränke anzureichen, kann dann aber auch einfach meinen, für den Lebensunterhalt von Menschen zu sorgen. Das Christentum hatte von seinem Ursprung her diese diakonischen Dienste in der Nachfolge Jesu Christi geadelt (Gal 5,1). Im Zeichen des Doppelgebotes der Liebe erweiterte sich das Spektrum möglicher diakonischer Dienstleistungen erheblich. Wer glaubt, der hilft selbstverständlich: von der elementaren Versorgung mit Nahrung über Hilfestellungen im Alltag bis zur Mitarbeit in christlichen Gemeinden. Mitmenschen zu helfen, entspricht nach christlicher Überzeugung dem Menschen. Nun ist Diakonie glücklicherweise kein lebenspraktisches Desiderat. Es gibt neben der haupt- und ehrenamtlichen Diakonie der verfassten Kirche eine Art Alltagsdiakonie in Familien und Nachbarschaft. Das zeigt sich etwa, wenn Konfirmandinnen und Konfirmanden entsprechende Umfragen konzipieren und auswerten. Eben die Entwicklung solcher Umfragen sensibilisiert Jugendliche für das Thema – sehr viel mehr als die Unterbreitung künstlich akkumulierter Problemlandschaften, die katastrophenpädagogisch wachrütteln wollen.18 Man ahnt den moralinsauren Zeigefinger und ist verstimmt. Besser ist, wenn die Mädchen und Jungen im Zuge der Umfrage realisieren: Menschen wird immer schon von Menschen geholfen – es darf freilich immer etwas mehr sein. Eben diese evangelische Ermunterung kann im Konfirmandenunterricht unter dem Stichwort "Einheit Diakonie" firmieren. Es liegt auf der Hand, in dieser Einheit den Unterrichtsraum zu verlassen. Denn Helfen macht Spaß! Das aber kann man nur erfahren.

 

Das Projekt

Die Projektidee
Die Idee des Projektes besteht darin, Konfirmandinnen und Konfirmanden Patenschaften zu übertragen. Für ein Jahr sollen sie regelmäßig mindestens alle 14 Tage einmal einen alten Menschen, ihr "Patenkind", in ihrer Umgebung besuchen. Diese Patenschaft verfolgt drei Intentionen. Erstens werden alte Menschen von Jugendlichen besucht, und das viel länger und öfter, als es einer Pfarrerin oder einem Pfarrer möglich wäre. Bei einer Laufzeit über mehrere Konfirmandenjahrgänge hinweg ist dies auch ein elementarer Beitrag zur Verbesserung der Strukturen einer Kirchengemeinde. Zweitens führen diese Besuche zu einem generationenübergreifenden Gespräch. Menschen erfahren wechselseitig etwas von ihrem Leben, ihren Fragen und ihrem Glauben. Drittens lernen die Jugendlichen intensiv kennen, was Diakonie bedeutet. Das Verhältnis von Glaubenskatechese und Diakonie gewinnt so während ihrer Konfirmandenzeit allein schon vom zeitlichen Gewicht her eine neue angemessenere Proportion.

 

Was auf die Unterrichtenden zukommt
Das Projekt kann nur dann Erfolg haben, wenn die Unterrichtenden in der Gemeinde gut zu Hause ist. Denn es hängt alles davon ab, dass die Beziehungskonstellationen stimmen. Selbst wenn man die besuchten alten Menschen gut kennt, kommt es nicht zuletzt aufgrund des jugendlich gebliebenen Emotionshaushaltes alter Menschen zu sehr positiven und selten zu negativen Überraschungen.

Vorbereitung und Hinführung zum Projekt kosten mit Abstand die meiste Zeit. Vor allem in den vier Wochen vor Beginn des Projektes ist mit persönlichen Feinregulierungen und etlichen Telefonaten zu rechnen. Ist das Besuchsprojekt aber einmal angelaufen, wird es zum Selbstläufer. Der Zeitaufwand hält sich insgesamt in einem gut zu verkraftenden Rahmen.

 

Wie sich Jugendliche und alte Menschen finden
Es gehört zum diakonischen Lernprozess, dass die Unterrichtenden den Konfirmandinnen und Konfirmanden ihre "Alten" nicht vorsetzen. Vielmehr ist es bereits ein Moment des durch das Projekt initiierten Entdeckungs- und Lernprozesses selbst, dass die Jugendlichen sich fragen: Welcher alte Mensch wohnt eigentlich in meiner Umgebung? Sie sollten sich also ihre "Alten" selber suchen. Erst wer alleine nicht fündig wird, bekommt vom Unterrichtenden einen Vorschlag unterbreitet. Die älteren Menschen sollten mindestens 65 Jahre alt sein. Alleinstehende Menschen werden bevorzugt. Großeltern, Großtanten und -onkels oder sehr gute Bekannte sollten jedoch nicht zum Adressaten der Besuche werden. Nachbarn, die keine guten Freunde der Eltern oder Großeltern sind, kommen dagegen durchaus in Frage.19 Dass die Mädchen und Jungen keine Verwandte zu ihrem Besuchspatenkind machen dürfen, hat einen einfachen Grund: Die relative Fremdheit zwischen einem jungen und einem alten Menschen eröffnet andere Gesprächsdimensionen. Einem Enkel meint man vielleicht etwas vormachen zu müssen. Diese Nötigung fällt bei einem fremden Kind fort. Die relative Fremdheit im Privaten ermöglicht gerade auf dem Feld der Glaubens- und Lebensfragen einen erstaunlich offenherzigen Austausch.

Die organisatorischen Vorgaben für die Besuche sind knapp gehalten. Klar vereinbart wird die Kalenderwoche, in der die Besuche beginnen und die Kalenderwoche, mit der sie ihren Abschluss finden können – aber nicht müssen. Es wird allen Beteiligten gesagt und schriftlich mitgeteilt, dass die Konfirmanden ihre Paten mindestens alle 14 Tage besuchen – und das jeweils für eine gute Stunde. Als Tageszeit wird grundsätzlich nachmittags vereinbart (Schuleschwänzen als mögliche Gefahr). Bei persönlichen oder organisatorischen Schwierigkeiten kann jederzeit das Pfarramt vertraulich informiert und eingeschaltet werden. Es muss allen Beteiligten immer wieder gesagt werden, dass hier Scheitern sehr menschlich ist.

Falls sich Konfirmandin bzw. Konfirmand und alter Mensch noch nicht kennen, wird ein Kennenlernbesuch vereinbart, nach dem entschieden wird, ob die Patenschaft von beiden Seiten akzeptiert wird. Bei dem Kennenlernbesuch sollten die Unterrichtenden nicht dabei sein, da dies die Kontaktaufnahme verzögern und verzerren würde. Die Unterrichtenden können den Besuch aber "einfädeln".

Vertrauen ist gut, Kontrolle in keinem Falle besser – man sollte nicht ständig fragen, ob die alten Menschen auch regelmäßig besucht werden. Die "soziale Kontrolle" durch die Erziehungsberechtigten, die von vornherein in das Projekt einbezogen sind, wirkt in den meisten Fällen – ganz abgesehen von der positiven Erwartungshaltung, die sich bei den alten Menschen aufbaut. Bei insgesamt ungefähr 30 Konfirmanden und Konfirmandinnen ist es nicht ein einziges Mal vorgekommen, dass sie sich um die Besuche herumgedrückt hätten. Sie kommen so oder so auf ihre "Kosten" (Verwöhnfaktor). Die Unterrichtenden vereinbaren aber ausdrücklich, dass Geldgaben seitens der älteren Menschen nicht in Frage kommen. Diakonie ist in diesem Fall Ehrensache.

 

Inhaltliche Vorgaben?
Die inhaltliche Gestaltung der Besuche liegt vollkommen in der Verantwortung der jeweiligen Besuchenden und Besuchten. Man kann Anregungen geben, mehr sollte aber nicht geschehen. Vom gemeinsamen Spaziergang über Gesellschaftsspiele, Erzählen, Einkaufsbummel oder das Erledigen von Besorgungen, gemeinsame Basteleien, gemeinsames Singen bis zu Vorlesestunden ist alles möglich. Dass auch Glaubensthemen angesprochen werden können und sollten, braucht nicht eigens gesagt und angemahnt werden. Im Gegenteil. Dererlei Ermunterungen wirkten hemmend, weil verpflichtend. Im natürlichen Gesprächsverlauf gibt es keine Rede, die Glaubensfragen als explizites Gesprächsthema erzwingt. Auch hier bewährt der alte Satz seine Wahrheit: Ich glaube, darum rede ich. Glaubensfragen kommen von selbst auf, zumal die alten Menschen wissen, dass die Jugendlichen als Konfirmanden zu ihnen kommen. Das Besuchsprojekt etabliert in gewisser Weise eine nicht-ritualisierte religiöse Fragekultur im kleinen Stil.

 

Hinführung zum Projekt
Weil das Projekt eher ungewöhnlich ist, bedarf es einer Hinführung in mehreren Schritten.

In einem ersten Schritt wird schon am Beginn der Konfirmandenzeit ein deutliches Signal gesetzt. Im Rahmen des Begrüßungsabends, an dem sich die neuen Konfirmandinnen und Konfirmanden mit ihren Eltern kennen lernen, wird auf das Besuchsprojekt hingewiesen. Es muss deutlich werden, dass das Projekt keine Unterrichtseinheit unter anderen ist. Es hat eine Schlüsselfunktion in der Vorbereitung auf die Konfirmation, während der die Jugendlichen noch einmal zur Glaubens- und Lebensform des Christentums Ja sagen werden. Den Mädchen und Jungen muss sofort klar sein, dass der regelmäßige Besuch eines alten Menschen ebenso wichtig ist wie der des Konfirmandenunterrichts selbst und ihnen in dieser Sache viel zugetraut wird. Die diakonischen Fähigkeiten von Konfirmandinnen und Konfirmanden können nämlich in der Tat nicht so schnell überschätzt werden. Gerade auch die sogenannten lernschwachen Jugendlichen entwickeln während der Besuchsphase beeindruckende Fähigkeiten.

Bereits auf dem Begrüßungsabend werden die Konfirmandinnen und Konfirmanden gebeten, sich in den kommenden Monaten Gedanken zu machen, wen sie im Rahmen des Projektes besuchen möchten. Es wird auch jetzt schon angeboten, bei entsprechender Ratlosigkeit Hilfestellung zu geben.

Wenn das Projekt z.B. im Juni eines Jahres beginnt, wird für Ende April ein Organisationsabend angekündigt, auf dem alle technischen und praktischen Fragen zum Projekt besprochen werden.

Das Projekt sollte als obligatorischer Bestandteil des Konfirmandenunterrichtes angekündigt werden (KV-Beschluss nicht vergessen). Hier muss mit keinen Widerständen gerechnet werden. Im Gegenteil: Die Erziehungsberechtigten nehmen dieses Projekt äußerst positiv wahr. Reserven gibt es nur da, wo sie Sorge haben, ihr Kind würde sich nicht gut genug benehmen können. Solche Ängste sind durch den Beweis und Verweis auf das praktische Gegenteil rasch ausgeräumt. Die Mädchen und Jungen betreten allerdings mit dem Projekt soziales Neuland. Das ist aufregend und für einige ziemlich unheimlich. Deshalb wird Eltern wie Kindern angekündigt, dass es da keinen "Sprung ins kalte Besuchswasser" gibt. Im Monat vor Beginn des Projektes wird gemeinsam über diakonische Fragen nachgedacht (Unterrichtseinheit Diakonie), anschließend sammelt man gemeinsam konkrete Erfahrungen mit diakonischen Institutionen (Praktikumsphase).

In einem zweiten Schritt werden Erziehungsberechtigte sowie Konfirmandinnen und Konfirmanden im näheren Vorfeld des Projektbeginns (ca. zwei Monate zuvor) zu einer Vorbesprechung eingeladen. Da das wenig Zeit beansprucht, kann dies als ein Tagungsordnungspunkt unter anderen im Rahmen eines allgemeinen Konfirmandenelternabends etwa zur "Halbzeit" der Konfirmandenzeit verhandelt werden. Das Einladungsschreiben zu dieser Vorbesprechung bittet darum, möglichst mit einem konkreten Namen für einen Besuchspartner zu kommen. Denn an diesem Abend werden so weit wie möglich die Namen der "Patenkinder", die Termine für die Kontaktaufnahme, der reguläre Beginn und das offizielle Ende des Projektes festgelegt.

Die Erziehungsberechtigten stimmen nach Festlegung der Patenschaft auf einem Anmeldebogen durch ihre Unterschrift den Besuchsverpflichtungen ihres Kindes zu, bestätigen den Namen des Menschen, der besucht werden soll, und versprechen, ihr Kind an die Besuchstermine zu erinnern. Sofort nach diesem Vorbereitungsabend informiert das Pfarramt die potenziellen "Patenkinder" schriftlich darüber, dass sie in einigen Wochen ein Konfirmand bzw. eine Konfirmandin besuchen will. In Fällen, wo sich Konfirmand und alter Mensch noch nicht kennen, sollte die oder der Unterrichtende wenige Tage nach dem Anschreiben mit dem alten Menschen telefonieren. Es könnte ja sein, dass die Person gar nicht besucht werden möchte. Die ein oder andere Sorge oder Frage lässt sich am Telefon ebenfalls erörtern.

Das Projekt beginnt, wenn die Konfirmandinnen und Konfirmanden in die diakonische Dimension des christlichen Lebens eingeführt worden sind. Ihm sollte als dritter vorbereitender Schritt auf jeden Fall eine Praktikumsphase vorausgehen, in der die Jugendlichen innerhalb von vier Wochen in verschiedenen Kontexten mit alten, jedenfalls mit ihnen fremden Menschen Kontakt aufnehmen. Diese Praktikumsphase muss mindestens drei Monate vor Beginn mit den entsprechenden Institutionen abgesprochen worden sein (Terminprobleme). Dazu gehört ein Besuch eines Krankenhauses, das Patienten der Gemeinde behandelt. An einem intensiven und langen Nachmittag werden Konfirmanden "von der Wiege bis zur Bahre" durch das Krankenhaus geführt20: von der Kinderstation über verschiedene ambulante Behandlungsorte, den Notdienst, die Stationen bis hin zur Aussegnungshalle. Es ist gut, wenn ein Krankenhausseelsorger oder eine Krankenhausseelsorgerin den Jugendlichen "sein" bzw. "ihr" Krankenhaus zeigt. Gespräche mit Pflegepersonal und vielleicht sogar der Krankenhausleitung eröffnen neue Welten. Fragen rücken in den Vordergrund: Wer wird krank? Wie lange bleiben die Menschen im Krankenhaus? Wo sterben die meisten Menschen im Landkreis? Wird mit Menschen im Krankenhaus eigentlich gebetet, wenn sie sterben?

Je nach Organisationsstruktur und Zeitkapazitäten werden alternativ zum Krankenhausbesuch oder aber im Anschluss daran Besuche in Kleingruppen im Pflegeheim angeboten. Das ist dann ein konkreter Schritt auf die Projektsituation hin. Die Mädchen und Jungen nehmen an einem ersten Nachmittag mit dem Heim Kontakt auf, lernen das Personal kennen, bekommen die Räumlichkeiten gezeigt, erfahren einiges über die alltäglichen Arbeitsabläufe, hören, welche Menschen dort leben, was die Probleme und Vorteile des Lebens im Heim sind, und nehmen Kontakt mit Heimbewohnern auf. An einem bis zwei weiteren Nachmittagen besuchen sie dann in Begleitung von Pflegepersonal jeder einen alten Menschen für ein bis zwei Stunden (Kaffeetrinken, Erzählen, Ausfahrt mit dem Rollstuhl – letzteres aber nur mit professioneller Begleitung).

Schon während dieser Praktikumsphase lernen sich die Jugendlichen selbst von einer neuen Seite kennen. Durch die Kleingruppen können sie sich unter Umständen voneinander abgucken, was im Umgang mit alten und sehr alten Menschen geschickt ist. Dadurch sind sie hinreichend auf das Besuchsprojekt vorbereitet und haben einiges an Selbstsicherheit in Sachen Diakonie hinzugewonnen.

Wenn dann die Kontakte geknüpft sind und die ersten regelmäßigen Besuche bei den alten Menschen stattgefunden haben, ist es sinnvoll, sich in einer Konfirmandenunterrichtsstunde in Ruhe über erste Erfahrungen und Eindrücke auszutauschen. Dadurch gewinnen die Jugendlichen Sicherheit, merken, dass sie mit bestimmten Wahrnehmungen nicht allein da stehen: "Frau T. hat mir die selbe Geschichte fünfmal in einer Stunde erzählt." – "Herr E. hat gemeint, er würde nur deshalb nicht zur Kirche kommen, weil der Weg zu weit ist – ich bin aber mit ihm einmal zur Ahlequelle und zurück spaziert – das war viel weiter." – "Frau H. redet wahnsinnig laut und ich muss meine Worte richtig durchkauen, damit sie mich versteht." – "Herr G. riecht ein bisschen komisch. Ist das immer so?" – Danach wird vom Unterrichtenden nur noch "eingegriffen", wo sich Schwierigkeiten ergeben. Die nächste gemeinsame Rückmeldung erfolgt erst im Konfirmationsgespräch kurz vor der Konfirmation.

 

Eindrücke von der konkreten Durchführung zur Ermutigung
Das Projekt wurde in zwei Landgemeinden mit einem hohen Anteil junger Familien und alleinstehender alter Menschen, und einer Kleinstadtgemeinde realisiert. Es hat sich gezeigt, dass sich das Projekt in kleinstädtischen Strukturen ebenso gut realisieren lässt wie in Landstrukturen. Das soziale Geflecht dörflicher Strukturen ist nicht Bedingung für das Gelingen des Projektes.

Die alten Menschen haben auf die Idee und das Anschreiben durchweg positiv reagiert. Erkrankte alte Menschen hatten hin und wieder Bedenken. Man bekommt es mit dem fatalen Zusammenhang von Krankheit und Scham zu tun. Immerhin konnte der Kontaktbesuch des entsprechenden Konfirmanden die Bedenken in fast allen Fällen ausräumen. In einem Fall allerdings wurde das Besuchsangebot abgelehnt.

Von insgesamt 30 Konfirmandinnen und Konfirmanden haben 22 den Adressaten ihrer Besuche selbst ausgesucht. Elternrat war da oft hilfreich. Fünf haben ihren alten Menschen während der Praktikumsphase im Pflegeheim kennen gelernt. In drei Fällen musste eine Person ausdrücklich vom Unterrichtenden gesucht und genannt werden.

Es hat sich gezeigt, dass ganz elementare Dinge den reibungslosen Verlauf der Projektphase behindern können. So muss man den Jugendlichen einschärfen, ruhig mehrmals zu klingeln, weil alte Menschen oftmals schlecht hören. Für das Ausräumen solcher Anfangsschwierigkeiten ist die gemeinsame Rückkopplung am Anfang der Projektphase so wichtig. Drei Konfirmandinnen haben durchgesetzt, gemeinsam eine Dame zu besuchen. Die drei haben hervorragend Bridge gelernt und mit der Dame viel gelacht. Aber sie waren bisweilen voneinander wohl wechselseitig abgelenkt. Diese Besuchsreihe ist erfolgreich gescheitert. Die Dame hat es mit Humor genommen. Besser ist offenbar, wenn ein Konfirmand oder eine Konfirmandin einen alten Menschen besucht.

Die Erfahrung aus der Durchführung des Projektes hat gezeigt, dass alle Jugendlichen im Rahmen ihrer Fähigkeiten und Möglichkeiten im Stande sind, alte Menschen zu besuchen und mit ihnen zu reden, wenn nur der entsprechende alte oder ältere Mensch richtig ausgesucht wird. Die Besuchsaufgabe ist für die meisten so neu und das, was sie erleben, derart anders als erwartet, dass sie aus ihren gängigen Verhaltensmustern herausfallen. Mag also der Konfirmandenunterricht die oben zitierte Haggada darin bestätigen, dass es vier Typen von Kindern gibt, den aufgeschlossenen, den desinteressierten, den kontaktarmen und den angepassten Typ, so gilt diese Typisierung für die Besuche gerade nicht mehr. Die Jugendlichen überraschen Unterrichtende, Eltern und sich selbst positiv. Allein deshalb schon lohnt sich das Projekt. "Wenn dein Kind dich morgen fragt ..." Es bestätigt sich, dass dies eine Handlungsanweisung mit ungeahnt positivem lebensbildendem Potenzial ist.

Auch Lebens- und Glaubensfragen wurden zum Thema. Die Intensität dieser Dimension während der Besuche hing vom Naturell der beiden Gesprächspartner ab. Aber in jedem Fall wurden die alten Menschen "aus der Reserve gelockt".

Unmittelbar nach Verteilung der Patenschaften rief ein 90-jähriger Herr beim Unterrichtenden an. "Ich muss mich anstrengen. Ich weiß nicht, hoffentlich langweile ich den Jungen nicht zu sehr." – "Erzählen Sie ihm doch von sich", schlug der Unterrichtende vor. – "Ach, das – das wird er doch nicht wissen wollen." – "Fragen Sie sich doch einfach, was Sie als 13-jähriger Junge interessiert hätte." – Damit war, wie die Berichte des Jungen deutlich machen, das Problem gelöst. Es war ein Grundtenor der Reaktion der alten Menschen, dass sie die Besuche anregend und auch ein bisschen anstrengend fanden, "weil man sich ja wirklich Mühe machen muss". Die Konfirmandinnen und Konfirmanden haben sich gewundert, dass viele alten Menschen Sorge hatten, sie würden die Besuche bei ihnen bald leid sein. "Die könnten ruhig sicherer sein, dass wir gern kommen – sind doch Menschen wie du und ich", hat eine Konfirmandin dazu gemeint. Überraschend war, dass "Frau P. genauso morgenmuffelig ist wie ich, und wie ich jetzt, schon damals vor 70 Jahren die Schule geschwänzt hat und dafür ziemlich Ärger bekommen hat. Ist trotzdem was draus geworden."

Viele Gestaltungsideen haben sich von selbst entwickelt. Eine Konfirmandin hat mit ihrem Patenkind Lieblingsfilme geguckt. "Bei ‚Der mit dem Wolf tanzt’ haben wir am Schluss beide geheult. War gut!" Einer Dame fiel ein, dem Konfirmanden, der sie besuchte, das Buch zu schenken, was er jetzt unbedingt gerne mal lesen würde – egal was es koste. Sie hat es ihm besorgt. Und dafür hat er ihr regelmäßig daraus vorgelesen. Es kam zu milieuübergreifenden Entdeckungen aneinander und miteinander. Hierzu nur ein Beispiel. Als ein als schwierig geltender Konfirmand einen äußerst korrekten strengen 92-jährigen Herren im Pflegeheim besucht, verbringen die beiden einen launigen langen Nachmittag und der Herr ist von der Erfahrung so ergriffen, dass er darauf besteht, den Jungen nach Hause zu begleiten, um seinen Eltern zu sagen, "was für einen netten Kerl" sie da zum Sohn hätten. "Stellen Sie sich vor, Herr H. hat den Hut gezogen, als er sich meiner Mutter vorgestellt hat. So was hab ich noch nie erlebt."

Stundenlange Erzählungen vom Krieg kamen nicht vor – aber über die Sorge, wie es wohl in Zukunft weiter gehen wird, wurde gesprochen. Mit wie wenig man vielleicht glücklich werden kann, was es heißt, sich "so richtig schuldig zu fühlen – und das wie eine olle Allergie nicht mehr los zu werden", und wie schwer es ist, auf Gott zu setzen, wenn etwas gewaltig schief geht. Dass es auch noch Liebeskummer gibt, wenn man 79 ist – das war natürlich von höchstem Interesse. Vor der Konfirmation wurden die alten Konfirmationsbilder der Patenkinder mit großer Neugier betrachtet. "Hat sich viel geändert seitdem – so die Kleider und so – aber eigentlich: es ist die gleiche Kirche – und außerdem – am Ende bin ich – schwups – auch mal so alt. Komischer Gedanke!"

Das Konfirmandenbesuchsprojekt ist – dies sei als letzter Eindruck weitergegeben – kein Unternehmen mit Anfangseuphorie und darauf folgendem mühsamen Durchhänger. Es spricht für sich, dass einige der alten Menschen um jeden Preis beim Vorstellungsgottesdienst dabei sein wollten und selbstverständlich zum Konfirmationsfest eingeladen wurden. Einige Konfirmanden besuchen ihre "Alten" auch heute noch. "Dass Sie mir ja nicht Frau P. für einen neuen Konfirmanden einteilen, die besuch ich nämlich weiter. Ist das klar?"

"Wenn Dich dein oder ein Kind morgen fragt ..." – es ist reizvoll dafür zu sorgen, dass es überhaupt so weit kommt. Jugendliche und alte Menschen haben sich neu als Fragende und Gebende entdeckt. Was kann mehr Hoffnung machen, dass diakonische Kultur allerorten zu wachsen vermag? Der Bericht eines tiefbeeindruckten Konfirmanden vom Besuch seiner "Alten" kurz vor der Konfirmation spricht für sich: "Frau B. hat zu mir gesagt ... weißt Du was, ich will gar nicht mehr 20 oder 50 oder 60 sein. Ich bin gerne alt. Und im Himmel – ach, ich lass mich überraschen. Bin doll gespannt. Hauptsache Gott weckt mich nicht als Mann auf – das wäre furchtbar. – Und dann hat sie laut gelacht. Und wir haben ein dickes Stück Pflaumenkuchen gegessen – mit viel Sahne. Das mag sie so gern. Ich auch."

 

Anmerkungen

  1. Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997, 215. – Jan Assmann spricht in diesem Zusammenhang allerdings von einer Erinnerungskultur der "jüdisch-christlichen Welt". Der Streit, ob es nicht in falscher Weise vereinnahmend ist, von der jüdisch-christlichen Welt zu reden, sei hier nicht geführt. – Assmann wird mit dieser Wendung wohl vor allem auf die unbestreitbaren inneren Zusammenhänge zwischen der jüdischen und christlichen Religionskultur aufmerksam machen.
  2. Vgl. z.B. Dtn 3,21, 4,3 mit 4,9.
  3. Vgl. Assmann, a.a.O., 228.
  4. Vgl. Dtn 31,9-13.
  5. Vgl. Dtn 6,7 mit 11,20: "Und du sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzest und wenn du auf den Wegen gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst."
  6. Allegra Goldmann: Zwei Hochzeiten und ein Pessachfest, Roman, München 1998, S. 208.
  7. Goldmann: a.a.O., S. 209f.
  8. Goldmann: a.a.O., S. 210f.
  9. Exemplarisch sei hier die im übrigen hervorragende Sammlung von Unterrichtsentwürfen genannt: Religionsunterricht praktisch 3.Schuljahr, Göttingen 61998.
  10. Hebr 8,13 kann hier nicht mit zählen, weil dort vom veralteten überlebten Bund und nicht von einem Menschen die Rede ist.
  11. Für die Sachlage im NT immer noch einschlägig ist Günther Bornkamm: Art. Presbys ktl., ThWNT 6, 651-683.
  12. Hans Thomae: Art. Alter, in: Martin Honecker u.a. (Hg.): Evangelisches Soziallexikon, Stuttgart 2001, Sp. 30-35.
  13. Gibt man auf der Homepage der EKD (www.ekd.de) den Suchbegriff "Alter" ein, so kommt der alte Mensch auf etlichen Fundstellen zwar vor, aber doch nur als "Gegenstand" von Versicherungen, Alterssicherung, Rentenversicherungen, Pflegeversicherungen, Sozialversicherungen, Krankenversicherungen ... Diese Form der theologischen Sorge um die soziale Sicherheit der alten Menschen ist zu begrüßen, aber noch nicht der theologischen Weisheit letzter Schluss.
  14. Vgl. Thomae, a.a.O., Sp. 32.
  15. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 51985, S. 547.
  16. Vgl. hierzu schon Aristoteles: De anima I,4; 408b25, der den Schluss von der Alterung und Reduktion des Körpers auf eine Reduktion der Psyche als phänomenologischen Kurzschluss gegeißelt hat.
  17. Der Verfasser kann aus eigener Anschauung auf eine einschlägige Szene verweisen. Nach einem seiner ersten Gottesdienste in der Gemeinde fragte die 16-jährige Tochter einer Kirchenvorsteherin, wie alt der neue Pastor denn sei. Die Mutter erklärte: "Siebenunddreißig". – "Was – so alt?", platzte da die Jugendliche heraus.
  18. Vgl. etwa die Einstiegsseite zur Einheit Diakonie in: Hans-Martin Lübking (Hg.): Neues Kursbuch Konfirmation. Ein Arbeitsbuch für Konfirmandinnen und Konfirmanden, Düsseldorf 2003, S. 63. Auf einer Außenaufnahme eines Mietshauses mit der Bildunterschrift "Jeder hat Probleme ... Jeder?" werden nicht weniger als neun massive Problemfälle in nur drei Stockwerken ausgemacht. So etwas kann einfach kein normaler Mensch ernst nehmen. Und Konfirmandinnen und Konfirmanden sind in diesem Fall erfrischend normal.
  19. Dadurch entstehen unter Umständen neue soziale Beziehungen, die für die kommunale und kirchliche Gemeinde von Vorteil sind.
  20. Ein sehr überzeugendes Konzept hat Heinrich Höfer, Krankenhausseelsorger im Kreiskrankenhaus Holzminden ausgearbeitet. – Kontaktadresse: Heinrich.Hoefer@evlka.de.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/2004

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