"...soll ich meines Bruders Hüter sein?" (Gen 4,9)

von Matthias Günther

 

Geschwistergeschichten im biblischen Unterricht und die Frage nach dem “didaktisch Notwendigen” 1

Der Theologe und Didaktiker Ingo Baldermann stellt fest, didaktisch zu reflektieren bedeute, zuallererst die Frage nach dem Notwendigen zu stellen. 2 Notwendig für die Zukunft sei, so Baldermann weiter, “dass Kinder und Jugendliche sensibel werden für die sc. gegenwärtigen Bedrohungen und widerstandsfähig zugleich, dass sie die Fähigkeit gewinnen, Alternativen wahrzunehmen zu den herrschenden so genannten Sachzwängen, dass sie sich selbst finden und gerade so offene Augen bekommen für die Belange der anderen, für eine weltweite Gerechtigkeit. Das alles ist nur möglich, wenn sich eine glaubwürdige Perspektive der Hoffnung eröffnet.” 3

Folgt man Baldermann darin, dass die biblischen Überlieferungen die glaubwürdige Perspektive der Hoffnung bieten können, hat man die folgenden zwei Fragen zu beantworten:

Erstens: Was begründet die Glaubwürdigkeit dieser Perspektive der Hoffnung - insbesondere für Kinder und Jugendliche in einer posttraditionalen Gesellschaft?

Zweitens: Kann das Erkennen der glaubwürdigen Perspektive der Hoffnung allein das stabile Fundament bilden, auf dem Kinder und Jugendliche - um es mit Carl R. Rogers 4 zu sagen - zu “fully functioning persons” werden können? Oder muss die Perspektive nicht auch erlebbar sein, damit Kinder und Jugendliche - um es mit Alfred Adler 5 zu sagen - zu Menschen werden können, die ein von Ermutigung geprägter Lebensstil leitet, die entsprechend kooperationsfähig und damit zu der von Baldermann als notwendig erkannten Empathie und Solidarität befähigt sind.

Solange eine glaubwürdige Perspektive der Hoffnung allerdings fehlt, darin ist Baldermann Recht zu geben, wird Kains Frage “Soll ich meines Bruders Hüter sein?” (Gen 4,9) oder genauer: die ihr implizite Alternative von Rückzug auf sich selbst oder wechselseitiger Anteilnahme zugunsten der Individualisierung entschieden.

 

Kann es biblischer Unterricht also leisten, das stabile Fundament zu bauen?

Anhand von sechs Thesen soll die Frage nach dem “didaktisch Notwendigen” im folgenden durchdacht und beantwortet werden.

 

1. “Glaubwürdigkeit gründet in Wirklichkeitsentsprechung”

Unter diese Prämisse stellt der Theologe Dietz Lange 1984 eine Studie mit dem Titel “Erfahrung und die Glaubwürdigkeit des Glaubens” 6 . Wirklichkeit versteht Lange dabei nicht als objektive Realität, der der Mensch als von ihr unabhängig denkendes und handelndes Subjekt gegenüberstünde, sondern als Geflecht von Beziehungen, als Prozess der Wechselwirkungen, an dem er als Subjekt begrenzter Freiheit teilnimmt – und das heißt: er nimmt an der Konstruktion von Wirklichkeit teil.

Entspricht also die biblische Perspektive der Hoffnung der gegenwärtigen Wirklichkeit der Schülerinnen und Schüler oder genauer formuliert: der Wirklichkeit, die sie wahrnehmen, und das nicht nur punktuell, sondern kontinuierlich? Anders gefragt: Gibt es die Brücke über den Graben zwischen der vergangenen Wirklichkeit biblischer Überlieferungen, der die Schülerinnen und Schüler zumeist nur gegenüberstehen können, und ihrer gegenwärtigen Wirklichkeit, an der sie teilnehmende Subjekte sind? Oder noch einmal anders: Lassen sich Tradition und Situation als zu dem einen Prozess der Wechselwirkungen gehörend erkennbar und erlebbar machen, so dass die Schülerinnen und Schüler teilnehmende Subjekte sowohl am Vergangenen, rekonstruierend, als auch am Gegenwärtigen, konstruierend, und schließlich auf solchem Fundament stehend auch am Zukünftigen wären?

Stimmt man Baldermanns Grundsatz zu, ist die zuletzt gestellte Frage als Arbeitshypothese zu formulieren: Schülerinnen und Schüler können teilnehmende Subjekte sein an der einen Wirklichkeit vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Wirklichkeiten.

 

2. Biblischer Unterricht soll einen Raum der Begegnung mit der einen Wirklichkeit vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Wirklichkeiten öffnen.

Es lohnt zu prüfen, ob die Baldermannsche biblische Didaktik einen solchen Raum der Begegnung zu öffnen vermag, um so mehr, als Baldermann dies als seine Aufgabe als Lehrer bestimmt. Er schreibt: “Ich muss versuchen, Begegnungen herbeizuführen zwischen den Kindern und den Worten der Bibel, Begegnungen, mit denen ein Dialog beginnt, der länger dauert als mein Unterricht”. 7 Ziel der Begegnung sei es, eine neue Wahrnehmung der Wirklichkeit zu ermöglichen. 8 Baldermann meint eine Wahrnehmung der gegenwärtigen Wirklichkeit im Lichte der biblisch überlieferten Botschaft und somit eine erweiterte Wahrnehmung der gegenwärtigen Wirklichkeit. Gelingende Begegnung setzt dann freilich voraus, dass die Schülerinnen und Schüler teilnehmende Subjekte an der Begegnung sein können.

 

Drei Problemanzeigen:
Problematisch bei Baldermanns Ansatz ist erstens das Postulat einer der Bibel impliziten Didaktik, die es nur zu entdecken gelte 9 . Bestimmt man mit Christoph Bizer, der in Übereinstimmung mit Baldermann formuliert 10 , Didaktik als Wissenschaft vom Notwendigen für die heranwachsenden und erwachsenen Generationen einer je gegenwärtigen Zeit, so muss schon ohne weitere Kenntnis der Frage nach der Entstehung der biblischer Überlieferungen, der literaturgeschichtlichen Frage und der Frage nach der Entstehung des Kanons gesagt werden, dass die biblischen Antworten auf die Frage nach dem Notwendigen geschichtlich bedingt sind und entsprechend unterschiedlich ausfallen. Man kann also allenfalls vermuten, dass eine bestimmte biblische Überlieferung eine bestimmte implizite Didaktik enthält. Diese aber wäre ebenso geschichtlich bedingt!

Problematisch ist zweitens die Annahme Baldermanns, die Sprachbewegung der Bibel zeichne den Weg des Lernens vor 11 . Sie führe Komplexes zu elementaren Grundbegriffen zurück. Diese zeichneten sich dadurch aus, dass sich in ihnen sowohl biblische Grunderfahrungen als auch allgemein menschliche Erfahrungen verdichtet haben. Doch mit Hilfe welcher Kriterien werden elementare Grundbegriffe als solche bestimmt?
Der Theologe und Religionspädagoge Horst Klaus Berg folgt ausdrücklich Baldermann darin, Sprachformen zu identifizieren, die die Bibel für die elementare Verdichtung von Glaubenserfahrungen und Glaubenstraditionen verwende, sogenannte “Grundbescheide”. 12 Auch Berg verzichtet aber darauf, einen nachvollziehbaren Weg zu beschreiben, auf dem diese “Grundbescheide” gewonnen werden können. Sicher überliefert die Bibel die Erfahrung “Gott schenkt Leben”, wie Berg schreibt 13 , also die gottbezogene Erfahrung mit Sinnfindung und Sinnhaftigkeit, aber ebenso doch auch die bei Berg völlig fehlende Erfahrung mit Sinnverlust und Sinnlosigkeit.

Muss daher nicht zuallererst auf das der Erfahrung vorausgehende Erleben des Tradenten der Erfahrung der Blick gerichtet werden? Für das Unterrichtsgeschehen gilt: solange das vermeintlich Elementare der Bibel nicht auf intersubjektiv nachvollziehbarem Weg gewonnen, sondern subjektiv gesetzt wird, bleibt den Schülerinnen und Schülern ein Raum der Begegnung, in dem sie teilnehmende Subjekte sein können, verschlossen.

Problematisch an Baldermanns Ansatz ist drittens, dass sich die Schülerinnen und Schüler in der Begegnung mit den Sprachbildern insbesondere der Psalmen an emotionale Erfahrungen erinnern sollen, die, wie Baldermann sagt, “längst in die Tiefen des Unter- oder Unbewussten abgesunken waren und dort als emotionale Potenzen völlig unkontrolliert weiterwirken konnten” 14 . Das Ziel sei die Versprachlichung der Angst und ihre Einbindung in einen größeren Zusammenhang der Hoffnung.

Die emotionale Erziehung, wie sie Baldermann beabsichtigt, ist von Christina Kalloch und Bettina Kruhöffer kritisiert worden. Sie schreiben: “Ist die Problematik der emotionalen Erziehung nicht wesentlich komplexer, als dass sie durch ein ‚Gespräch mit der Seele’ aufgearbeitet werden könnte? Darüber hinaus bleibt es fraglich, ob die Kinder die Sprache der Psalmen tatsächlich so verinnerlichen, dass diese Sätze zu ihren eigenen werden, mit denen sie eigene Ängste und Vertrauenserfahrungen zur Sprache bringen.” 15

Aber was, wenn doch?, möchte man ergänzen. Welche Möglichkeiten haben die Kinder, mit ihrer Angst umzugehen, wenn sie innerhalb der 45 Unterrichtsminuten den größeren Zusammenhang der Hoffnung nicht spüren?

Das folgende Beispiel 16 mag die Kritik illustrieren.
Der in einer 4. Schulklasse an die Tafel geschriebene Vers aus dem 69. Psalm “Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist” (V. 3) verhelfe den Schülerinnen und Schülern, so Baldermanns Unterrichtserfahrung, eigene Gefühle von Niedergeschlagenheit zu präzisieren. Tatsächlich, liest man die von Baldermann notierten ersten Reaktionen der Schülerinnen und Schüler genauer - das, wie Baldermann sagt, “Protokoll der Erstbegegnung” -, erkennt man durchweg Gefühle von hoffnungsloser Niedergeschlagenheit. Da heißt es: “keiner hilft”, “keiner kann dich rausholen”, “keiner tröstet mehr”, “ganz einsam”, “unendliche Traurigkeit”. Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass die Schülerinnen und Schüler ihre jeweils zweiten Reaktionen schon formuliert haben und nur noch auf deren Abruf warten: “Gott hilft”, “Gott holt dich raus”, “Gott tröstet”, “Gott ist da”, “Gott macht fröhlich”.

Meines Erachtens darf man zum Unterrichtsgeschehen folgendes vermuten:
Erstens nutzen die Schülerinnen und Schüler den Schutzraum, den die metaphorische Sprache durchaus bieten kann, indem sie distanzierte Formulierungen zulässt, nicht zu ihrem Schutz, sondern um sich zu verstecken.
Zweitens sind das didaktische Arrangement und die Vertrautheit mit der Fragestellung entscheidend. Konkret gefragt: Wie sehr werden die Schülerinnen und Schüler gerade zu einer engen, nämlich der vom Unterrichtenden vorgegebenen Wahrnehmung trainiert? Leicht kann das assoziierende Gespräch zur Doppelbödigkeit metaphorischer Sprache zum Spiel werden, wer die vorausgesetzte Deutung der Metapher zuerst herausbekommt.

Selbst wenn beide Vermutungen das tatsächliche Unterrichtsgeschehen verfehlen sollten, bleibt doch ein Einwand gewichtig. Das Ziel, mit Hilfe des einzelnen Sprachbildes einen dialogischen Lernprozess anzustoßen, erfordert in jedem Fall einen sehr weiten Kontext, der zwar eine allgemeine Akzeptanz erwarten lässt, zugleich es aber beinahe unmöglich macht, es zumindest nicht planbar sein lässt, dass die Wirklichkeit der biblischen Überlieferung und die Wirklichkeit der Schülerinnen und Schüler wahrgenommen werden können.

Im übrigen ist es eine Begegnung ungleicher Partner; die Schülerinnen und Schüler erfahren über den Menschen im Psalm nichts, sollen aber dennoch die tiefsten Tiefen ihrer Seele offen legen. Konkretes Anschauungsmaterial kann für sie nur das Ich des Psalmbeters sein, das sie (zumindest im Primarbereich) als persönliches Ich verstehen müssen, das Baldermann aber als fiktives Ich verstanden haben möchte.

Die erforderliche Offenheit des Kontextes kann gerade umschlagen in eine Vereinnahmung der Schülerinnen und Schüler, denen der Lernprozess weder durchsichtig noch nachvollziehbar sein kann, die vielmehr ganz einfach dankbar sind, dass es Religionsunterricht ist und dass es eben deshalb irgendetwas mit Traurigkeit, Trost, Angst, Hoffnung und Gott zu tun haben muss, aber eben nichts mit ihnen selbst.

Dass es aufgrund der drei Problemanzeigen sehr fraglich bleiben muss, ob es Baldermann tatsächlich gelingen kann, einen Raum der Begegnung zu öffnen, ändert freilich nichts am Recht der Baldermannschen Zielsetzung.

Dem Ziel näher zu kommen, verhilft ein erneuter Blick auf den 69. Psalm.

Was beklagt denn der Psalmbeter tatsächlich?
Er klagt: “Ich bin fremd geworden meinen Brüdern und unbekannt den Kindern meiner Mutter” (V. 9), “... man spottet meiner” (V. 11), “... sie treiben ihren Spott mit mir” (V. 12), “die im Tor sitzen, schwatzen von mir und beim Zechen singt man von mir” (V. 13).

Sein Ziel benennt der Psalmbeter klar: “Ich warte, ob jemand Mitleid habe, ... und auf Tröster” (V. 21b); doch trotz aller Mühe - er weint bitterlich, er fastet, er trägt einen Sack als Kleidung, er wird krank - : da ist niemand, er findet keinen. Der Psalmbeter gibt nun die Hoffnung auf angemessene Beachtung auf und sucht Vergeltung; er strebt die Unterlegenheit der anderen an, ein Streben, das in der Bitte an den Gott Israels gipfelt: “Tilge sie aus dem Buch des Lebens ...” (V. 29).

Tatsächlich also beklagt der Psalmbeter die Entwertung, die er durch seine soziale Umwelt erfährt und versucht mittels zweier Strategien, zunächst Mitleid zu erheischen und später Vergeltung zu bekommen, seinen ins Wanken geratenen Selbstwert zu sichern.

Das heißt: Interpersonales Geschehen steht im Mittelpunkt des Psalms. Im Rückblick auf Baldermanns Ansatz kann von daher gefragt werden, ob nicht der Satz “Die im Tor stehen, schwatzen von mir” (V. 13a) als Beispiel konkreter Interaktion viel eher geeignet wäre, einen Raum der Begegnung zu öffnen. Die Wahrnehmung konkreter Interaktion kann meines Erachtens der Schlüssel sein. Der Vergleich konkreten Verhaltens und Erlebens eines Menschen in der Bibel mit je eigenem konkreten Verhalten und Erleben ist bereits eine erweiterte Wahrnehmung von Wirklichkeit.

Die Erweiterung wird schon dann erreicht, wenn eine Hypothese zum leitenden Ziel und zur Bewegung des Verhaltens und Erlebens noch nicht formuliert werden kann. Der Vergleich einer solchen Hypothese mit einer weiteren zu formulierenden Hypothese zu dem je eigenen leitenden Ziel und der Bewegung soll schließlich aber das Ziel im Begegnungsraum biblischen Unterrichts sein.

Erst eine sich schrittweise erweiternde Wahrnehmung ermöglicht es den Schülerinnen und Schülern, kontinuierliche Wirklichkeitsentsprechung zu prüfen. Solche Möglichkeit der Prüfung ist dann schon eine Stärkung der Problemlösungskompetenz, die allein eine gelingende Begegnung mit zukünftigen Wirklichkeiten möglich macht.

 

3. Anknüpfungspunkt im biblischen Unterricht soll nicht intrapersonales, sondern interpersonales Geschehen sein.

Interpersonales Geschehen als Anknüpfungspunkt im biblischen Unterricht erlaubt einen intersubjektiv nachvollziehbaren Verständigungsprozess, der weitgehend ergebnisoffen sein kann. Dies gelingt, weil das Anschauungsmaterial konkret ist. Intrapersonales Geschehen bietet kein konkretes Anschauungsmaterial und erfordert oftmals ein Rätselraten, das sehr leicht zur selektiven Wahrnehmung oder zur Interpolation fremder Wahrnehmungen führen kann. Beides aber würde eine erweiterte Wahrnehmung erschweren bis unmöglich machen.

 

Drei Vorbemerkungen zur weiteren Vorgehensweise:

Vorausgesetzt wird im folgenden, dass nicht erst Erfahrungen zu allgemein-menschlichen Erfahrungen objektivierbar sind, sondern bereits das den Erfahrungen vorausgehende, freilich immer auch geschichtlich bedingte Verhalten und Erleben objektivierbar ist.

Modellhaft sollen im folgenden Geschwistergeschichten herangezogen werden, in denen interpersonales Geschehen zwangsläufig zentrale Bedeutung hat.

Konkret wird im folgenden versucht, die hier angestrebten didaktischen Ziele zu entfalten, zunächst eher narrativ am Beispiel zweier biblischer Geschwistergeschichten, Kain und Abel sowie Jakob und Esau, sodann systematisierend.

In den zunächst folgenden Darstellungen sollen mögliche Aspekte einer erweiterten Wahrnehmung der Protagonisten der biblischen Geschichten betont werden. Die Darstellungen müssen hier protokollierte Unterrichtsversuche ersetzen, die nicht zur Verfügung stehen, die zweifellos aber wesentlich geeigneter wären, das von den Schülerinnen und Schülern zu Erwartende zu skizzieren. Eine solche Skizze des zu Erwartenden ist in jedem Fall unverzichtbar für eine systematisierende Entfaltung der Unterrichtsziele.

1. Kain und Abel (Gen 4,1-16)
Kain war der Erstgeborene. Eine Zeit lang galt ihm allein die Gemeinschaft seiner jubelnden Mutter: “Ich habe einen Sohn geboren mit Hilfe des Herrn!” (Gen 4,2).

Mit Abels Geburt musste sich Kain plötzlich aus dieser Position vertrieben sehen. Abel war geboren, und Kain musste mit einem Rivalen teilen. Eine Zeit der Unsicherheit begann. Ein ständiges sich Vergleichen begann, das Gefühl, vielleicht weniger beachtet zu werden, vielleicht weniger anerkannt zu sein als der andere. Der Alltag hielt lange verborgen, was sich schließlich in dem tödlichen Schlag entlud. Kain wurde ein Ackermann, Abel ein Schäfer.

Doch Kains Angst davor, weniger wert zu sein als sein Bruder, musste ihn immer wieder mit Argusaugen zu Abel schielen lassen. “Nach etlicher Zeit” (V. 3) brach das Verborgene durch. Dem einen wurde Beachtung und Anerkennung zuteil, dem anderen blieb beides versagt. “Der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an” (V. 4b.5a).

Für Kain war dies der Funke, der die Glut entzündete. Für ihn brannte es nun lichterloh. Sein Vorrang, den er misstrauisch gegen seinen Bruder verteidigte, schien dahin. Und nurmehr an die erste Stelle zurückzukehren, versprach ihm noch das sichere Leben, nurmehr selbst Herr über Leben und Tod zu sein, Herr über Abels Leben.

“Er ergrimmte und senkte seinen Blick” (V. 5b): Kain sah Abel nicht mehr an. Das Ziel, mit dem einen Hieb der Tiefe aller Unterlegenheit zu entkommen, hatte er sich gesetzt. Er schlug den Bruder tot (V. 8).

“Wo ist dein Bruder Abel?”, so hörte er es. “Ich weiß es nicht”, antwortete er, “soll ich meines Bruders Hüter sein?” (V. 9). Kain wusste um seine Tat - “Meine Strafe ist zu schwer”, würde er sagen (V. 13) -, aber er verstand nicht, was ihn antrieb. Sollte er seines Bruders Hüter sein? - schuld konnte doch nicht er sein, schuld war auch nicht Abel. Erst der Fluch Gottes (V. 11f) öffnete ihm die Augen. Nun sah er, wohin ihn sein Streben zurück an die erste Stelle, die doch ihm allein zustand, gebracht hatte.

In der Ferne, im Verborgenen, unstet und flüchtig war er schon und würde er sein (V. 14). Ein Zeichen erhielt er, unverdient (V. 15), zum Schutz, als Wegweiser auf dem langen Weg, der jenseits von Eden neu beginnen musste (V. 16).

2. Jakob und Esau (Gen 25-28)
Isaak liebte seinen Sohn Esau. Er aß gerne von dem, was Esau erjagte. Esau war Jäger und streifte auf dem Felde umher, Jakob sein Bruder aber blieb bei den Zelten (Gen 25,27f). Esau war ihm voraus, er war der Ältere. Jakob schuf den Plan, zu ihm aufzuschließen. Einem Wettlauf gleich würde sein Leben sein. Doch das war ihm verborgen. Jakob trainierte hart. Die List half, dem Bruder überlegen zu sein, einmal, auch ein zweites Mal.

“Jakob kochte ein Gericht. Da kam Esau vom Feld und war müde und sprach zu Jakob: Lass mich das rote Gericht essen; denn ich bin müde. Aber Jakob sprach: Verkaufe mir heute deine Erstgeburt. Schwöre zuvor” (V. 29-31).

Die List half ein zweites Mal. Jakob erschlich sich den Erstgeburtssegen. Den Vater, dessen Augen schwach geworden waren, belügt er: “Bist du mein Sohn Esau? Jakob antwortete: ja, ich bin`s (27,24).

Das Gefühl, der Schwächere zu sein, trieb ihn an. Er fürchtete die Stärke Esaus. Er konnte sich seine Schwäche nicht eingestehen. Er wollte es beweisen: Esau war der Unterlegene. Esau musste sinken, damit Jakob sich emporheben konnte. Doch es war nur ein kurzes Hochgefühl. “Höre auf mich, mein Sohn”, drang Rebekka, seine Mutter, “flieh!” Auf dem Weg, auf der langen Reise in fremdes Land (28,10), vom Einbruch der Dunkelheit überrascht, musste Jakob übernachten.

Er schläft. Er träumt. Er sieht die Himmelstreppe im Traum. Er ist nicht Zuschauer in seinem Traum, nicht unbeteiligt. Er schaut nicht aus der Ferne. Er ist Teil des Traumes. Die Treppe, ein gewaltiges Bauwerk, verbindet Erde und Himmel, Himmel und Erde. An diesem Ort, an dem er schläft, gerade hier ist sie erdwärts gestellt, ihm allein in den Traum. Unterwegs wie er sind die Engel Gottes. Unterwegs wie er, doch er selbst kommt nicht voran. Keine Stufe vermag Jakob im Traum zu erklimmen. Fühlte er sich stets dem älteren Bruder gegenüber zurückgesetzt, wollte er stets höher stehen als der Erste, so ist er nun zurückgeworfen. Vor ihm die Treppe, himmelwärts gerichtet, doch im Traum hilft ihm keine List mehr. Das Traumbild zeigt ihm seinen Lebensplan, den er sich, Baustein um Baustein, geschaffen hat. Oben auf der Treppe sieht Jakob Gott stehen (V. 13), sein ganzes Leben zielt auf diese Höhe. Gottes verheißt ihm Land und Nachkommen und stellt ihn damit weit über Esau. Er sieht seinen Weg im Traum und weiß doch, er kann ihn allein nicht gehen. Aber Gott verheißt ihm Beistand für den Weg (V. 15): “Ich bin bei dir und will dich behüten ...” - “Ich habe es nicht gewusst” (V. 16), so sagt es Jakob, aus dem Schlaf erwacht, erstaunt, erschrocken.

Die beiden biblischen Geschwistergeschichten von Kain und Abel sowie von Jakob und Esau gehen nicht gut aus. Beide Protagonisten enden in völliger Distanz zu ihrer sozialen Umwelt, Kain “jenseits von Eden”, Jakob irgendwo in fremdem Land. Ist ein anderer Verlauf der Geschichten denkbar, der wirklichkeitsentsprechende Handlungsalternativen böte?

Meines Erachtens gilt: Wirklichkeitsentsprechende Handlungsalternativen in Richtung eines Kooperierens anstelle des Strebens nach eigener Überlegenheit beziehungsweise der Unterlegenheit des anderen, sind nur dann erfolgversprechend reflektierbar, wenn das leitende Ziel und die Bewegung, die das konkrete Verhalten und Erleben bestimmen, erkannt werden. Dies freilich kann zunächst nur über den Weg hypothetischer Reflexion gelingen.

Von diesem Grundsatz ausgehend können die didaktischen Ziele einer Begegnung (jetzt konkret:) mit den Menschen in der Bibel benannt werden:

Erstens: Die Schülerinnen und Schüler sollen das konkrete Verhalten und Erleben des Menschen in der Bibel wahrnehmen. Sie sollen es mit eigenem konkreten Verhalten und Erleben vergleichen.

Zweitens: Die Schülerinnen und Schüler sollen den Menschen in der Bibel befragen, welche Einstellungen er zu “dem anderen” (hier also Kain zu Abel, Jakob zu Esau) hat. Von dem auf diese Weise erweitert wahrgenommenen Menschen in der Bibel sollen sie sich selbst nach ihren Einstellungen zu “dem anderen” befragen lassen.

Drittens: Dieser Begegnungsprozess soll fortgesetzt werden im Blick auf die Bewertung des bisherigen Lebensweges, der Mittel der Zielerreichung und der Ziele.

Viertens: Die Schülerinnen und Schüler sollen eine Hypothese entwickeln zum leitenden Ziel und zur Bewegung des Verhaltens und Erlebens des Menschen in der Bibel und sodann eine Hypothese zum leitenden Ziel und zur Bewegung ihres je eigenen Verhaltens und Erlebens.

Fünftens: Die Schülerinnen und Schüler sollen Möglichkeiten einer Zielkorrektur bei dem Menschen in der Bibel sowie bei sich selbst prüfen und somit Handlungsalternativen erkennen können. Hier können die Schülerinnen und Schüler die Frage nach einer gottbezogenen Erfahrung oder einer Gotteserfahrung des biblischen Menschen als Grund einer Zielkorrektur stellen beziehungsweise sich diese Frage stellen lassen.

Die beschriebenen didaktischen Ziele implizieren Voraussetzungen sowohl hinsichtlich des Entwicklungsstandes der Schülerinnen und Schüler als auch hinsichtlich des pädagogischen Verhältnisses und der Unterrichtsmethoden.

Zunächst zu den Voraussetzungen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler:

Die Ziele eins und zwei, der Vergleich konkreten Verhaltens und Erlebens und der Vergleich von Einstellungen zu “dem anderen”, setzen, legt man Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung zugrunde 17 , die Stufe des “konkret-operationalen” Denkens, die bei Kindern im Alter von etwa sieben bis elf Jahren zu erwarten ist, voraus. Das heißt, es wird vorausgesetzt, dass sie in der Lage sind, Informationen zu kombinieren, dass sie sich aber von der konkreten Anschauung nicht lösen können.

Die Ziele drei bis fünf hingegen setzen die Stufe des “formal-operationalen” Denkens, die bei Kindern und jungen Jugendlichen im Alter von etwa elf, zwölf bis fünfzehn Jahren zu erwarten ist, voraus und damit die Fähigkeit, formal-abstrakt und hypothetisch zu denken, ohne an konkretes Anschauungsmaterial gebunden zu sein. Insbesondere die Möglichkeit, eine Zielkorrektur zu reflektieren, ist erst auf dieser Stufe gegeben.

Legt man weiterhin Kohlbergs Theorie der Entwicklung des moralischen Urteilens zugrunde 18 , so erfordern die genannten Ziele die erste Stufe des “konventionellen Niveaus” (Stufe 3), die es den Schülerinnen und Schülern erlaubt, die Perspektive eines Individuums, das in Beziehung zu anderen Individuen steht, einzunehmen. Eine konkret individualistische Perspektive (Stufe 2) würde den intendierten Begegnungsprozess erheblich erschweren, ein egozentrischer Gesichtspunkt (Stufe 1) würde ihn unmöglich machen.

Bevor nun die Voraussetzungen hinsichtlich des pädagogischen Verhältnisses und der Unterrichtsmethoden in den Blick genommen werden, soll das bisher Erreichte noch einmal in Auseinandersetzung mit den Entwürfen Baldermanns und Bergs zusammengefasst werden.

4. Die Schülerinnen und Schüler sollen einem Menschen in der Bibel begegnen – ein Mensch in der Bibel soll ihnen begegnen: ein einfacher Perspektivenwechsel (ein induktiver anstelle eines deduktiven Weges) ist nur der erste Schritt.

Ingo Baldermanns Postulat einer der Bibel impliziten Didaktik, die es nur zu entdecken gelte, ergibt zwangsläufig einen deduktiven Weg. Die Bibel gibt ihn über ihre Sprachbewegung vor. Sie spricht mittels der in ihren Sprachbildern verdichteten Grunderfahrungen in die Wirklichkeit der Schülerinnen und Schüler. Kurz: Die Bibel begegnet den Schülerinnen und Schülern.

Horst Klaus Berg versucht, neben diesem deduktiven Weg, den er “bibelorientierte Problemerschließung” nennt, einen zweiten, induktiven, weil bei der Wirklichkeit der Schülerinnen und Schüler ansetzenden Weg, den er “problemorientierte Texterschließung” nennt. Kurz: Die Schülerinnen und Schüler begegnen der Bibel.

Tatsächlich aber unterscheiden sich die Wege kaum. Sie orientieren sich jeweils an den “Grundbescheiden” der Bibel; entweder wird ein Problem einem Grundbescheid zugeordnet oder ein Grundbescheid einem Problem. Weder der “Grundbescheid” noch das Problem werden auf intersubjektiv nachvollziehbarem Weg gewonnen; sie werden vielmehr als Anknüpfungspunkt gesetzt. Das heißt: Das Ineinander von induktivem und deduktivem Vorgehen, das ein Begegnungsprozess wäre, erlaubt die Bibeldidaktik Bergs zwar ansatzweise, jedoch nur in den vorgegebenen engen Grenzen.

So fällt es beispielsweise auf, dass Berg die noch im ersten Band seines Handbuchs des biblischen Unterrichts 19 ausführlich behandelte Geschichte von Kain und Abel im zweiten Band nur noch als Negativfolie heranziehen kann, vor der er den Grundbescheid “Gott schenkt Leben” entfaltet.20 Doch die Geschichte ist komplexer, als dass sie nur für die, wie Berg schreibt, “selbstherrliche Verfügungsgewalt des Menschen über Leben und Tod” stünde. Eine solche Funktion könnte jeder zweite oder dritte Zeitungsbericht auch erfüllen!

Ein erster Perspektivenwechsel und damit ein induktiver Erstzugang zu der biblischen Überlieferung ist zweifellos nötig. Das Prinzip, indem ich dem anderen begegne, genauer: indem ich ihn als Kooperationspartner anerkenne, begegne ich mir, hat grundsätzlich Gültigkeit.

Dennoch ist es nur der erste Schritt. Erst wenn ich mich auch im anderen als anerkannter Kooperationspartner erkenne, beginnt ein Kooperationsprozess. Ein solcher Kooperationsprozess zwischen den Schülerinnen und Schülern und den Menschen in der Bibel ist dann möglich, wenn sie erkennen können, dass das Verhalten und Erleben der Menschen in der Bibel grundsätzlich ihrem eigenen Verhalten und Erleben entsprechen kann (es muss dabei nicht das gleiche Verhalten und Erleben sein, sondern ein vergleichbares).

Unter dieser Voraussetzung kann ein zweiter Perspektivenwechsel gelingen, indem dann der Mensch in der Bibel den Schülerinnen und Schülern als ein sie Fragender begegnet. Erst der ständige Wechsel von induktivem und deduktivem Vorgehen, der ständige Perspektivenwechsel, lässt die Schülerinnen und Schüler teilnehmende Subjekte sowohl an der gegenwärtigen als auch an der biblisch überlieferten Wirklichkeit sein.

Die eingangs gestellte Frage, ob eine als glaubwürdig erkannte Perspektive der Hoffnung allein das angestrebte stabile Fundament bilden kann, wartet noch auf eine Antwort. Immerhin haben die bisherigen Überlegungen gezeigt: Glaubwürdigkeit ist grundsätzlich erfahrbar, wenn aufgrund erweiterter Wahrnehmung Wirklichkeitsentsprechung grundsätzlich erkennbar ist. Eine glaubwürdige Perspektive der Hoffnung ist für Schülerinnen und Schüler jedoch dann ein schwankendes Fundament, wenn das Unterrichtsgeschehen selbst der in der Begegnung mit den Menschen in der Bibel erkannten Möglichkeit zu Empathie und Solidarität widerspricht.

Genauer: Das Unterrichtsgeschehen muss genauso wie der beschriebene Begegnungsprozess ein Kooperationsprozess sein. Das “didaktische Notwendige” ist also weiterhin, die glaubwürdige Perspektive der Hoffnung im Unterrichtsgeschehen - nicht nur erkennbar, sondern - erlebbar werden zu lassen.

5. “Didaktisch notwendig” in der Praxis des Unterrichts ist es, der Entmutigung vorzubeugen bzw. entgegenzuwirken, d.h. zu ermutigen, und die Kooperationsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler zu stärken.

Die von dem Individualpsychologen Robert F. Antoch für die therapeutische Beziehung entwickelte Klärung des Begriffs “Ermutigung” ist problemlos auch für das pädagogische Verhältnis anzuwenden. Antoch schreibt, die Situation, in der jemand jemanden ermutigen kann, sei dadurch gekennzeichnet, dass jemand ein Problem hat bzw. vor einer Aufgabe steht, die er nicht ohne weiteres bewältigen kann und ein anderer entweder von vornherein da ist oder von dem ersten gebeten wird, ihm bei der Problembewältigung zu helfen.

Ermutigung sei somit “... derjenige Kooperationsprozess, der zwischen zwei Personen in Gang kommen kann, wenn der eine zur Lösung eines für ihn allein nicht lösbar erscheinenden Problems die Hilfe eines anderen in Anspruch nimmt. Jeder Versuch der Ermutigung hat zur Voraussetzung, dass sich die Kooperationspartner trotz ihrer verschiedenen Funktionen als prinzipiell gleichwertig verstehen und dass der Partner in der Hilfsfunktion die Lösung nicht mit von außen herangetragenen Mitteln, sondern im wesentlichen mit Hilfe von Mitteln und Motivationen vorantreibt, die er bei seinem Gegenüber vorfindet und belebt. Ein Ermutigungsversuch ist erfolgreich verlaufen, wenn der Betroffene das Problem aus einer erweiterten Einsicht in die eigenen Wünsche und Vorstellungen, in Sachnotwendigkeiten und in die Forderungen seiner sozialen Umwelt einer für ihn und seine Umwelt sachgerechten Lösung zuführen kann”. 21

 

Wie kann sich also Ermutigung im Unterrichtsgeschehen konkretisieren?

Ermutigung kann sich im Unterrichtsgeschehen in emotionaler Hinsicht konkretisieren, indem die Schülerinnen und Schüler als Personen, in ihrem Sosein, entsprechend in allen ihren Äußerungen, ernst genommen werden, indem vor allem ihre Einschätzungen ihrer gegenwärtigen Wirklichkeit, ihres Verhaltens und Erlebens, ihrer Einstellungen zu “dem anderen”, ihrer Mittel der Zielerreichung und ihrer Ziele, erkannt und geachtet werden, so dass sie, ohne Angst um den eigenen Wert haben zu müssen und daher ohne auf Werterhaltungsstrategien zurückgreifen zu müssen, eigene Beiträge leisten können.

Lehrerinnen und Lehrer sollten sich um einfühlendes Verstehen und um die Schaffung und stete Verstärkung einer kontaktgünstigen Atmosphäre bemühen. Die einzunehmende Grundhaltung stimmt mit jener von Carl R. Rogers für den Berater innerhalb der Klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie geforderten Haltung insofern überein, als Akzeptanz, Echtheit und Empathie unbedingte Voraussetzungen der Ermutigung sind. Das heißt, es müssen sowohl solche Erfahrungen bei den Schülerinnen und Schüler vermieden werden, die deren Wert in Frage stellen könnten, als auch alle Bestätigungen von Werterhaltungsstrategien unterbleiben.

Ermutigung kann sich in kognitiver Hinsicht konkretisieren in einem gemeinsamen Wahrnehmen der Wirklichkeit. Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler versuchen, gemeinsam zu einer erweiterten Wahrnehmung zu gelangen, um die Problemlösungskompetenz der Schülerinnen und Schüler zu stärken.

Lehrerinnen und Lehrer haben dabei die Aufgabe, positive Aspekte der je eigenen Ziele und Mittel der Zielerreichung der Schülerinnen und Schüler rückzumelden und damit die Schülerinnen und Schüler vom Druck “so zu sein, aber so nicht sein zu dürfen” zu befreien. Erst die Erfahrung, dass der eigene Wert nicht auf dem Spiel steht, ermöglicht die erweiterte Wahrnehmung.

Ermutigung kann sich schließlich in technischer Hinsicht konkretisieren als eine Übung in Kooperation.

Lehrerinnen und Lehrern haben hier die Aufgabe, ein Training zu leiten und Regie zu führen. Konkret ist es ihre Aufgabe, planmäßig Situationen herbeizuführen, die Erfolgserlebnisse wahrscheinlich machen. Wenn Schülerinnen und Schüler das Erlebnis des “Auch-Könnens” machen sollen, muss der Versuch immer genauso hoch bewertet werden wie der Erfolg. Das Ziel ist es, dass Schülerinnen und Schüler die Erfahrung von gelungener Kommunikation, sodann die Erfahrung von gelungener Partizipation und Kontribution und schließlich von gelungener Kooperation machen können. Die konkreten Methoden sind diesem Weg von der Kommunikation zur Kooperation entsprechend auszuwählen. Eine sinnvolle Abfolge wären beispielsweise Methoden aus den Bereichen Erzählung, Gespräch, Gestaltung und Inszenierung.

6. Biblischer Unterricht soll eine Übung in Kooperation coram mundo et coram Deo sein.

Noch einmal die Eingangsfrage: Kann es biblischer Unterricht leisten, das stabile Fundament einer glaubwürdigen Perspektive der Hoffnung zu bauen?

Zwei Antworten:
Erstens: Wenn sich über den Anknüpfungspunkt interpersonalen Geschehens ein Begegnungsraum öffnet und in ihm ein Begegnungsprozess beginnt, bei dem die Schülerinnen und Schüler teilnehmende Subjekte sowohl an der gegenwärtigen als auch an der biblisch überlieferten Wirklichkeit sein können, ist grundsätzlich kontinuierliche Wirklichkeitsentsprechung der biblisch überlieferten Wirklichkeit gegeben – und damit die als Bedingung der Möglichkeit erweiterter Problemlösungskompetenz erkannte glaubwürdige Perspektive der Hoffnung.
Zweitens: Wenn die Möglichkeit zu Empathie und Solidarität als Handlungsalternative nicht nur erkennbar, sondern im Unterrichts-geschehen durch Ermutigung und Stärkung der Kooperationsfähigkeit auch erlebbar ist, sollte sie auch übertragbar sein in den Kontext eigener gegenwärtiger und zukünftiger Wirklichkeiten.

Ein solcher biblischer Unterricht entspräche dem als “didaktisch notwendig” Erkannten und weiterhin der notwendigen Orientierung des Religionsunterrichts, mit dem er zwar nicht identisch wäre, aber doch ein wesentlicher Bestandteil desselben, an der biblischen Botschaft.

Das gemeinsame erweiterte Wahrnehmen der gegenwärtigen Wirklichkeit ist eine Übung in Kooperation coram mundo (in Gegenwart der Wirklichkeit).

Das gemeinsame, noch einmal um die biblisch überlieferte Wirklichkeit erweiterte Wahrnehmen der gegenwärtigen Wirklichkeit und die damit zu erwerbende Kompetenz im Blick auf zukünftige Wirklichkeiten ist eine Übung in Kooperation coram mundo et coram Deo (in Gegenwart der Wirklichkeit und in Gegenwart Gottes). Ihr gilt die Verheißung Mt 28,20: “Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.”

Auf dem stabilen Fundament einer erkennbaren und erlebbaren glaubwürdigen Perspektive der Hoffnung, und nur auf diesem Fundament, haben Schülerinnen und Schüler schließlich einen sicheren Stand, um Kains Frage zugunsten der Empathie und der Solidarität beantworten zu können: mit einem Ja.

 

Anmerkungen

  1. Leicht überarbeitete Fassung meines Habilitationsvortrages am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Hannover vom 10. Juli 2001. Zur Konzeption vgl. meine Arbeit “Interesse am Mitmenschen. Lebensstilorientierte Bibelerschließung im biblischen Unterricht”, Frankfurt/M. u.a. 2001.
  2. I. Baldermann, Der Gott des Friedens und die Götter der Macht. Biblische Alternativen, WdL 1, Neukirchen-Vluyn 1983, 11.
  3. Ders., in: Christenlehre 12/1990, 358 (kursiv durch M.G.; hier zitiert nach: H. Noormann/U. Becker/B. Trocholepczy Hg., Ökumenisches Arbeitsbuch Religionspädagogik, Stuttgart-Berlin-Köln 200, 49).
  4. Vgl. C.R. Rogers, Entwicklung der Persönlichkeit. Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten, Stuttgart 10. Aufl. 1994.
  5. Vgl. A. Adler, Menschenkenntnis, Leipzig 1927; Nachdrucke der Ausgabe 1947: Frankfurt /M. 1966 u.ö.
  6.  D. Lange, Erfahrung und die Glaubwürdigkeit des Glaubens, Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 18, Tübingen 1984.
  7.  I. Baldermann, Einführung in die Biblische Didaktik, Darmstadt 1996, 9.
  8.  A.a.O., 19.
  9.  Ders., Einführung in die Bibel, 4. Aufl. Göttingen 1993, 28.
  10.  Im Nachwort zu Baldermanns “Der Gott des Friedens und die Götter der Macht” (s.o. Anm. 2), 168.
  11.  I. Baldermann, Einführung in die Bibel (s.o. Anm. 9), 28.
  12. 12H.K. Berg, Grundriß der Bibeldidaktik. Konzepte, Modelle, Methoden, Handbuch des biblischen Unterrichts 2, München-Stuttgart 1993, 76.
  13. A.a.O., 77.
  14. I. Baldermann, Einführung in die Biblische Didaktik (s.o. Anm. 7), 36.
  15. Chr. Kalloch/B. Kruhöffer, Das Alte Testament “unmittelbar” erschließen? Kritische Anfragen an die bibeldidaktische Konzeption Ingo Baldermanns, in: Loccumer Pelikan 2/2001, (59-64) 64.
  16. Vgl. I. Baldermann, Einführung in die Biblische Didaktik (s.o. Anm. 7), 26-29.
  17.  Vgl. J. Piaget/B. Inhelder, Von der Logik des Kindes zur Logik des Heranwachsenden. Essay über die Ausformung der formalen operativen Strukturen, Opladen 1977.
  18. Vgl. A. Colby/L. Kohlberg, Das moralische Urteil: Der kognitionszentrierte entwicklungspsychologische Ansatz, in: G. Steiner (Hg.), Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. VII: Piaget und die Folgen, Zürich 1978, (348-366) 357.
  19. H.K. Berg, Ein Wort wie Feuer. Wege lebendiger Bibelauslegung, Handbuch des biblischen Unterrichts 1, München-Stuttgart 1991.
  20. Ders., Grundriß (s.o. Anm. 12), 79.
  21. R.F. Antoch, Von der Kommunikation zur Kooperation. Studien zur individualpsychologischen Theorie und Praxis, München-Basel 1981, 145.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/2001

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