Religion ist nicht „systemrelevant”, aber lebens- und sterbensrelevant

Von Aleida Assmann

Ich stelle erst mal eine Gegenfrage: Wie systemrelevant ist eigentlich das Wort „Religion“? Es ist inzwischen so abstrakt und fremd geworden. Zum Beispiel durch Modernisierungstheoretiker, die „die Religion“ zur Privatsache erklärt haben, oder durch Philosophen, die 1.700 Seiten über Glaube und Wissen schreiben. Systemrelevant scheint die Religion vor allem für die Politiker zu sein. Vladimir Putin hat dem Heiligen Vladimir kürzlich neben dem Roten Platz in Moskau eine überdimensionale Statue geweiht und Donald Trump weiß genau, dass er ohne die Stimmen der Evangelikalen die nächsten Wahlen nicht gewinnen kann. Das erklärt das gestellte PR-Bild, das ihn mit einer Bibel in der Hand, die er noch nie geöffnet hat, vor der falschen Kirche zeigt, weil er die Denominationen nicht unterscheiden kann. Es ist ein erschütterndes Dokument für Bigotterie und den Verfall des Religions-Diskurses.

Wir wissen es alle: In den strengen ersten Corona-Monaten hat die Religion schlecht abgeschnitten. Krankenhäuser und Supermärkte standen in puncto Systemrelevanz weit höher auf der Dringlichkeitsliste. Die Kirchen konnten ruhig einige Wochen geschlossen bleiben und der Papst durfte mutterseelenallein auf dem einsamen und verregneten Petersplatz die Ostermesse zelebrieren. Das Singen und Beten macht Kirchen und die Gemeindezentren anderer Glaubensrichtungen zu gefährlichen Hotspots der Pandemie.

Noch einmal: Ist die Religion systemrelevant? Das Wort passt einfach nicht auf diese vielgestaltige Beziehung, die Menschen mit dem herstellen und unterhalten, was sie als größer und umfassender erfahren als ihre Alltagsroutinen. Die Erfahrung, bei Krankheit und Tod gänzlich allein gelassen zu sein, unbegleitet vom Zuspruch der geliebten Menschen und abgeschnitten vom Trost der Geistlichen – diese Leerstelle hat man sich vorher so gar nicht vorstellen können. Dieses existenzielle Trauma menschlicher Vereinsamung und spiritueller Obdachlosigkeit steht auf einem anderen Blatt. Denn die Religion ist nicht systemrelevant, aber sicher lebens- und sterbensrelevant.