Lernbewegungen - Wenn Religionspädagogik von Lerntheorie lernt

von Thomas Klie

 

Die Religionspädagogik hatte im Laufe ihrer wechselvollen Geschichte eine Fülle von Lehrmeisterinnen. Zwar wird man in kritischer Rückschau wohl sagen müssen, dass es nicht immer Lehren waren, die ihre gedeihliche Entwicklung beförderten  daran hatten diese gelehrten älteren Damen auch keinerlei erkennbares Interesse , immer aber waren es durchaus anregende Lehrjahre, die Pädagogik, Soziologie und Psychologie für ihre lernbegierige Schülerin, die Religionspädagogik bereithielten. Eilfertig lernte sie neue Vokabeln, drang in ihr unbekannte Theoriegebäude ein und nahm dankbar entgegen, was sich ihr von Gruppendynamik und Seelsorge, Ökumenik und Therapeutik, Symbol und Ritualkunde an jeweils Fortschrittlichem aufdrängte. Dabei ließ ihr mitunter übergroßer Lernfleiß die Religionspädagogik jedoch oft nicht zwischen sie peripher interessierenden und sie wirklich fundamental betreffenden Zusammenhängen unterscheiden  Normatives und Konstitutives gerieten ihr mitunter ebenso bunt durcheinander wie binomische Formeln und unregelmäßige Verben in den Köpfen so mancher Schüler.

Schaut man nun heute in die relevante religionspädagogische Literatur, so gewinnt man schnell den Eindruck, dass die Entwicklungspsychologie momentan das alle andere Disziplinen dominierende Hauptfach für die Religionspädagogik darstellt. Demgegenüber firmieren Ästhetik, Liturgik und Semiotik (noch) als eher randständige Nebenfächer. Dieser Befund spiegelt nicht zuletzt den virulenten gesellschaftlichen Wandel in den Gestaltwerdungen des Religiösen, weg von eher öffentlichobjektiven Formen hin zu privatsubjektiven Annäherungen. Die Religionspädagogik sieht sich genötigt, die Auseinandersetzung mit den Deutehorizonten und den Erschließungsangeboten des Christlichen auch und gerade unter den Bedingungen subjektiver Aneignung denken. Wird Religion zum fakultativen Gegenstand einer auch und gerade durch Sozialisation und Biographie bedingten Auswahl, dann legt es sich nahe, die Funktion individueller Entwicklungs und Erkenntnismodi für die Akzeptanz letzter Gewissheiten präziser als bislang zu erfassen. Die Entwicklungspsychologie verheißt, diesbezüglich das notwendige Instrumentarium bereitzustellen.

Der zuletzt von Goßmann/Mette proklamierte “Perspektivenwechsel”, neben die “Hermeneutik der Vermittlung” in der religionspädagogischen Theoriebildung eine “Hermeneutik der Aneignung” treten zu lassen, die “nach der Struktur der Deutung, die Religion und Glaube als Ereignis der Selbstthematisierung erfahren” , fragt und letztlich die Formulierung einer (für die Didaktik normativ verstandenen) “‘Theologie des Kindes’ oder ‘des Jugendlichen’” programmatisch einfordert, verdeckt jedoch eher die eigentliche Problemstellung als dass er, wie er vorgibt, deren Lösung darstellt. Denn Vermittlung und Aneignung bilden primär personale Relationen pädagogischen Handelns ab  beide sind im Kontext Schule ohne ausgewiesenen Sachbezug und ohne vorlaufende Reflexion der konkreten Lernbedingungen nicht zu denken.

 

Wie lernen wir Religion? 

Wie aber lernen (junge) Menschen? Wie vollzieht sich biographisch bedeutsames Lernen? Und vor allem: Wie lernen wir Religion?

Denkt man Religionsunterricht als einen ergebnisoffenen Prozess, in dem sich nach Möglichkeit biblischchristliche Religion und lebensweltliche Erfahrungen wechselseitig erschließen sollen, dann gilt es zunächst, das Verhältnis von Aneignung und Vermittlung unter dem Aspekt schulischen Lernens zu bedenken. Kommunikationsvorgänge, in denen es um letztverbindliche Selbstdeutungen geht, ereignen sich schließlich nicht im luftleeren Raum. Zwischen Religion und Sprache besteht ein ebenso enges Verhältnis wie zwischen Sprache und Lernprozess en. Lernen wird immer von Sprechakten begleitet, initiiert und gestützt. Mimesis und Poiesis des Seienden vollziehen sich im Modus sprachlicher Interaktion. Sprache ist also ein zentraler Indikator für das Lernen von Religion.

In dem hier vorgetragenen lerntheoretische Gedankengang sollen die spezifischen Verlaufsformen des Lernens in den Blick kommen und auf ihre Kompatibilität mit den Spielformen religiösen Lernens hin befragt werden. Insofern kann es hier auch nicht um eine Revision der einschlägigen entwicklungs bzw. kognitionspsychologischen Entwürfe gehen, sondern vielmehr um eine sprachanalytische Konturierung des Lernbegriffs.

Zu den elementaren Konstitutionsbedingungen jedweder schulischer Systeme gehört, dass sich in ihnen aufgrund von didaktisch motivierten und intentional gesteuerten Lehrarrangements Lernen mehr oder minder planvoll vollzieht. Das gilt natürlich auch für den Religionsunterricht. Lernen, zumal in strukturierten Zusammenhängen und öffentlichrechtlich verantwortet, ist jedoch keineswegs als gleichförmiger Prozess einer widerspruchsfreien und erfahrungsunabhängigen Assimilation vermittelter Inhalte beschreibbar. LehrLernkonstellationen werden immer auch durch Vorgaben mitbestimmt, die in, mit und unter einer aktuellen Lernsituation bestehen. Das Subjekt lernt durch Rekurse auf Erfahrungsbestände, durch Verweise auf Gewusstes und Vorgelerntes. Nur so kann Neues in bereits vorhandenes Erfahrungswissen integriert, Gegebenes neu geordnet, transformiert werden. Ohne die grundsätzlich vorgängige Möglichkeit, einen wie auch immer gearteten Lerngegenstand als die eigene Wirklichkeit betreffend zu identifizieren, hat das Subjekt nur geringe Chancen zum lernenden Weltaufschluss. Lernen beruht mithin auf affinen Relationen zwischen personaler Situiertheit und den Tiefenstrukturen eines in lehrender Absicht ausgegliederten, fremden Bedeutungszusammenhangs.

Auch im Religionsunterricht geht es um das produktive InBeziehungSetzen von personaler Situiertheit (Erfahrung im weitesten Sinne) und unterrichtlich ausgegrenzten Bedeutungszusammenhängen (religiöse Gewissheiten). Dem scheint zunächst zu widersprechen, dass das “Kriterium der Religion” (Ebeling), der Glaube, didaktisch weder herzustellen noch direktem Zugriff zugänglich gemacht werden kann. Glaube als unmittelbares Ergriffensein von Gottes Gebot und Verheißung kann weder gelernt noch gelehrt werden. Mitteilbar und damit lernbar sind jedoch die je konkreten Erfahrungen, die ein solcher Gottesglaube ermöglicht und bereithält. Diese Glaubenserfahrungen weisen über sich hinaus auf ihren Ermöglichungsgrund. R.Kabischs Frage “Wie lehren wir Religion?” lässt sich also nur in Bezug auf Formen möglichen Selbstvollzugs des Glaubens (fides qua), d.h. in Bezug auf Gestaltwerdungen von Religion adäquat beantworten. Sprechakte zählen in besonderer Weise zu den Gestaltwerdungen von Religion.

 

Modalitätsübergreifendes Lernen

Lernen bezeichnet einen Vorgang, in dem individuelles Erfahrungswissen erweitert, neu gestaltet bzw. verändert wird; es beschreibt einen an Erfahrung gebundenen Veränderungsprozess. Im Rahmen dieses Prozesses geschieht die Aneignung neuer Bedeutungszusammenhänge innerhalb mentaler, kommunikativer und objektivierender Modalitäten. Schulisches Lernen setzt sich in der Regel aus Sequenzen von einander ablösenden und sich überlagernden Modalitäten zusammen; es ist “von vornherein auf die Komplementarität mentaler, kommunikativer und objektivierender Modalitäten angelegt” . Die Dauerhaftigkeit und Intensität des Gegenstandszugangs hängen einerseits davon ab, wie eng typische Modalitätssequenzen miteinander vernetzt sind, andererseits aber auch davon, in welchem Maße das zu Lernende an schon vorhandene Wissens und Erfahrungsbestände anknüpfen und in sie integriert werden kann. Lernproblematiken, die biographisch nah am Lernsubjekt orientiert sind und die auf einen hohen Organisationsgrad des Vorgewussten treffen, können dabei viel effektiver und tiefer durchdrungen werden. Die mentalen Modalitäten des Lernenden sind im erschließenden Zugang zur Welt auf wechselseitige Durchdringung mit kommunikativen und objektivierenden Modalitäten hin angelegt. Lernen ereignet sich im Idealfall als ein kumulativer Prozess eines sich anreichernden und differenzierenden Zusammenhangwissens. Dabei spielen  wie jeder Unterrichtende weiß  vielfältige Verweisungsstrukturen (Assoziationen, Einfälle, Analogien, Anknüpfungspunkte etc.) eine wichtige Rolle.

Diese modalitätsübergreifenden Verweisungszusammenhänge bilden nun gleichsam die inneren Strukturmomente des Lernens ab; als solche berühren sie aber nur sehr bedingt die Ebene intentionalen Lernens und Lehrens. Genau dies aber ist grundlegendes Merkmal schulischen Lernens. Unterricht ist in aller Regel planvolles Tun. In ihm geht es in verändernder Absicht um gezielte Integration neuer Zusammenhänge in vorgängiges Erfahrungswissen. “Veränderung ist das generelle Explanandum aller Lerntheorien.” Aber auch als zielgerichtete Veränderung bleibt sie immer verwiesen auf Organisationsmuster, die der aktuellen Lernintention vorauslaufen. D.h. intentionales Lernen ist nur im Zusammenhang mit vorintentionalen Gegebenheiten adäquat beschreibbar. Bezogen auf den Religionsunterricht folgt daraus, dass ein verständniserweiterndes Anteilgeben an Religion schwerlich gelingt ohne Rekursmöglichkeiten auf Entwicklungsbedingungen, Erfahrungsbestände und individuelle Zugangsweisen.

Diese “religionspädagogische Binsenweisheit” (Fr.Schweitzer) bedarf jedoch in zweierlei Hinsicht einer lerntheoretischen Präzisierung. Zum einen ist zu fragen, wie sich Erfahrungswissen (sprachlich) organisiert und zum anderen, in welcher Weise Lernende sich dieses Erfahrungswissen in Lernprozess en erinnernd vergegenwärtigen. Im folgenden sollen zunächst die lerntheoretischen Implikationen der Selbstorganisation von Erfahrung bzw. latenten Wissensbeständen aufgewiesen werden, um dann im Anschluss an Holzkamp und Galliker eine Theorie affinitiven Lernens zu skizzieren.

 

Affinitive und definitive Äußerungen

Ausgehend von der Sprechakttheorie untersuchte der Sprach und Kognitionspsychologe Galliker Gesprächsprotokolle auf das Zeit und Wirklichkeitsverständnis hin, das sich in ihnen konstituiert. Er fand heraus, dass sich Sprechen und Erinnern in der Differenz zwischen sog. affinitiven und definitiven Sätzen aktualisiert. Mit ihnen bringen die Sprecher in je unterschiedlicher Weise subjektiv empfundene Zeit und Bedeutungsrelationen zum Ausdruck.

“Religion haben wir bei Frau M. in der 5.Stunde.”
“Der Vater hat den verlorenen Sohn wieder in den Arm genommen.”

“Ich frage mich manchmal, wie ich Religion in der 5.Stunde bei Frau M. aushalten soll.”
“Die Stelle, wo der Vater den Sohn in den Arm nimmt, gefiel uns immer am besten.”

In affinitiven Sätzen dagegen kongruieren sprachlicher Ausdruck und Thema; sie vermitteln Sinn, der sich in neue Bedeutungen transformiert. Die Trennung zwischen zuordnendem Subjekt und untergeordnetem Objekt verschmilzt in ihnen. “Affinitive Sätze werden (...) als mediatorische mehrdeutigmetamorph ausgestaltet. Mit ihrem vielseitigen Charakter vereinigen sie bewusste und unbewusste Bereiche. Sie erschließen gerade das, was durch die direkten Sprechakte weggeschoben bzw. ‘verdrängt’ wird, und können somit als ‘vorbewusste Verbalisierungen’ bzw. ‘Thematisierungen’ verstanden werden.” Sie haben erschließenden Charakter, weil sie “etwas aufkommen lassen”. Der Inhalt und die Art und Weise, wie sie sich im Sprechen aktualisiert, entsprechen sich in gewisser Weise. Der Sprechende erschließt sich den Sinn dessen, was er berichtet, gleichsam selbst, ohne ihn jedoch eindeutig zu fixieren; er scheint sich im Vollzug zu transformieren. Wirklichkeit erweist sich durch das aktuelle Sprechen als gedeutete, eigene Wirklichkeit. Die ausgeführte Gegenwart dehnt sich über die der Darbietung aus und eröffnet zeitliche Tiefenstrukturen.

Unter Zugrundelegung dieser kategorialen Differenzierung formuliert Galliker seine Affinitätshypothese (der sprachlich gefaßten Erinnerung): Affinitive Sätze ermöglichen Vergangenheitsverweise durch analogische Vergegenwärtigungen, in ihnen werden durch “Entsprechungsreihen” zeiträumliche Korrespondenzen zum Ausdruck gebracht. Gegenwart “dehnt” sich zeitlich in affinitiven Phrasen; sukzessiv einander substituierende Einheiten öffnen bedeutungsrelevante Tiefendimensionen, “ohne Realität zu eliminieren oder dingfest zu machen. (...) Die Vergangenheit wird durch ein Analogon zum gegenwärtigen Sinn vermittelt. (...) Alles was sich unter der Voraussetzung eines affinitiven Realitätsbezuges als gegenwärtig vorstellt, verweist zugleich auf die Vergangenheit” . Definitive Sprache ist dagegen zwar eine zentrale und notwendige Voraussetzung des Vergangenheitsverständnisses, aber sie konstituiert sich nicht in ihr.

Die Resonanzen, die in affinitiver Sprache freigesetzt werden, beruhen auf sedimentierten Erfahrungen, die in sprachlicher Gestalt gleichsam an die Oberfläche gelangen. In der aktuellen Sprache werden diese Sinnzusammenhänge in der Regel unbewusst realisiert. In affinitivem Rededuktus klingen nun diese vielfältigen, für den Sprecher selbst nicht immer wahrnehmbaren Konnotationen an. “Nicht ich spreche, nicht du sprichst, sondern es spricht.” Affinität bezeichnet also einerseits das Verhältnis zwischen diesen metasprachlichen Ablagerungen und deren diachroner Realisierung; gleichzeitig gibt sie aber auch die Bedingung der Möglichkeit ihrer synchronen Rekonstruktion an. Die zeitlichen Tiefendimensionen einer sich (sprachlich) weitenden Gegenwart können in affinitiven Lernschritten als bedeutungstragend und damit als für das Subjekt sinnvoll erfahren werden. Zum dritten  und hiermit deutet sich deren mögliche Bedeutung für einen lerntheoretischen Transfer an  impliziert das Konzept affinitiven Weltbezugs genuin kommunikationsstiftende Aspekte. “Da wir in einer sprachlichen Wirklichkeit zuhause sind, befinden wir uns immer schon im Brennpunkt semantischer Strukturen, die gesellschaftlich konstituiert sind und als solche nicht subjektiv, sondern intersubjektiv vermittelt werden. Die Sprache samt ihrer Struktur existiert, bevor der einzelne menschliche Organismus in sie eintritt. (...) Die Menschen leben als Kommunikationspartner in formellen sowie informellen Kommunikationsstrukturen, die nicht nur die aktuelle Sprache supponieren, sondern auch als Ressource von Bedeutung sind.”

Affinitive Kommunikation besitzt für die jeweils Beteiligten eine Plausibilität und Evidenz, die definitiver Sprache  auch und gerade in didaktischen Kontexten  schlechterdings nicht zugänglich sind. “Jede Bedeutung, zu der man sich nicht definitiv verhält, kann Resonanz auslösen.”

Nun ist Lernen kein rein innersprachlicher Vorgang. So sehr mentale, kommunikative und objektivierende Modalitäten bestimmte Sprachspiele voraussetzen, sind die in der Affinitätshypothese behaupteten Selbstorganisationsprozesse immer auch involviert in außersprachliche, z.B. perzeptive, kognitive oder emotionale Muster. Es ist eben dieser Umstand, der die Relevanz von Gallikers Modell für pädagogische Prozesse ausmacht und der es als Sonderfall einer allgemeinen Theorie des Lernens ausweist. Er eröffnet die lerntheoretische Zuordnung von Erfahrung und Veränderung innerhalb didaktischer Vollzüge.

Veränderung bedingt Auseinandersetzung mit Unvertrautem und Fremdem, ohne Dissonanzen und Irritationen ist Lernen nicht denkbar. Bei der gängigen Verdoppelung von Schülererfahrungen im Unterricht (sog. Brainstorming; Betroffenheitsphasen; “Schön,dasswirdarübergeredethaben”Sequenzen) wird kein nenneswerter Lernzuwachs erzielt. Gleichwohl setzen Fremdheitserfahrungen immer auch Be und Gekanntes voraus, sind sie doch nur so als Fremdes überhaupt wahrnehmbar. Das zu Lernende muss also durchaus neu und anders sein, nicht jedoch grundsätzlich, sondern eher anschlussfähig anders. Da sich in affinitiven Zugehensweisen immer auch die Voraussetzungen der jeweiligen Lernsituation aktualisieren, kann die Differenz zwischen dem noch unvertraut Neuen des Lernzusammenhangs und den möglichen Anknüpfungspunkten im durchaus vertrauten Erfahrungswissen auf diese Weise entdeckend erspielt und dadurch verringert werden.

Insofern sich unterrichtliches Lernen jedoch in der Regel auf Bestimmbares bezieht, also mithin formal definitiven Charakter hat, stellt sich die Frage nach der Möglichkeit einer ziel und gegenstandsorientierten Freisetzung affinitiver Lernphasen. So wird die Ausgliederung und Abgrenzung eines zunächst zugemuteten Unterrichtsgegenstands eher auf definitivintentionalem Wege zu erfolgen haben, obschon die affinitive Perspektive bereits in gewisser Weise die Bedingung dafür ist, dass die Diskrepanz zwischen Erfahrungs bzw. Wissensbestand und zu Lernendem als bedeutsam erfahren werden kann. So kann bspw. eine Motivationsphase im Unterricht nur gelingen, wenn von vornherein die Bezüge des jeweiligen Themas zur Wirklichkeit der Schüler eine entsprechende Lernbewegung in Gang zu setzen vermögen. In jedem Fall jedoch beinhaltet das planvolle Arrangieren von konkreten Lernbedingungen eine vorlaufende Verhältnisbestimmung zwischen affinitiven und definitiven Optionen im LehrLernprozess . Beim direkten Versuch, ein Themenfeld über operationalisierbare Unterrichtsziele zu strukturieren, kann die “Lerndimension nicht als im Schnittpunkt vielfältiger Verweisungen liegendes wesentliches Kennzeichen der jeweiligen Problematik ausgegliedert werden, die emotional bewerteten Komplexqualitäten schließen von vornherein relevante Bezüge des Lerngegenstands aus, und die Stelle, von der aus ich die Lerndiskrepanz als Leitlinie der Überwindung der Lernproblematik ansetze, bleibt somit mehr oder weniger zufällig: So kriege ich, gerade weil ich unmittelbar und kurzschlüssig auf Festlegungen und Identifizierungen aus bin, die inneren und äußeren Bedeutungsbezüge des Lerngegenstands nur in beschränkter und einseitiger Weise mit und weiß letztlich selbst nicht, wo ich mit meinen Lernanstrengungen hingeraten werde.” Es gilt also zu berücksichtigen, inwieweit spezifische Lernproblematiken affinitive Verweisungszusammenhänge ermöglichen, die dann im folgenden in definitiv zu bestimmende Lernfortschritte qualifizierend einmünden können.

 

Bedeutungen erspielen

Eine affinitive Didaktik setzt auf die grundsätzliche Möglichkeit eines eher assoziativspielerischen Ertastens von sprachlich verfassten Bedeutungszusammenhängen. Das Spiel bzw. die Integration spielerischer Sequenzen in den Lernprozess erweist dabei sich als einschlägiges Paradigma einer solchen Lerntheorie. Analoge Erfahrungen werden nicht von vornherein in definitivem Kurzschluss, sondern innerhalb von Lerndiskrepanzen sukzessiv angeglichen. “Infrastrukturelle Bedeutungsrelationen des nie völlig neuen Lerngegenstandes werden so in den Angleichungsprozess einbezogen, als handelte es sich schon um den Nachvollzug desselben. In dem Maße, wie sich das Unvertraute als Vertrautes verstehen, umstrukturieren und damit verankern lässt (...), verliert es seinen fremden Charakter.” Dies schließt die Möglichkeit qualitativer Lernsprünge nicht aus, sondern ein. Der Lernweg vom Vertrauten zum unvertraut Neuen vollzieht sich nicht nur in kontinuierlicher Angleichung, sondern mitunter auch sprunghaft und unkalkulierbar, gerade weil affinitive Verweise immer nur personengebunden realisiert werden. Das versuchsweise Eindringen in die Tiefenstrukturen semantischer Netzwerke eröffnet “Diskrepanzerfahrungen höherer Ordnung” , die nicht mehr allein aus den Optimierungen des initialen Lernprinzips möglich sind.

Dem Unterrichtenden fällt nun in diesem Konzept die Aufgabe zu, im Rahmen eines ausgegliederten thematischen Zusammenhangs produktive Resonanzen zu eröffnen. Deren Zielrichtung müssen dabei zunächst einmal offen bleiben, weil sie nur sehr bedingt didaktisch vorhersagbar sind und sich nicht intentional erfassen lassen. Darin rückt das Modell affinitiven Lernens zumindest formal in eine große relative Nähe zur Theorie des entdeckenden Lernens . In schulischen Kontexten, in denen es in erster Linie um die operative Realisierung eines vorgegebenen Curriculums geht, fungiert es als ein kritisches Korrektiv. Entgegen einer (immer noch) dominierenden Lernzielfixierung erfährt hier die ergebnisoffene Auseinandersetzung mit den thematischen Bezügen im Vollzug des Lernens eine besondere Stärkung. “Thematisch dominiertes expansives Lernen ist (...) immer auch ein Prozess der Vermeidung von Einseitigkeiten, Fixierungen, Verkürzungen, Irrwegen, Sackgassen beim Versuch der Gegenstandsannäherung.” Das eigene Movens, das sich aus den möglichen Resonanzen modalitätsübergreifender Verweisungszusammenhänge speist, setzt aus sich heraus den Grad, die Dauer und im Idealfall auch die Ziele eines lernenden Eindringens in das Thema frei. Der Lernstimulus ist in die innere Struktur der individuellen Bedeutungszuweisungen mit einbezogen, bleibt darin aber  rückblickend im Ordnen von Zwischenzielen bzw. vorausschauend bei der Realisierung weiterer inhaltlicher Aspekte  immer auch verwiesen auf definitive Lernaktivitäten. Das Alternieren zwischen affinitiven und definitiven Phasen ist also konstitutiv für expansive Lernbemühungen.

Die Ermöglichung affinitiver Lernepisoden bedingt aber nicht nur eine Akzentverschiebung im Hinblick auf die innere Organisation subjektiver Aneignungsformen, sondern sie relativiert gleichzeitig auch die traditionellen Machtverhältnisse in LehrLernprozess en. So kommt die fachwissenschaftliche Kompetenz der Unterrichtenden hier lediglich in der Bereitstellung und Verantwortung von Lerngelegenheiten zum Ausdruck (ähnlich einem Regisseur im Theater) und nicht etwa wie beim Prinzip der sog. “Handlungsorientierung” dadurch, dass die Schüler durch gezielten Informationsentzug den Erkenntnisvorsprung des Lehrers einzuholen genötigt werden. Die Lernwege ergeben sich in affinitivem Zugang ja gerade im Zurücknehmen intentionaler Fixierungen und im Zulassen von Spielräumen. Damit sind die spezifisch schulischen Rollenzuweisungen zwischen Lehrenden und Lernenden zwar nicht von vornherein aufgehoben, aber sie aktualisieren sich im Lernprozess in erster Linie als Perspektivendivergenzen: Der Unterrichtende stellt verantwortete Lerngelegenheiten bereit, bei denen seine Kompetenz durch wissensuchende Fragen jederzeit einholbar und begründungspflichtig ist. Er steht also weniger zwischen den Lernenden und dem Thema, sondern er verortet sich gewissermaßen neben den Lernenden und mitten im Thema. Denn er ist ja immer bereits vorab involviert in das semantische Netzwerk einer ausgegliederten gemeinsamen Lernproblematik. In affinitiven Lernarrangements kommen also die jeweils individuellen Lernbiographien aller am Unterrichtsprozess Beteiligten in perspektivisch voneinander abweichenden Zugehensweisen zum Ausdruck.

 

Religionspädagogische Erträge

Was trägt nun diese Reflexion über die Modalitäten schulischen Lernens religionspädagogisch aus?

Das Konzept affinitiven Lernens erlaubt zunächst formal eine lerntheoretische Zuordnung von Erfahrung und Veränderung in unterrichtlichen Vollzügen. So fordert P.Biehl für den Religionsunterricht: “Lernprozess e sollten dementsprechend so gestaltet werden, dass die Erfahrungen der Teilnehmer thematisiert und gebündelt werden, damit die biblische Verheißung sich an diesen Erfahrungen als das erweisen kann, was sie ist. (...) Wir können Lernprozess e mit offenem Ausgang initiieren, (...) so dass dem ‘subjektiven Faktor’ Spielraum gegeben werden kann ... .” Versteht man Erfahrung als ein ins Bewusstsein gehobenes und in einen umfassenden Verstehenshorizont integriertes gedeutetes Erleben, dann meint religiöse Erfahrung die Möglichkeit, eine bestimmte Erfahrung mit aller Erfahrung zu machen bzw. Alltagserfahrungen im Licht und aufgrund eines sehr spezifischen sinngebenden Interpretationsrahmens wahrzunehmen. Religionspädagogisch beschreibt dann Veränderung eine Neuorientierung und Umgestaltung dieses Interpretationsrahmens und des daraus resultierenden Welt und Selbstverhältnisses. Biblische Wortlaute in den Kommunikationszusammenhang ‘Unterricht’ einzuspielen, setzt dabei auf das ihnen innewohnende Vermögen, aufgenötigtes Systemvertrauen im Resonanzbereich Jesu Christi transformierend verändern zu können. Nicht der Ausleger legt die Heilige Schrift aus, sondern umgekehrt: der Ausleger selbst wird von ihr ausgelegt. Ob und inwiefern es daraufhin zu einer letztverbindlichen Revision der eigenen religiösen Selbstdeutung kommt, ist kontingent, aber durchaus möglich.

  1. Vor dem Hintergrund verheißener Lebensdienlichkeit bekommt religiöses Lernen ein Woher und ein Wohin bzw. mit Jesus Christus ein auktoriales Subjekt und im Medium des Wortes ein angesprochenes Gegenüber. Veränderung wird zu einer gerichteten Veränderung. Die Verstehensbedingung dafür sind affine Resonanzen mit lebensweltlichen Erfahrungen. Denn nur vor dem Hintergrund des Alltäglichen kann der Anspruch des Möglichen, NichtAlltäglichen überhaupt realisiert und religionspädagogisch offengehalten werden. In Phasen affinitiven Lernens können sich die Schüler bspw. ihnen zugespielte biblische Verheißungen als für sie womöglich relevante Zusagen erspielen und tentativ erschließen. Als definitiver (Lern)GegenStand ermöglichen sie es, von verheißener Zukunft her die Zweckrationalität der Wirklichkeit in den Blick zu nehmen, um so womöglich die “ScheinUnendlichkeit der Alltagswelt” aufzubrechen. Erfahrungen zugemuteter Kontingenz können so heilsam begrenzt bzw. überhaupt erst als solche wahrgenommen werden.
  2. Religion umschließt immer auch den Zeitaspekt menschlicher Gotteserfahrung. Mit dem Konzept affinitiven Gegenstandsbezugs sind die methodischen Bedingungen gegeben, über assoziativspielerische Herangehensweisen die sprachlich vermittelten Tiefendimensionen biblischer (Erfahrungs) Texte auszuloten. Ebenso können sprachliche Interakte auf Indikatoren religiöser Rede hin befragt werden. Im probeweisen SichEinlassen auf religiöse Deutungsmuster wird Zeit  als Lebenszeit, Gotteszeit oder Endzeit  zur Sprache gebracht und ihr damit (reflexiv) Bedeutung zugewiesen. Auch und gerade im gemeinsamen Gespräch können Wahrheitsansprüche nur relational und performativ, eben als Beziehungsereignis evident werden; Verstehen erwächst dabei aus “spielerischer” Teilhabe. Ein Unterricht, der “verheißungsvolle” Lernchancen eröffnen will, lebt von diesen offenen Kontexten.
  3. Die lerntheoretischen Überlegungen konturieren auch die Funktion und Rolle des Unterrichtenden im Lernprozess . Als personaler Repräsentant seiner Religion hat er den Religionsunterricht theologisch und pädagogisch zu verantworten. Seine Professionalität (professio  wörtl.: öffentliches Bekenntnis) kommt zum Ausdruck im reflektierenden Umgang mit Religion und im Eröffnen schülernaher Zugänge zu Religion. Er steckt gleichsam den pädagogischen Handlungs(spiel)raum ab für das  lerntheoretisch ausgedrückt Wechselspiel affinitiver und definitiver Lernphasen. Seine konfessorische Kompetenz aktualisiert sich in der sachangemessenen Zuspitzung, in der er dem christlichen Glauben als Kriterium der Religion im Unterrichtsprozess Gestalt verleiht. Je weniger der Religionsunterricht institutionell noch rechtlich an bestimmte Religionsgemeinschaften zurückgebunden wird, desto mehr kommt es darauf an, so folgert Chr.Bizer, “dass konkrete Religion nach eigenen spezifischen ‘Grundsätzen‘ didaktisch konturiert herausgearbeitet wird, damit sie (...) in ihrer zentralen Inhaltlichkeit erarbeitet und erwogen werden kann. Damit ist der Religionslehrer bei seiner Profession.” Im Religionsunterricht kann dies nicht unter Absehung von biographischen Gestaltwerdungen des Glaubens geschehen. Die persönliche Glaubens und Theologiegeschichte des Unterrichtenden bestimmt immer schon vorab die didaktische Struktur und die methodischen Entscheidungen; das Bezeugen und Bedenken christlicher Religion sind nicht auseinanderdividierbar.Das expansive Lerninteresse der Schüler soll sich dabei jedoch weder am persönlichen Glauben des Unterrichtenden noch an einem von seiner Subjektivität vollends losgelösten Unterrichtsthema orientieren, sondern vielmehr an der Art und Weise seines Gegenstandsverhältnisses: Seine konfessorische und theologische Kompetenz muss innerhalb dieser SpielRäume jederzeit abrufbar sein. Er hat die Zirkel rationaler Plausibilitäten zu öffnen für die Kontrafaktizität christlichen Gottvertrauens. Die Bereitstellung offener SpielRäume kommt hierin den subjektiven Aneignungsstrukturen der Lernenden entgegen, ohne dass dadurch deren Rezeptionshorizonte zum normierenden Kriterium für die Inhalte und Ziele des Unterrichts gemacht werden.