Gesehen: Der Himmel wird warten

Von Kirsten Rabe

 

„Wir bevorzugen konvertierte Frauen. Ihr seid ernsthafter in der Religion. Und ihr seid die besseren Ehefrauen.“ – Dieser Satz, der die zuschauende Theologin mehr als befremdet, ist in „Der Himmel wird warten“ einer der entscheidenden, mit denen Abu Hussein die sechzehnjährige Mélanie nach Syrien rekrutiert. Und das, obwohl Mélanie eine kluge, selbstbewusste, attraktive und beliebte Schülerin der gymnasialen Oberstufe ist, die wunderbar Cello spielt, vielfach interessiert ist und sich nicht nur gut mit ihrer alleinerziehenden Mutter versteht, sondern sich auch liebevoll Tag für Tag um ihre Oma im Pflegeheim kümmert. Der katholisch geprägte Glaube ihrer Oma begleitet sie, ohne dass sie selbst – mit Ausnahme der Vorstellung von Engeln – feste Glaubensüberzeugungen für sich formulieren könnte.

Als ihre geliebte Oma stirbt, sucht Mélanie Antworten auf diesen Verlust und sie findet Trost bei „Freigeist“, einer anonymen Facebook-Freundschaft. Hinter dem positiv konnotierten Nickname mit dem Profilbild eines herrschaftlichen Löwen verbirgt sich Abu Hussein. Was hier mit Worten des Trostes über den Tod eines lieben Menschen beginnt, geht weiter im Teilen von YouTube-Videos, die dafür werben, diese Welt zu verändern, und endet mit deutlich formulierten Besitzansprüchen von Abu Hussein an Mélanie: „Ich will, dass du mir gehörst.“ Er wird zu ihrem Prinzen, der sie heiraten und dem sie gehören wird. Sie gibt alles auf: ihre Freunde, Partys und Spaß, ihren schulischen Erfolg, das gute Verhältnis zu ihrer Mutter. Sie muss ihm sogar versprechen, sich von ihrer Musik zu trennen. Das letzte Spiel auf ihrem Cello geschieht in der Burka – bestellt im Internet. Die Reise nach Syrien, wo sie Abu Hussein zum ersten Mal persönlich begegnen soll, ist für Mélanie schließlich der einzige und richtige Weg: „Ich hasse Frankreich, das Land der Ungläubigen. Ich will mit meinem Prinzen weggehen.“

Auch die zweite Geschichte, die dieser Film als Parallelhandlung erzählt, ist die einer attraktiven und selbstbewussten jungen Frau. Sonja ist siebzehn und als der Zuschauer sie kennen lernt, ist sie gerade mit ihren Eltern, der kleinen Schwester und ihrem Freund im Sommerurlaub, steht auf der Terrasse eines großzügigen Ferienhauses und schaut auf das Meer hinaus. Dass Sonja ansonsten permanent über ihr Smartphone kommuniziert, irritiert zunächst nicht. In der Nacht nach ihrer Rückkehr stürmt eine schwer bewaffnete Anti-Terror-Einheit das Haus der Familie, Sonja wird aus dem Bett gezerrt und verhaftet. Als die Eltern ihre Tochter aus dem Polizeigewahrsam holen wollen, müssen Sie erfahren, dass Sonja nach Syrien gehen wollte und an der Planung eines islamistischen Anschlags in Frankreich beteiligt ist. Sie wird unter strengen Auflagen entlassen und darf sich weder allein außerhalb des elterlichen Hauses bewegen noch in die Schule gehen. Eine schwere Zeit beginnt, an der die Familie beinahe zerbricht. Die verzweifelten Eltern und die zutiefst verunsicherte jüngere Schwester müssen erleben, wie Sonja zwischen aggressiven und völlig verschlossenen Phasen schwankt, das Essen verweigert, Gesprächsversuche des Vaters hasserfüllt zurückweist („Allah steht über dir!“) und auf die Verzweiflung der Mutter („Ist es deine Aufgabe, mit Siebzehn zu sterben?“) mit fanatischen Bekenntnissen antwortet: „Wir lieben den Tod mehr als ihr das Leben. Lass mich gehen, sonst sind wir alle verloren. Du bist eine Ungläubige, du kommst in die Hölle.“ Sonja ist der festen Überzeugung, für den Islam sterben zu müssen, um 70 Menschen vor der Hölle zu bewahren. Sie hat Todesangst um ihre Familie.

Verknüpft werden die beiden Parallelgeschichten von Mélanie und Sonja durch den dritten Erzählstrang: die Szenen, in denen die Eltern beider Mädchen gemeinsam mit anderen betroffenen Eltern und jugendlichen Opfern der IS-Rekrutierung Hilfe suchen. Dass Dounia Bouzar, Anthropologin und Leiterin einer ehemaligen Hilfsorganisation in Frankreich, hier nicht durch eine Schauspielerin dargestellt wird, sondern selbst agiert, beeindruckt sehr und gibt dem fiktiven Film eine sehr authentische Note. Vor allem durch ihre Person schafft es der Film, die Unterscheidung zwischen dem, was Dounia Bouzar als praktizierende Muslima unter ihrer Religion versteht, und dem, was Anhänger des IS als „Islam“ behaupten, sensibel präsent zu machen.

Die zeitlichen Abfolgen im Film sind geschickt: Der dritte Erzählstrang spielt gegenwärtig. Sonjas Eltern gehen gemeinsam mit ihrer Tochter in den vielen Beratungsgesprächen den Weg hinaus aus der Abhängigkeit von der IS-Ideologie. Der Film zeigt schonungslos, wie schwer das ist: „Ich war im Internet. Es war stärker als ich. Ich hab Angst, verrückt zu werden.“ Parallel zu diesem Prozess wird aufgedeckt, wie es zur Verhaftung kommen konnte – ohne dass die Eltern etwas bemerkt hatten.

Auch Sylvie, Mélanies Mutter, gehört zur Gruppe der betroffenen Eltern. Mélanies Geschichte in die Fänge der IS-Ideologie hinein wird chronologisch erzählt und erst nach und nach erkennt die Zuschauerin, dass mit Sylvie dort eine Mutter sitzt, deren Tochter sich jetzt gerade in Syrien befindet und zu der sie keinerlei Zugang mehr hat.

Der Film schließt mit einer Umkehrung der Anfangsszenen: Während Sonja sich erneut mit den Menschen, die ihr lieb sind, im Urlaub befindet und den Weg ins Leben zurückgefunden hat, geht Mélanie voll verschleiert die letzten Treppenstufen zu einer Moschee in Syrien hinauf.