Diagnose „konfessionslos“ – Was heißt das religionspädagogisch?

Von Michael Domsgen

 

Konfessionslosigkeit steht schlagwortartig für eine Entwicklung, die mit den Begriffen der Irrelevanz, Sprachlosigkeit und Indifferenz im Blick auf christlich-religiöse Deutungsmuster und Lebenspraktiken beschrieben werden kann.

Um es gleich vorwegzunehmen: Wenn hier von einer Diagnose die Rede ist, dann geschieht das nicht im alltagssprachlichen Sinn. Es geht nicht um die Bestimmung einer Krankheit. Vielmehr gebrauche ich den Begriff im Sinne des griechischen Diágnosis, was so viel bedeutet wie Unterscheidung oder Beurteilung. Denn genau darum handelt es sich bei dem Begriff „konfessionslos“. Er ist eine Zuschreibung, und zwar eine aus einer spezifischen Sicht. Damit verbinden sich Chancen und Grenzen. Davon ist in der ersten Annäherung zu sprechen. Auf dieser Grundlage soll im zweiten Schritt danach gefragt werden, worauf konfessionslose Kinder und Jugendliche unseren religionspädagogischen Blick lenken, um im dritten Zugang danach zu suchen, was sich in handlungsorientierender Perspektive daraus ergibt.


Erste Annäherung:
Was verbirgt sich hinter der Zuschreibung „konfessionslos“?

In aller Regel verwenden Menschen den Begriff „konfessionslos“ nicht von sich aus, um ihre Einstellungen und Positionen zu beschreiben. Und wenn sie es tun, dann lassen sie sich auf eine Perspektive ein, die ihnen eigentlich gar nicht wichtig ist, ja, über die sie sich wahrscheinlich noch nicht einmal Gedanken machen würden, wenn man sie nicht ausdrücklich daraufhin ansprechen würde.

Sollte man also gleich auf eine solche Zuschreibung verzichten? Möglich wäre es. Allerdings bestünde dann die Gefahr, eine grundlegende Entwicklung nicht ausreichend in den Blick zu nehmen, die unsere Gegenwart immer deutlicher bestimmt. Es handelt sich um die gegenwärtig zu beobachtende Tendenz zur Entfernung unserer Kultur von institutionalisierter Christlichkeit und damit einhergehend auch von einer bestimmten Form von Religiosität. 

Konfessionslosigkeit steht schlagwortartig für eine Entwicklung, die mit den Begriffen der Irrelevanz, Sprachlosigkeit und Indifferenz im Blick auf christlich-religiöse Deutungsmuster und Lebenspraktiken beschrieben werden kann und spezifische Phänomene des Umgangs mit Religion, Glaube und Kirche bezeichnet. Es handelt sich hier also um einen Tendenzbegriff, der die Aufmerksamkeit auf ein Feld der Lebensdeutung und -gestaltung richtet, das sich höchst plural darstellt und sich – so paradox das auf den ersten Blick scheinen mag – auch im Feld der Kirchenmitgliedschaft aufzeigen lässt. Hier gibt es Überschneidungen, die zu bedenken sind, im Folgenden allerdings nicht intensiver bedacht werden.

Der Begriff „konfessionslos“ ist eine Zuschreibung, und zwar eine aus christlich-kirchlicher Perspektive. Damit verbindet sich eine gewisse Gefahr. Denn wenn man einen anderen beschreiben soll, dem das, was mir selbst sehr wichtig ist, nicht wichtig zu sein scheint, dann ist die Gefahr sehr groß, einerseits mit Defizitbeschreibungen zu hantieren oder andererseits beim Anderen etwas zu sehen, was dort gar nicht so anzutreffen ist. Ersteres äußert sich in einer Konzentration auf das, was dem anderen fehlt („Wir glauben an Gott. Sie glauben an nichts“). Letzteres findet sich in der Versuchung einer heimlichen religiösen Aufladung („Eigentlich sind sie ja auch religiös. Sie wissen es nur nicht“). Mit beidem jedoch wird man denjenigen nicht gerecht, die als konfessionslos bezeichnet werden.

Daraus resultiert als erstes Fazit: Neben die Wahrnehmung von Leerstellen (z.B. „Sie beten nicht“) muss die Suche nach dem treten, was Konfessionslose als Antworten auf die Grundfragen des Lebens verinnerlicht haben. Dabei scheint mir ein Mittelweg angezeigt zu sein, also einerseits ihren säkularen Habitus ernst zu nehmen und andererseits nicht vorschnell Vereindeutigungen einzuziehen.

Dazu kommt ein Zweites: Der Begriff „konfessionslos“ sagt zunächst einmal nichts anderes aus, als dass jemand nicht Mitglied einer der christlichen Kirchen ist. Dabei fällt auf: Nicht Mitglied einer der christlichen Kirchen zu sein, scheint gar nicht so bedeutungslos zu sein wie auf den ersten Blick angenommen. Mit der Distanz zur institutionalisierten Form von christlicher Religion gehen ganz unterschiedliche Einstellungen und Verhaltensweisen einher, die das Verhältnis zu Glaube und Religion insgesamt betreffen. Dabei gibt es unterschiedliche Verortungen. Wie Evangelische auch sind Konfessionslose keine homogene Gruppe. Zu unterscheiden ist zum einen, seit wann jemand konfessionslos ist. Wir sprechen hier von frisch erworbener und von ererbter Konfessionslosigkeit. Bei Kindern und Jugendlichen ist in der Regel von einer ererbten Konfessionslosigkeit auszugehen, wobei dann wichtig ist, seit wann die Eltern konfessionslos sind und wie sie dazu gekommen sind. Damit ist nämlich in der Regel eine bestimmte sozialisatorische Prägung verbunden. Für die Mehrheit ist sie davon bestimmt, dass eine Auseinandersetzung mit Religion keine Rolle spielte.

Für Ostdeutschland kann man einigermaßen gesichert sagen, dass die Mehrheit der Konfessionslosen areligiös ist, wobei man sich gar nicht als atheistisch, sondern vielmehr als „untheistisch“ (Erich Loest) versteht, weil sich die Frage nach Gott schlichtweg nicht stellt. In Westdeutschland sieht die Sache etwas anders aus. Hier finden sich deutlich mehr Spuren institutionell bestimmter Religion in den Biografien. Allerdings sind milieuspezifische Unterschiede zu beachten. In den bildungsferneren Milieus ist eine deutlich größere Distanz zu beobachten als in den bildungsaffinen. Auf dem Land sieht es etwas anders aus als in der Stadt. Konfessionslosigkeit Ost ist nicht gleich Konfessionslosigkeit West. Der fundamentale Unterschied besteht im Grad der Entfremdung. Während die Konfessionslosen West wenigstens noch wissen, warum sie mit Kirche, Religion und Gott nichts zu tun haben wollen, haben die Konfessionslosen in Ostdeutschland „keine blasse Ahnung davon …, worum es sich handeln könnte“1.
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Insgesamt gilt und ist als zweites Fazit festzuhalten: Mit Konfessionslosen treten verstärkt neue Zugangspfade vor Augen. Menschen nähern sich dem Thema Religion aus einem sozialen Kontext, der keine oder nur sehr schwache positiv bestimmte Impulse zur religiösen Entwicklung gibt. Hier begegnet ein lebensgeschichtlicher Annäherungsmodus, der in der primären Sozialisation und den sekundären Sozialisationsinstanzen nicht von christlichen bzw. explizit religiösen Impulsen geformt wurde. Eigene Erfahrungen mit Religion finden sich einzig medial vermittelt. Dabei ist allerdings völlig offen, ob sie als prägend erlebt worden sind.


Zweite Annäherung:
Worauf wird unser religionspädagogischer Blick dadurch gelenkt?

Aus der Fülle möglicher Schwerpunktsetzungen sollen im Folgenden drei Aspekte in das Blickfeld gerückt werden. Sie betreffen den Kontext, die Verständigungsbasis sowie die grundsätzliche Ausrichtung des didaktischen Arrangements.
 

Die prägenden Sozialbeziehungen und das allgemein Plausible als grundlegende Rahmung

Es waren nicht zuletzt die PISA-Studien, die in neuer Weise den Blick für den Zusammenhang von Bildung und familialer Sozialisation geschärft haben. Letztlich sitzen nicht nur Kinder und Jugendliche im Unterricht, sondern mit ihnen auch ihr prägendes Nahumfeld, allen voran ihre Eltern, Großeltern und Geschwister. Das gilt für alle Heranwachsenden gleichermaßen, ist also keine Perspektive, die erst mit Konfessionslosen vor Augen treten würde. Allerdings bekommt sie in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung, weil damit die kontextuellen Prägungen klar hervortreten. Die wiederum verweisen auf Vermittlungsleistungen, die den Kindern und Jugendlichen abverlangt werden, und lässt sensibel danach fragen, welchen inhaltlichen Steuerungseinflüssen die Lernenden unterliegen. Hier ist von grundlegender Bedeutung, ob die unterrichteten Inhalte bestätigt, konterkariert oder einfach nur als belanglos wahrgenommen werden. Im Religionsunterricht oder bei der Konfirmandenarbeit ist immer auch die gesellschaftliche Wirklichkeit mit im Raum und bestimmt maßgeblich mit über den Erfolg des didaktisch Intendierten. Mit Blick auf konfessionslose Kinder und Jugendliche ist zu beachten, dass sie dabei dem Christentum (bestenfalls) im Status einer möglichen Option, im familialen Nahumfeld jedoch einer areligiösen bzw. untheistischen Lebensdeutung und -gestaltung im Status gelebter Praxis begegnen. Dabei haben mögliche Lebensdeutungen gegenüber bereits praktizierten einen schweren Stand. Sie können zwar durchaus reizvoll sein, müssen sich aber entgegen der Macht des Faktischen erst einmal bewähren. Dass es dazu kommt, ist alles andere als selbstverständlich. Eine wesentliche Rolle spielt dabei nicht zuletzt der gesellschaftliche Kontext. Deshalb reicht es nicht, Konfessionslosigkeit nur innerunterrichtlich zu bedenken, weil damit nicht berücksichtigt wird, dass die kontextuellen Rahmenbedingungen die Plausibilitätsstrukturen maßgeblich prägen. Insofern ist es sinnvoll, zwischen einem Religionsunterricht mit Konfessionslosen und einem Religionsunterricht in der Konfessionslosigkeit zu unterscheiden. Ersteres nimmt die innerunterrichtlichen Konstellationen und letzteres die kontextuellen Prägungen in den Blick. Beides ist schließlich aufeinander zu beziehen.


Menschliche Grunderfahrungen als gemeinsamer Anknüpfungspunkt

Dass Konfessionslose Angebote religiöser Bildung wahrnehmen, ist nicht selbstverständlich. Wenn sie es tun, kann nicht vorausgesetzt werden, dass sie (der christlichen) Religion im Modus des interessierten Fragens begegnen. Nicht selten agieren sie im Modus der Gleichgültigkeit oder der selbstverständlichen Distanz. Die oft anzutreffende Selbsteinschätzung „Ich bin nicht so erzogen worden“ markiert eine Fremdheit, die meistens nur schwer zu überwinden ist. Wie kann dieser Graben überbrückt bzw. didaktisch bearbeitet werden? Anregend dafür sind Überlegungen Heinrich Roths. Er betont in allgemeindidaktischer Perspektive, dass es darum gehen muss, „tote Sachverhalte in lebendige Handlungen rückzuverwandeln, aus denen sie entsprungen sind: Gegenstände in Erfindungen und Entdeckungen, Werke in Schöpfungen, Pläne in Sorgen, Verträge in Beschlüsse, Lösungen in Aufgaben, Phänomene in Urphänomene.“2  Ein Großteil der biblischen Texte, theologischen Denkfiguren oder bildlichen Darstellungen lässt sich als Resultat von Deutungsprozessen, mit Roth gesprochen als geronnene Lösungen, bezeichnen. Für viele bleibt dabei nicht selten unklar, auf welche Frage, auf welches Lebensproblem oder Dilemma, auf welche Erfahrung von Glück oder Schicksal diese Lösungen eine Antwort sind. Glaubenssätze erscheinen somit als Antworten auf Fragen, die weder gestellt noch verstanden worden sind. 

Was das konkret bedeuten kann, lässt sich beispielsweise bei Gundula Rosenow nachvollvollziehen. Sie arbeitet in der Kursstufe mit existenziell bedeutsamen Erlebnissen der Schülerinnen und Schüler.3  Sie bilden den Verständigungsgrund. Dadurch kann sich jeder „als kompetenter Gesprächspartner ohne defizitäre Zuschreibungen“4 einbringen. Der Religionsunterricht gewinnt auf diese Weise an Bedeutsamkeit. Das gilt auch dann, wenn sich die Schülerinnen und Schüler nicht zu einer religiösen Selbstpositionierung entscheiden können.
 

Die Relevanzfrage als Fokus

Von einer kulturellen Übereinkunft hinsichtlich der Relevanz des Religiösen im Allgemeinen und des Christlichen im Besonderen kann heute für den überwiegenden Teil der Bevölkerung nicht mehr ausgegangen werden. Vor diesem Hintergrund wird Relevanz letztlich zur Schlüsselkategorie.5 Auch das Aneignungsgeschehen in Lernprozessen vollzieht sich über Relevanzen. Sie setzen etwas „zu mir in Beziehung“, wobei dieses In-Beziehung-Setzen ganz unterschiedlich ausfallen kann: in zustimmender, ablehnender oder auch gleichgültiger Weise. Das, was Menschen orientiert, kann nicht einfach nur von außen vorgegeben werden, sondern muss auch innerlich angeeignet werden können. Dafür braucht es „Sprachen, die ‚persönliche Resonanzen‘ erzeugen, die nicht als bloßes Gegenüber erfahren werden, sondern das Subjekt involvieren und in seiner Selbsterfahrung innerlich ansprechen.6“ Dabei erweisen sich Themen oder Fragen nie nur in einer bestimmten Hinsicht (mit Blick auf einen bestimmten Relevanzfokus), sondern auch auf eine bestimmte Art und Weise (also in einem spezifischen Modus) als relevant.
Relevanz kann nicht per se postuliert werden, indem man sie beispielsweise deduktiv ableitet. Vielmehr ist „Relevanzerkundung"7 angesagt. Sie betrifft einerseits die Vorbereitung von Lernprozessen. Andererseits gibt sie auch die Grundrichtung für die Gestaltung der Lernprozesse selbst an. Dabei reicht es nicht aus, „vermeintlich anthropologische Basisthemen wie Tod, Leid, Liebe oder Glück oder sozial etablierte Grundwerte wie Freiheit, Fairness oder Selbstverwirklichung“ zu berücksichtigen, weil sie „stets [in; M.D.] individuell geprägte Relevanzordnungen eingepasst"8 werden.
Zugleich sind neben den kognitiv bestimmten Hierarchisierungen auch die affektiven Momente in den Blick zu nehmen, die bei der Rede von der Relevanz immer mitschwingen. Nur so können Lernprozesse initiiert werden, „die nicht einfach im Vertrauen auf Autorität oder simplen Übernahmen gründen, sondern auf eigenem Verstehen und subjektiver Einsicht beruhen, und so als Vollzug persönlicher Freiheit erlebt werden können.“9

In alledem geht es darum, dass Prozesse in Gang kommen. Man könnte hier von einer „Didaktik der Potenzialität“ sprechen, bei der es letztlich darum geht, diese „Potenzialität für einen zukünftigen lebensbegleitenden Interpretationsprozess offen zu halten“10.

 


Dritte Annäherung:
Was ergibt sich in handlungsorientierender Perspektive?

Konfessionslose Jugendliche und ihre Familien stellen Prämissen infrage, von denen bisher religionspädagogisch stillschweigend ausgegangen wurde. Auf zwei Aspekte sei im Folgenden verwiesen.


Diskontinuität als Normalfall annehmen

Bereits vor mehr als 25 Jahren hat Karl-Ernst Nipkow darauf hingewiesen, dass das „Denkmodell eines gestuften kontinuierlichen Aufbaus, der auf in der Kindheit zu legenden Grundlagen aufbaut, … allein nicht mehr tragfähig“ sei. Vielmehr sollte es „durch das Modell eines je neuen Anfangs zu jedem Lebenszeitpunkt und an jedem Ort“ ergänzt werden, also durch „ein Modell diskontinuierlicher Entwicklung.“11

Angesichts zunehmender Konfessionslosigkeit ist dem noch einmal besonders Nachdruck zu verleihen. Daraus resultiert auch eine Neujustierung religionspädagogischen Arbeitens. Denn religiöse Kommunikation im Allgemeinen und die Kommunikation des Evangeliums im Besonderen können innerhalb des weiten Feldes der religiösen Indifferenz schwerlich durch Instruktion gefördert werden. „Wo kein (bewusster) Glaube ist, wird Belehrung nichts nützen.“12 Da muss konsequent vom Lernenden her gedacht und gehandelt werden. Letztlich geht es darum, in bestimmten „Anlässen, Gegebenheiten und Herausforderungen“ – und das heißt auch im „geduldigen Abwarten“13 – Impulse geben zu können, die darauf eingehen und zugeschnitten sind. Die große Herausforderung besteht hier darin, dass – anders als bisher mehrheitlich gewohnt – nicht innerhalb, sondern in vielen Fällen sogar entgegen der familialen Sozialisationslogik agiert werden muss.

Empowerment als Zielperspektive eintragen

In dieser Perspektive können Empowerment-Diskurse anregend sein.14 Sie sensibilisieren dafür, dass pädagogisches Handeln zwar einerseits auf Befähigung abzielt, andererseits aber immer auch im Blick haben muss, dass die erworbenen Fähigkeiten zur Anwendung gebracht werden können. Sonst besteht die Gefahr, dass sie auf der Ebene des Postulats verbleiben und letztlich irrelevant sind. Befähigung und Bevollmächtigung sind im Zusammenhang zu sehen.
Eine Empowerment-sensible Religionspädagogik könnte ihre Handlungsfelder so gestalten, dass Menschen lernen, ihre eigene Subjektivität, ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten zu entdecken, ihnen Ausdruck zu verleihen und sich sodann in solidarischer Vernetzung in deren Um- und Durchsetzung und dabei Selbstwertsteigerung und Gestaltungskraft zu erfahren.

Nicht zuletzt dadurch könnte der Blick darauf gerichtet werden, wo die Spezifik christlich motivierten Lehrens und Lernens liegt. Dieter Röh bringt die beiden damit verbundenen grundlegenden Perspektiven gut auf den Punkt. Einerseits geht es um die im Empowerment-Begriff „enthaltenen Qualitäten der Kraft, der Macht und des Mutes (Empowerment)“, andererseits um „die Fähigkeiten [und; M.D.] Kompetenzen (Enablement)“. In der Kombination beider wird deutlich, „was es gleichermaßen für die gelingende Lebensführung braucht. In dieser Hinsicht stellt Empowerment so etwas wie das Scharnier dar, das die strukturellen Ressourcen (den gesell- schaftlichen Möglichkeitsraum) und die personellen Ressourcen (den personalen Möglichkeitsraum) verbindet.“15

Genau dieser Horizont ist religionspädagogisch von großem Interesse, geht es doch nie nur um die Einzelnen an sich, sondern immer auch um deren soziale und gesellschaftliche Einbindung. Auf diese Weise rücken Fragen der Lebensgestaltung, Alltags- und Lebensrelevanz in das Zentrum. „Situationserschließung und Situationsbearbeitung"16 werden von vornherein im Zusammenhang gesehen. Die Relevanz christlicher Religion erweist sich immer auch auf der Ebene der Lebensgestaltung, die nicht im Erleben oder Ausdruckshandeln einzelner Individuen aufgeht. Sie kann die Ebene des Umgangs mit Alltagsproblemen nicht ausblenden und ist immer als solidarische Aufgabe zu verstehen, die gesellschaftliche Aspekte einschließt.

Wir befinden uns gegenwärtig in einer Umbruchphase, die deutlich in einer veränderten Sozialisation vor Augen tritt. Das Stichwort der Konfessionslosigkeit markiert dabei eine nicht zu leugnende Tendenz. Bei allen Schwierigkeiten, die sich damit verbinden, wird dadurch aber auch der Blick frei auf neue Formen, die nicht mehr in der bloßen Weitergabe des Bewährten bestehen. Gegenwärtige religionspädagogische Theoriebildung konzentriert fast ausschließlich auf „Formen und Gehalte gelebter Religion“17 und hat dabei insbesondere „die Bildung einzelner Getaufter“18  im Blick. Das stößt immer deutlicher an Grenzen, weil der Rückgriff auf eine vorausliegende Praxis, die als eine religiös bestimmte gelten kann, nicht mehr ohne weiteres gegeben ist. Religionspädagogik steht damit vor der Aufgabe, auch danach zu schauen, wie gelebte Religion zuallererst entsteht, sei es, dass sie (auch) religionspädagogisch initiiert wird. oder sei es, dass Menschen – oft durch mediale Impulse vermittelt – eigene Formen religiöser Deutung und Praxis finden.19 Empowerment kann hier orientierend und impulsgebend wirken.

 

Anmerkungen: 

  1. Fincke: Kirche und Konfessionslosigkeit in West- und Ostdeutschland. 
  2. Roth: Zum pädagogischen Problem der Methode, 108.
  3. Rosenow: Individuelles Symbolisieren, 159.
  4. Ebd., 282.
  5. Hauschild / Pohl-Patalong, Kirche, 110.
  6. Ebd., 207.
  7. Stetter: Relevanz. Überlegungen zu einem Postulat kirchlicher Kommunikationspraxis, 218.
  8. Ebd.
  9. Ebd., 222.
  10. Rosenow: Individuelles Symbolisieren, 284.
  11. Nipkow: Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, 40f.
  12. von Hentig: Glauben lernen?, 4.
  13. Ebd.
  14. Zur ersten Perspektivierung vgl. Bucher / Domsgen: Empowerment in religionspädagogischer Perspektive, 4, 407-439.
  15. Röh: Soziale Arbeit, Gerechtigkeit und das gute Leben, 239.
  16. Vgl. Brockmann / Stoodt: Schülerorientierung als Situationserschließung und Situationsbearbeitung.
  17. Schröder: Religionspädagogik, 4.
  18. Ebd., 172.
  19. Vgl. ausführlicher dazu: Michael Domsgen, Wenn Koordinaten sich verschieben: Zur Evangelizität der Religionspädagogik im mehrheitlich säkularen Kontext, in: Theo-Web 15 (2016), H. 2, 92-103.

 

 Literatur

  • Brockmann, Gerhard / Stoodt, Dieter: Schülerorientierung als Situationserschließung und Situations-bearbeitung, in: Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft 65 (1976), 256-269
  • Bucher, Georg / Domsgen, Michael: Empowerment in religionspädagogischer Perspektive – Überlegungen zu einem Konzept mit theologischem und pädagogischem Potenzial vor dem Hintergrund gegenwärtiger Herausforderungen, in: ZThK 113 (2016), 407-439
  • Domsgen, Michael: Wenn Koordinaten sich verschieben: Zur Evangelizität der Religionspädagogik im mehrheitlich säkularen Kontext, in: Theo-Web 15 (2016), Heft 2, 92-103
  • Fincke, Andreas: Kirche und Konfessionslosigkeit in West- und Ostdeutschland, in: EZW Materialdienst 7/17, unter: www.ezw-berlin.de/html/15_ 8767.php (Abrufdatum: 30.06.2018)
  • Hauschild, Eberhard / Pohl-Patalong, Uta: Kirche, Gütersloh 2013
  • von Hentig, Hartmut: Glauben lernen? Zehn Gedanken zu einer Mathetik des christlichen Glaubens, in: Christenlehre/Religionsunterrichts – Praxis 4, 2004
  • Nipkow, Karl Ernst: Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung. Kirchliche Bildungsverantwortung in Gemeinde, Schule und Gesellschaft, Gütersloh 1990
  • Röh, Dieter: Soziale Arbeit, Gerechtigkeit und das gute Leben. Eine Handlungstheorie zur daseinsmächtigen Lebensführung, Wiesbaden 2013
  • Rosenow, Gundula: Individuelles Symbolisieren. Zugänge zu Religion im Kontext von Konfessionslosigkeit, Leipzig 2016
  • Roth, Heinrich: Zum pädagogischen Problem der Methode, in: Die Sammlung. Zeitschrift für Kultur und Erziehung 4, 1949
  • Schröder, Bernd: Religionspädagogik, Tübingen 2012
  • Stetter, Manuel: Relevanz. Überlegungen zu einem Postulat kirchlicher Kommunikationspraxis, in: Weyel, Birgit / Bubmann, Peter (Hg.): Kirchentheorie. Praktisch-theologische Perspektiven auf die Kirche, Leipzig 2014