Hat der Religionsunterricht Zukunft?

von Bernhard Dressler

 

Hat Bildung Zukunft?

Im Blick auf das Bildungssystem erleben wir gegenwärtig eine merkwürdig irritierende Situation. Einerseits ist seit dem sprichwörtlichen „PISA-Schock“ der Bildungsbegriff in aller Munde und die Bildungspolitik erfreut sich einer hohen medialen Aufmerksamkeit und innerhalb des Politiksystems eines – allerdings weitgehend nur deklamatorischen – Gewichts wie kaum jemals zuvor. Andererseits ist die instrumentell verengte Sichtweise, die nach der Funktion der allgemeinbildenden Schule in erster Linie hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit des ökonomischen „Standorts Deutschland“ fragt, ebenfalls so vorherrschend wie kaum jemals zuvor. Die Schule wird in der Öffentlichkeit und leider auch in der Politik überwiegend als Dienstleistungsunternehmen für den Arbeitsmarkt verstanden. Allgemeine Bildung, die ihren Namen verdient, hat aber ein anderes Ziel, nämlich die urteilsfähige Teilhabe an der kulturellen Gesamtpraxis der Gesellschaft – zu der das Erwerbsleben selbstverständlich auch gehört.

Die Widersprüchlichkeit dieser Situation spiegelt sich auch in den unterschiedlichen Resonanzen auf PISA wider: Dabei drängen sich vor allem Fragen der Leistungsmessung und Erfolgskontrolle in den Vordergrund. Die Themen der Kompetenzorientierung und der Bildungsstandards werden auf diese Weise höchst verkürzt verhandelt. Daneben hat sich aber – teilweise sogar in den Erziehungswissenschaften und den Fachdidaktiken kaum bemerkt – ein bildungstheoretischer Paradigmenwechsel vollzogen, dessen Auswirkungen auf die weiteren bildungstheoretischen Diskussionen noch gar nicht absehbar sind: Die Umstellung sowohl der Begründung als auch der Zielsetzung der schulischen Allgemeinbildung auf ein Tableau unterschiedlicher „Modi der Welterschließung“ (Baumert 2002,113)2, deren gesamtes Ensemble erst den allgemeinbildenden Horizont vervollständigt. Dazu gehört die Einsicht in die Unverrechenbarkeit naturwissenschaftlicher, sprachlicher, ästhetischer und historisch-sozialer Fächer und deren jeweils kategorial verschiedener Weltmodellierungen.

Dazu gehört aber auch die Einsicht, dass es in Bildungsgängen unverzichtbar ist, im Unterricht Fragen „konstitutiver Rationalität“ zu thematisieren und dafür vornehmlich den Fächern Philosophie und Religion einen festen Platz im Curriculum zu sichern.3Im Modus konstitutiver Rationalität geraten alle Themen der Schule in einen Reflexionszusammenhang, werden also die Fragen aufgeworfen, woher und woraufhin sich der Sinnzusammenhang des Wissens begründet, welche Bedeutung dem schulischen Wissen und den unterschiedlichen Erkenntnis- und Handlungslogiken der Wissensgebiete für die Daseinshermeneutik und Lebensgestaltung der Schülerinnen und Schüler zukommen kann. Es rücken die Verstehens- und Verständigungs-vorgänge bei der Erschließung der Welt in den Vordergrund.4as „literacy“-Konzept von PISA fragt gleichsam nach der „Lesbarkeit“ der Welt (vgl. grundlegend Blumenberg 1989 und Dressler 2010). Die Schule soll ein Ort sein, an dem die Bedingungen der Möglichkeiten des Weltverstehens erörtert werden, an dem die Fragen, ob, warum und wie weit die Welt überhaupt „lesbar“ ist, zum Thema werden.

Freilich sind unsere „Lebensprobleme noch gar nicht berührt“, wenn „alle wissenschaftlich möglichen Fragen“ beantwortet wären.5Wir alle sind – als Teilnehmer am Erwerbsleben, als Kunden der Freizeitindustrie, als Klienten des Rechtssystems, als Rezipienten künstlerischer Werke, als Gestalter des intimen Familienlebens, als Partizipanten religiöser Kulthandlungen etc. – in die ausdifferenzierten Wissenssysteme und Rationalitäten der gesellschaftlichen Subsysteme verstrickt, auf die der Schulunterricht referiert. Deren Regeln und Gehalte sind immer im Blick auf ihren Sinn und ihre Bedeutung für die Lebenswelt zu befragen. Deshalb sind die Menschen in den Bildungsinstitutionen als die Grenzen der Systeme anzuerkennen, wenn Allgemeinbildung nicht auf die Konditionierung für gesellschaftliche Bedarfe reduziert werden soll. Nur so ist in Bildungsgängen die integrierende Kraft zu gewinnen, die für die Führung eines bewussten Lebens in der ausdifferenzierten Welt der (spät-)modernen Gesellschaft gebraucht wird.

Dafür soll jene Fächerdomäne einstehen, in der Fragen „konstitutiver Rationalität“ zum Thema werden. Dass Religion dazu gehört, liegt auf der Hand, insofern sie Geltung beansprucht als diejenige kulturelle Praxis, mit der die Menschen sich zum Un-verfügbaren verhalten und Selbst- und Weltdeutungen entwickeln, in denen das Deuten selbst thematisch wird.

Ebenso klar ist aber auch, dass sich damit die Begründung für religiöse Bildung an öffentlichen Schulen verändert. Religion kann nunmehr frei von erzieherischen Zwecksetzungen gedacht werden. Es gibt Religionsunterricht, weil es Religion als einen nicht substituierbaren Modus des Weltverstehens und des Weltumgangs gibt. Wer am kulturellen Gesamtleben partizipieren will, muss sich auch zur Religion urteilsfähig verhalten können. Das schließt insbesondere die Möglichkeit der kompetenten Inanspruchnahme des Grundrechts auf aktive und passive Religionsfreiheit ein. Freilich gehört Religion auf diese Weise zur Allgemeinbildung, ohne dass damit notwendig ein konfessioneller Religionsunterricht gemeint ist. Und es müssen innerhalb der Domäne konstitutiver Rationalität die spezifischen Propria von Philosophie und Religion geklärt werden.

In der Religion treten neben den diskursiven Thematisierungsmodus Formen symbolischer Kommunikation einschließlich kultischer Praxen hinzu. Deren Sinn, Bedeutung und Pragmatik ist im Unterricht vor ihrer theologisch- (oder auch nur religionswissenschaftlich-) diskursiven Erörterung zu erschließen, ohne dass der Unterricht selbst als religiöse Praxis verstanden werden darf. Kurzum: Religiöse Bildungsprozesse stehen vor dem didaktischen Problem, wie religiöse Kommunikation und Kommunikation über religiöse Kommunikation – Teilnahme und Beobachtung, Binnenperspektive und Außenperspektive – in ein wechselseitiges Erschließungsverhältnis zu bringen sind. Kommunikation über religiöse Kommunikation kann in unterschiedlichen – theologischen, religionsphilosophischen, religionswissenschaftlichen etc. – Wissenschaftsperspektiven erfolgen. Schon deshalb ist es nicht ausgemacht, dass die Unverzichtbarkeit religiöser Bildung auch zukünftig das derzeit geltende Modell eines konfessionell-positionellen Religionsunterrichts einschließt.

Schärfer noch stellt sich allerdings die Frage, ob die in der bildungstheoretischen Rahmung von PISA eröffneten Möglichkeiten so wahrgenommen werden, dass sie tatsächlich für die schulischen Bildungsprozesse maßgeblich werden – oder ob diese Möglichkeiten im ökonomisch-instrumentellen Sog der Bildungspolitik erst gar nicht zum Zuge kommen.



Hat die Religion Zukunft?

Hier gilt das, was eingangs zur begrenzten Erkenntnis-reichweite von Prognosen gesagt wurde, noch verschärft. Wer hätte zu den Hochzeiten der Säkularisierungstheorien und entsprechender Prognosen in den 1960er und 1970er Jahren gewagt, an eine „Wiederkehr der Religion“ zu denken, wie sie heute diagnostiziert wird? Und singuläre und in gewisser Weise auch kontingente Ereignisse wie der 11. September 2001 können der historischen Entwicklung ganz unverhoffte Wendungen geben. Immerhin könnte man – analog zur „Dialektik der Aufklärung“ – beim Stichwort „Säkularisierung“ sagen: Die Dialektik der Säkularisierung entbindet Religion. Den Grund kann man mit Niklas Luhmann lapidar formulieren: Es gibt – jedenfalls tendenziell – keine nichtreligiösen Gründe mehr, religiös zu sein (Luhmann 2000, 136). Religion wird gleichsam „entkonventionalisiert“. Religiöse Bildung muss dann zunehmend an die Stelle religiöser Sozialisation treten, ohne deren Ausfall freilich kompensieren zu können. Mit dem Kraftverlust religiöser Erziehung hängt der Übergang zur Optionalität religiöser Lebensformen zusammen. Damit lösen sich tendenziell nicht nur die konfessionellen Grenzen als traditionelle Milieugrenzen auf, sondern Religiosität und Kirchlichkeit treten noch weiter auseinander.

Die konfessionellen Glaubensüberzeugungen werden jetzt allgemein als Wahlakte kenntlich, und zwar nicht mehr nur für eine kleine religiös hoch „musikalische“ Minderheit, sondern als die „normale“ Existenzform christlicher Religion. Optionalität produziert proportional zum Konventionalitätsverlust gesteigerte Überzeugtheitserwartungen, die ohne Bildung entweder enttäuscht oder fundamentalistisch überzogen werden. Optionalität ist nicht so sehr ein soziologisches, sondern ein mentales Phänomen, das im Protestantismus weniger empirische als normative Bedeutung hat: Auch wenn wir in eine Religion hineingewachsen sind oder wenn uns eine Religion ergriffen hat, pflegen wir sie doch und stellen unser Bekenntnis und unsere Zugehörigkeit zu ihr auf Dauer, als hätten wir sie gewählt.

Wir leben nach der mit der kulturellen Moderne eingesetzten Verflüssigung und Verdampfung alles Traditionellen gegenwärtig in einer Art zweiter Enttraditionalisierung, die nicht mehr nur, wie es Max Weber in seinem berühmten Vortrag über „Wissenschaft als Beruf“ (1919) diagnostizierte, alle Traditionen „entzaubert“, sondern in der die Entzauberung entzaubert wird und Wiederverzauberungsbedürfnisse wachsen.

Der Gestaltwandel der Religion schließt nicht aus, dass die gegenwärtigen und künftigen Lebensformen mit ihren gesteigerten Kontingenzzumutungen auf eine gesteigerte Religionsproduktivität gerade auch der (spät-)modernen Gesellschaften hinauslaufen, auf einen Bedeutungszuwachs von Religion also, der aber durchaus fundamentalistische oder diffus-esoterische Formen von Religiosität einschließen kann, solche Formen also, die man sich als aufgeklärt-religiöser Mensch gerade nicht wünscht.

In diesem Zusammenhang erscheint es besonders problematisch, jedenfalls aus kirchlicher Sicht, dass gerade diejenigen, für deren Selbstverständnis religiöse Fragen eine zentrale Rolle spielen, sich überwiegend als besonders kirchenkritisch verstehen oder aber besonders stark von kirchlich normierten Kommunikationsmustern unterscheiden. Das zeigen die religionssoziologischen Analysen des Münchner Soziologen Armin Nassehi (Nassehi 2007; ders. 2009).6 Religiöse Lebensformen werden immer weniger durch Mitgliedschafts- und institutionelle Vergemeinschaftungsformen stabilisiert. Und während die Menschen früher erst davon überzeugt werden mussten, dass individuelle Deutungen und Ausgestaltungen religiöser Überzeugungen und ritueller Praxen nicht nur erlaubt, sondern angemessen sind, scheinen gegenwärtig die religiösen Ausdrucks- und Handlungsgestalten, die überindividuelle Geltung beanspruchen, hinter dem „Patchwork“ individueller Kombinationsmuster geradezu zu verschwinden. Damit hätte die kulturprotestantische Bildungsgestalt der christlichen Religion als die zugleich individualisierte und institutionalisierte Form ausgedient, in der sich die Menschen an der Kirche rieben, aber eben damit den Spannungszusammenhang von Glauben und Wissen bearbeiteten.7Die „Postbürgerlichkeit des modernen Lebens“ entzieht sich „den Konsistenzzumutungen konfessioneller Praxis unmerklich, aber deutlich“ (Nassehi 2009, 188). Damit werden religiöse Institutionen und Zugehörigkeitsformen zwar nicht überflüssig, aber ihre Funktion verändert sich. Sie können die Religionspraxis der Individuen immer weniger theologisch normieren. Sie bieten aber durch theologisch reflektierte, konsistente Praxisangebote (etwa in Form von Kasualien) und durch konsistente Muster symbolischer Kommunikation den religiösen Individuen Anschlussmöglichkeiten, die sie vor dem Abgleiten in Obskurantismus bewahren können.

Indes werden vermutlich mit dem Kraftverlust verbindlicher Muster religiöser Orientierung und Lebensführung religiöse Konfliktpotenziale nicht gemindert. Verstärkte Individualisierung und Fundamentalismus widersprechen sich keineswegs, denn Fundamentalismus ist nicht einfach als Traditionalismus misszuverstehen. Er wird als moderner Antimodernismus das, wogegen er sich wendet, gar nicht los, wie sich an seiner Subjektivitäts- und Erweckungsrhetorik ebenso zeigt wie an seinen dezisionistischen Positionierungen.

Mit der Zunahme religiös motivierter Konflikte und dem Verlust religiöser Institutionen an Gewicht und Bindekraft könnten auch in Deutschland (zumindest gemäßigte) laizistische Positionen an Überzeugungskraft gewinnen.8 Wie die Gegenläufigkeit eines verstärkten Bedarfs an religiöser Bildung einerseits und eines dann noch weiter zunehmenden Akzeptanzverlusts von Art. 7.3 GG andererseits aufgefangen werden kann, wird ein Problem sein, auf das sich die Kirchen als Bildungsinstitutionen einzustellen haben. Insgesamt liegen bei dieser Problemlage die Möglichkeiten des Bedeutungsverlustes und des Bedeutungsgewinns von Religion nahe beieinander. Dem hat religiöse Bildung gerecht zu werden.



Hat der Religionsunterricht Zukunft?

Bislang hat sich der Religionsunterricht relativ stabil gehalten. Es mehren sich jedoch Stimmen, die den Ort religiöser Fragen auf das Privatleben beschränken wollen. Aber gerade wenn Religion(en) sich nicht öffentlich darstellen und verantworten müssen, sind sie vom fundamentalistischen Bazillus gefährdet. Religiöse Bildung ist auch Fundamentalismusprophylaxe.

Kann sich das deutsche Modell des Religionsunterrichts als res mixta, als Kooperationsprojekt von Staat und Religionsgemeinschaften halten? Dass das, was de jure unter dem Schutz des verfassungsmäßigen Zweidrittelquorums noch gilt, de facto an Akzeptanz verloren hat und vermutlich weiter verliert, lässt sich ja jetzt schon absehen, gleichgültig, ob man das für wünschenswert hält oder nicht. Diese Entwicklung wird sich noch verstärken, wenn es nicht gelingt, eine stabile Kooperationspartnerschaft für einen verfassungskonformen und bildungskompatiblen islamischen Religionsunterricht aufzubauen. Ebenso große Bedeutung wird dem Ausbau konfessionell-kooperativer Formen des evangelischen und katholischen Religionsunterrichts zukommen. Ich halte es aber für möglich, auch dann für die Regelung nach Art. 7.3 GG einzutreten, wenn dessen Ausgangsbedingung, die selbstverständliche Vorherrschaft der großen christlichen Kirchen auf dem Feld der Religion, nicht mehr gilt. Ohnehin ist hier zwischen Genese und Geltung zu unterscheiden. Auch als Minderheitenschutz lässt sich Art. 7 vertreten. Als nachteilig wird sich freilich erweisen, dass der dann vorherrschende Ethikunterricht bislang überwiegend nicht wirklich als Äquivalent für religiöse Bildung gestaltet wird (siehe hierzu: Dressler 2010). Die vollständige oder „nur“ für eine Mehrheit erfolgende Ablösung des Religionsunterrichts durch den Ethikunterricht könnte dann auch dessen ohnehin eher marginalen religionskundlichen Anteile gefährden. Es würde eine verfassungsrechtlich und zivilgesellschaftlich problematische staatliche Werteerziehung drohen, wie sie sich bereits in den Auseinandersetzungen um den obligatorischen Ethikunterricht in Berlin abzeichnete. Eine ähnliche Problematik würde sich abzeichnen, wenn der konfessionelle Religionsunterricht nach Art. 7.3 additiv zu einem obligatorischen Ethikunterricht hinzuträte. Dass diese Möglichkeit eher aus Kostengründen unwahrscheinlich bleibt, macht die Sachlage nicht besser.

Einem Bedeutungsverlust des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen werden die Kirchen durch die verstärkte Übernahme von Bildungsverantwortung in eigener Regie entgegenwirken können. Der Kirche als Bildungsinstitution (vgl. Preul 1997, 140-152 und Dressler 2012b) stellt sich ja jetzt schon in mindestens zweifacher Hinsicht die Aufgabe, Bildungsprozesse anzuregen und zu gestalten: Zum einen ist sie bereits jetzt die einzige gesellschaftliche Großinstitution, die Bildung dezidiert nicht den sich rapide verändernden Ansprüchen des Arbeitsmarktes unterwirft. Zum anderen muss sie auch im eigenen Interesse darauf reagieren, dass die Tradierung der christlichen Religion sich immer weniger in den Modi von Sozialisation, Konvention und organisatorischer Inklusion vollzieht, sondern eben als Bildungsprozess. Die damit verbundenen Individualisierungsdynamiken und reflexiv-distanzierten Partizipationsmuster sind unvermeidlich. Bildung gehört im ureigenen, die Religion selbst betreffenden Interesse zur Aufgabe der Kirche, auch in ihren internen Aufgabenfeldern, weil die für Bildungsprozesse unerlässliche Reflexivität zugleich die Bedingung der Möglichkeit einer bewussten Religiosität in der kulturellen Moderne ist. Zwar ist religiöse Bildung nicht die Voraussetzung religiöser Praxis. Religiöse Bildung ist aber die Voraussetzung dafür, religiöse Reflexivität und religiöse Authentizität so in der Balance zu halten, dass sie sich nicht wechselseitig behindern. Damit ist ein Gestaltwandel der Religion zu erwarten. Eine „Religion, die zu sich hinbildet, unterliegt ihrerseits unhintergehbar einem Umbildungsprozess“ (Drehsen 1994, 46).

Von einer sozialisatorisch-erzieherisch tradierten, in Bildungsprozessen gleichsam sekundär reflektierten Religion (dem bisherigen „bürgerlichen“ Modell) wird sich eine Religion unterscheiden, die allererst in Bildungsprozessen angeeignet wird. Allerdings gerät die christliche Religion evangelischer Spielart in diese Situation nicht ganz unvorbereitet, insofern sie nicht erst seit heute zumindest normativ den Bedingungen individueller Anverwandlung unterliegt. Zu religiöser Bildung als dem vorherrschenden Tradierungsmodus von Religion gibt es – jedenfalls im Sinne einer expressionsfähigen und auch kognitiv explikationsfähigen Religion – in der modernen Gesellschaft keine Alternative, genauer: soll es im protestantischen Verständnis keine Alternative geben. Die Kontinuierung christlicher Religionspraxis vermittelt sich also zunehmend über individuelle Aneignungsprozesse und reflexive Selbstverhältnisse. Institutionell und organisatorisch werden damit (auch aus anderen, eher soziologischen und mit der Entwicklung neuer Medien verbundenen Gründen) distanziertere, jedenfalls flexiblere Zugehörigkeits- und Partizipationsmuster verbunden sein.

Beides – ein veränderter Tradierungsmodus und neue institutionelle Formen – schließen unvermeidlich Transformationsprozesse der Religion ein, die zwar nicht genau zu prognostizieren sind, die aber zu riskieren sind, wenn überhaupt die christliche Religion zukunftsfähig sein soll.

Hierbei kann an eine Entwicklung angeschlossen werden, die sich bereits jetzt als Gewinn bei der Umstellung des Religionsunterrichts von der „Stoffvermittlung“ auf die „Kompetenzorientierung“ abzeichnet, nämlich dass Religion deutlicher als eine kulturelle Praxis wahrgenommen wird, mit der sich Menschen in ihrem Leben orientieren und durch deren Vollzug sie sich zur Unverfügbarkeit ihres Lebenssinnes verhalten. So verstanden wird eine Religion nicht dadurch erschlossen, dass man auf eine bestimmte Gesinnung verpflichtet wird oder bestimmte Behauptungen für wahr halten soll. Die „Vollzugselemente und Vorstellungsgehalte der Religion“ (Korsch 2007, 835) gehören zusammen.9

Wenn für das Verstehen der christlichen Religion der Zusammenhang von Vorstellungsgehalten und kommunikativen Vollzugsformen – in der Terminologie Schleiermachers: das Ineinander von Mitteilung und Darstellung – konstitutiv ist, dann ist bei den Lehrkräften im Religionsunterricht „Sinn und Geschmack“ für Religion aus sachlichen Gründen unerlässlich. Hier geht es also weniger um die Verpflichtung auf eine bestimmte Konfession und deren Bekenntnisformeln, schon gar nicht darum, den Religionsunterricht klerikaler Kontrolle zu unterwerfen. Nicht aus Gründen der Gesinnungstreue, sondern aus Gründen der Sachangemessenheit wäre daher sowohl die Mitwirkung der Religionsgemeinschaften als auch die Mitgliedschaft der Lehrkräfte in den jeweiligen Religionsgemeinschaften für den Religionsunterricht weiterhin gut vertretbar. Auch wenn die Mitgliedschaft dafür kein zwingender Qualitätsausweis ist, ist für den erforderlichen „Sinn und Geschmack“ kein anderes Kriterium erkennbar als die mit einer religionsgemeinschaftlichen Mitgliedschaft unterstellte und in einem Theologiestudium ausgebildete Fähigkeit, religiöse Praxis aus einer Teilnahmeperspektive erschließen zu können und gleichzeitig in einer Beobachterperspektive reflektieren zu können. Das bedeutet freilich zugleich, dass die Bedeutung dieses Kriteriums nur dann plausibel bleibt, wenn für den unterrichtlichen Vollzug die kategoriale Differenz zu dem der gleichen Domäne zugerechneten Philosophie- oder Ethikunterricht maßgeblich bleibt. Wenn für die Positionalität des Religionsunterrichts und als Eignungskriterium der Religionslehrkräfte nur die Verpflichtung auf einen propositionalen Wahrheitsanspruch übrig bleiben würde, würden eher die in der Öffentlichkeit wie in den Erziehungswissenschaften zu hörenden Vorbehalte gegen den Religionsunterricht bestärkt werden (vgl. als eine der maßgeblichen erziehungswissenschaftlichen Stimmen: Tenorth 1997).

In diesem Zusammenhang wäre zu prüfen, ob die im Baumertschen Tableau vorgeschlagene Fachdomäne „konstitutiver Rationalität“ dem fast schon wieder vergessenen, weil bislang erfolglosen evangelischen Vorschlag einer „Fächergruppe Religion-Philosophie-Ethik“ (vgl. EKD 1994, 73-81) neue Aussichten eröffnen könnte. Damit wäre zugleich die Nötigung zur Präzision des religionsunterrichtlichen Propriums verbunden. Es könnte dann auch besser gezeigt werden, dass Praktische Philosophie und Religionsphilosophie als Äquivalente des Religionsunterrichts angemessener wären als der Ethikunterricht. Das Spezifische des Religionsunterrichts wäre in einer solchen Fächergruppe nicht sogleich theologisch, sondern zunächst in einem wissenschaftstheoretischen Sinne zu klären. In dieser Perspektive würde Religionstheorie (oder, in „katholischer“ Terminologie: Fundamentaltheologie) in der Religionspädagogik systematisch und sachlich vor die anderen theologischen Teildisziplinen gehören. Zuerst ist Religion (in der Pluralität ihrer Erscheinungsformen) kultur- und religionstheoretisch von den anderen unterrichtlichen Perspektiven zu unterscheiden. Bevor theologisch die Frage nach der Wahrheit eines religiösen Bekenntnisses erörtert werden kann, muss gefragt werden, in welchem Modus sich die Wahrheitsfrage jeweils stellt – als unterschieden von einem kognitiv-instrumentellen, einem ästhetischen oder einem moralisch-evaluativen Modus. Erst danach kommt, weil es kein religiöses Esperanto gibt, die einer bestimmten Religion verpflichtete Theologie zum Zuge. Jedenfalls wird sich ein von den Religionsgemeinschaften mit verantworteter Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen immer weniger begründen lassen, wenn er nicht allgemein – und insbesondere auch aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive – zustimmungsfähig ist. Dabei ist jeder Anschein eines Partikularinteresses zu vermeiden.

Es ist offen, wie die Entwicklung weitergeht. Aber der gegenwärtige Trend zur Privatisierung religiöser Fragen zeichnet sich auch schulisch durchaus ab. Mit der stärkeren Betonung der Selbstständigkeit der Einzelschule wird zudem das konkrete Unterrichtsangebot im Religionsunterricht immer stärker von den Gegebenheiten und Entscheidungen vor Ort abhängen. Dies führt zu einer gewissen Deregulierung des Religionsunterrichts.

Schärfer gesagt: Die schon lange zu beobachtende rechtliche „Grauzone“ droht zur Regel zu werden. Es bleibt abzuwarten, ob das die geringste Gefahr ist, die dem Religionsunterricht droht.

Umso wichtiger ist es, den Beitrag des Religionsunterrichts zu den Bildungszielen der Schule insgesamt hervorzuheben, statt ihn – die Religion instrumentalisierend – als erzieherisch-sozialpädagogischen Appendix – „Wertevermittlung“ – anzudienen. Wenn Religion neben der Philosophie als jene kulturelle Praxis verstanden wird, in der das Deuten selbst thematisch wird und in religiöser Bildung die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der „Lesbarkeit der Welt“ aufgeworfen und bearbeitet wird, dann soll damit zugleich deutlich werden, dass das Wissen der unterschiedlichen Wissenssysteme seinen Sinn nicht in sich selbst trägt, sondern immer erst in Bezug auf einen lebensweltlichen Sinnhorizont gewinnt. Das ist das Optimum dessen, was von allgemeiner Bildung zu erwarten ist.

 

Anmerkungen

  1. Vortrag bei der Konferenz der Schulleiterinnen und Schulleiter an Gymnasien im RPI-Loccum am 4. Oktober 2012.
  2. „Kognitiv-instrumentelle Modellierung der Welt“ (Mathematik, Naturwissenschaften), 2. „Ästhetisch-expressive Begegnung und Gestaltung“ (Sprache/Literatur, Musik/Malerei/Bildende Kunst, Physische Expression), 3. „Normativ-evaluative Auseinandersetzung mit Wirtschaft und Gesellschaft“ (Geschichte, Ökonomie, Politik/Gesellschaft, Recht), 4. „Probleme konstitutiver Rationalität“ (Religion, Philosophie). Hieran orientiert sich auch das sog. „Klieme-Gutachten“ (Bundesministerium 2002, 21).
  3. Fragen konstitutiver Rationalität werden in einem anspruchsvollen Unterricht in allen Fächern gestellt, wenn es etwa um deren jeweilige epistemologische Grundlage geht, z. B. im Blick auf die Geltung der Evolutionstheorie im Biologieunterricht. Aber diese Fragen bedürfen darüber hinaus eines festen Ortes im schulischen Gesamtcurriculum. Dabei ist zu bedenken, dass das Baumertsche Tableau eher bestimmte Perspektiven als bestimmte Fächer bezeichnet, auch wenn es den vornehmlichen Ort der Modi der Welterschließung fachlichen Domänen zuordnet.
  4. Während Wolfgang Klafkis Theorie „kategorialer Bildung“ hiermit durchaus in Einklang zu bringen ist, ergibt sich aus diesem bildungstheoretischen Ansatz ein grundlegender Unterschied zu Klafkis Konzept „epochaltypische Schlüsselprobleme“ (vgl. Klafki 1994). Ich erörtere dieses Thema kritisch in: Dressler 2006, 102-108.
  5. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 6.52.
  6. "Je intensiver sich die eigene Religiosität darstellt, desto innerlich unabhängiger scheinen die Menschen von ihrer Kirchlichkeit zu sein“ (Nassehi 2009, 195); vgl. dazu Dressler 2012a, 121-135.
  7. „Die besondere zivilisatorische Bedeutung der großen Kirchen bestand darin, religiöse Motive zu domestizieren und die prinzipielle ‚Wildheit‘ religiöser Ansprüche durch Verallgemeinerung und Mitgliedschaftsbedingungen im Zaum zu halten – anders als etwa im amerikanischen Marktmodell des Religiösen, wo gerade Sichtbarkeit und Aufmerksamkeitsmanagement gefragt sind (…). Korporatistische Modelle setzen auf Einschränkung, Zugangskontrolle und Anspruchsberechtigungen, Marktmodelle auf Produktinnovation, flexible Adaption und Zielgruppenorientierung“ (Nassehi 2009, 196).
  8. Vgl. exemplarisch etwa die in der Humboldt-Universität zu Berlin am 12.12.2006 gehaltene „5. Rede zur Religionspolitik“ der damaligen Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (www.irrglaube-und-wahrheit.ch/ftopic3625.html – Zugriff am 6. Juni 2013). Eine Gesamtübersicht der von Rolf Schieder veranstalteten „Reden zur Religionspolitik“ siehe: http://zope.theologie.hu-berlin.de/relpaedagogik/forschung/religionundpolitik/berliner-reden – Zugriff am 6. Juni 2013.
  9. Dieser Gedanke schließt zugleich an eine wichtige Entwicklung in der soziologischen Wahrnehmung von Religion an, nämlich an die Umstellung des Religionsbegriffs von Personenmerkmalen auf die Modalität kommunikativer Formen. In der religionssoziologischen Linie von Emile Durkheim bis Jürgen Habermas erscheinen Personenmerkmale als konstitutiv für die Frage nach der Funktion der Religion für soziale Kohärenz. Modale Verständnisse von Religion liegen dagegen in den auch theologisch interessanteren religionssoziologischen Konzepten von Niklas Luhmann, Joachim Matthes und Armin Nassehi vor.

 

Literatur

  • Jürgen Baumert 2002, Deutschland im internationalen Bildungsvergleich, in: Nelson Killius u.a. (Hg.), Die Zukunft der Bildung, Frankfurt/M., 100-150.
  • Hans Blumenberg 1989, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main.
  • Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hg.) 2003, Expertise: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards, Bonn.
  • Volker Drehsen 1994, Das Bildungsdilemma der Volkskirche – das kirchliche Dilemma der religiösen Sozialisation; in: ders., Wie religionsfähig ist die Volkskirche? Sozialisationstheoretische Erkundungen neuzeitlicher Christentumspraxis, Gütersloh, 41-65.
  • Bernhard Dressler 2006, Unterscheidungen. Religion und Bildung, Leipzig.
  • Bernhard Dressler 2010, Fachdidaktik und die Lesbarkeit der Welt. Ein Vorschlag für ein bildungstheoretisches Rahmenkonzept der Fachdidaktiken; in: B. Dressler/L. Beck (Hg.): Fachdidaktiken im Dialog (Marburger Schriften zur Lehrerbildung, Bd. 3), Marburg, 9-23.
  • Bernhard Dressler 2010, Religion im Ethikunterricht. Problemanzeigen; in: ZPT 2/2010, 112-128.
  • Bernhard Dressler 2012a, Inkonsistenz und Authentizität. Ein neues religiöses Bildungsdilemma? Bildungstheoretische Überlegungen zu Armin Nassehis religionssoziologischen Beobachtungen; in: ZPT 2/2012, 121-135.
  • Bernhard Dressler 2012b, Kirchenleitung und Bildung. Der Pfarrberuf als Bildungsaufgabe; in: Regina Sommer/Julia Koll (Hg.), Schwellenkunde. Einsichten und Aussichten für den Pfarrberuf im 21. Jahrhundert, Stuttgart, 39-51.
  • Wolfgang Klafki 1994, Schlüsselprobleme als inhaltlicher Kern internationaler Erziehung; in: N. Seibert/H.J. Serve (Hg.), Bildung und Erziehung an der Schwelle zum dritten Jahrtausend, München, 135-161.
  • Dietrich Korsch 2007, Theologie; in: W. Gräb/B. Weyel (Hg.), Handbuch Praktische Theologie, Gütersloh, 833-842.
  • Niklas Luhmann 2000, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt am Main.
  • Armin Nassehi 2007, Erstaunliche religiöse Kompetenz. Qualitative Ergebnisse des Religionsmonitors; in: Bertelsmann-Stiftung, Religionsmonitor 2008, Gütersloh, 113-132.
  • Armin Nassehi 2009, Religiöse Kommunikation: Religions-soziologische Konsequenzen einer qualitativen Untersuchung; in: Bertelsmann-Stiftung (Hg.), Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008, Gütersloh, 169-203.
  • Reiner Preul 1997, Kirchentheorie. Wesen, Gestalt und Funktionen der Evangelischen Kirche, Berlin/New York.
  • Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 1994, Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität. Eine Denkschrift der EKD, Gütersloh.
  • Heinz-Elmar Tenorth 1997, Reform-Pädagogik-Religion; in: EvErz 4/1997, 376-384.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2013

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