Paradigmenwechsel? – Ein grundlegender Einspruch

von Ingo Baldermann

 

Die neue Generation der Kernlehrpläne nimmt für sich einen Paradigmenwechsel in Anspruch, und das heißt: eine grundlegende Veränderung des Lernens und Lehrens in der Schule insgesamt, ein anderes Leitbild und eine andere Praxis schulischen Unterrichtens.

Der Ausdruck Paradigmenwechsel wird dabei nicht wertneutral gebraucht: Er steht für eine umfassende Reform, die von altem Ballast befreien und neue Perspektiven eröffnen will. Auf dieser Verheißung beruht die weitgehende Akzeptanz, die diese Pläne bisher gefunden haben.

Ein Begriff beherrscht dabei die Vorworte wie die fachlichen Ausführungen bis ins letzte Detail hinein: der Begriff der Kompetenz. „Kompetenzorientierte Lehrpläne sind ein zentrales Element in einem umfassenden Gesamtkonzept für die Entwicklung und Sicherung der Qualität schulischer Arbeit. Sie bieten allen an Schule Beteiligten Orientierungen darüber, welche Kompetenzen zu bestimmten Zeitpunkten im Bildungsgang verbindlich erreicht werden sollen …“ Durchweg werden die erwarteten Lernergebnisse als Kompetenzen formuliert, im einzelnen aufgegliedert als „Sachkompetenz, Deutungskompetenz, Urteilskompetenz, Handlungskompetenz – Dialogkompetenz, Gestaltungskompetenz, Methodenkompetenz …“

Unterricht soll sich danach künftig ganz auf das Ziel einer wachsenden Kompetenz der Schülerinnen und Schüler ausrichten, und diese muss – das ist die grundlegende Forderung – empirisch exakt zu evaluieren sein: Kompetenzerwartungen

  • beziehen sich auf beobachtbare Handlungen und sind auf die Bewältigung von Anforderungssituationen ausgerichtet
  • können grundsätzlich in Aufgabenstellungen umgesetzt und überprüft werden.


Das will sagen: Mit der Konzentration auf die zu erwerbenden Kompetenzen orientieren sich die Lehrpläne an den Schülern und Schülerinnen und ihrem Lerngewinn, nicht mehr am zu behandelnden Stoff. Damit werde der Wechsel zu einem konsequent schülerorientierten Unterricht markiert, ein Paradigmenwechsel, mit dem längst überfällig ein demokratisches Leitbild installiert wird.

Doch genau an dieser Stelle beginnt ein gefährlicher Etikettenschwindel. Es geht, so heißt es, durchweg um die BEWÄLTIGUNG von Anforderungssituationen, die grundsätzlich in Aufgabenstellungen umgesetzt und in ihren Ergebnissen ÜBERPRÜFT WERDEN können. Eingeräumt wird (unter ständiger fast schon liturgisch anmutender Berufung auf Weinert), dass dazu neben den kognitiven auch ethische und soziale Fähigkeiten gehören wie auch eine motivationale und volitionale Bereitschaft. Dennoch wird das gesamte Unterrichtsgeschehen beherrscht von der eindeutigen Forderung der genauen Überprüfung des Lernerfolges.

Dass empirische Kontrolle kritisch gegen allzu Gewohntes eingesetzt wird, um verhärtete Strukturen aufzubrechen, ist legitim und notwendig.

Die PISA-Studien haben mit Nachdruck unterstrichen, was wir längst wissen konnten: die fatale Abhängigkeit der Bildungschancen vom Milieu. Doch die ihnen folgenden Lernstandserhebungen, jeweils mit dem Anspruch unanfechtbarer Objektivität veröffentlicht, waren ebenso wirksam wie empirisch unseriös: Sie vollzogen ihre rigiden Bewertungen ohne die notwendige Rücksicht auf die konkreten Bedingungen. Das hat nachweisbar zu grotesken Fehleinschätzungen geführt, doch haben sie erreicht, was sie wollten: sie haben unbemerkt und gerade so überaus wirksam ihre eigenen Normen durchgesetzt – und dies unter Umgehung jeder demokratischen Kontrolle.

Tief problematisch war von Anfang an das Ranking, in dem (ausgerechnet!) Südkorea schon auf den ersten Rang geriet. Inzwischen gibt es aber auch in dem Mutterland dieser Testserien, in den USA, fundamentale Kritik, sowohl an der Anlage wie an der Wirkung solcher Tests, so in der Studie von Diane Ravitch, die (als national bestseller!) durch Testing and Choice jede sinnvolle Erziehung unterminiert sieht: the Death of the great American School System.

Unbeirrt aber erfolgt immer wieder die Veröffentlichung nach den einfachen Gesetzen der Meinungsmanipulation durch das öffentlich enorm wirksame Prinzip von name and ashame: Mit den Ergebnissen wird wie selbstverständlich öffentlich an den Pranger gestellt, wer die dort gesetzten Normen nicht erfüllt. So werden die Schulen einem gnadenlosen Konkurrenzdruck unterworfen, der sie aber nicht mehr an den pädagogisch wesentlichen Kriterien misst, sondern an einem ganz andern: dem Zwang zur ökonomischen Effizienz.

Und so erscheint hinter der scheinbar so schülerfreundlich kompetenzorientierten Didaktik eine harte Ideologie, die das gesamte Unterrichtsgeschehen ihrem Gesetz unterwirft, nicht nur in der Theorie, auch in der alltäglichen schulischen Realisation: Die Fähigkeit, Probleme zu lösen, wird nicht etwa ergebnisoffen gesucht und ausgebildet; die richtigen Lösungen sind ja immer schon vorgegeben, und so sind auch die richtigen Lösungswege jeweils schon im vorhinein definiert – und auf dem boomenden Markt der Lösungshefte leicht verfügbar.

Das ist die eine Seite des Etikettenschwindels: Gewiss konzentriert sich die Aufmerksamkeit in dem hier geforderten Unterricht ganz auf die Schüler und Schülerinnen, nämlich auf die bei ihnen feststellbaren Lernerfolge. Doch das Wort „schülerorientiert“ hatte ursprünglich ganz andere Konnotationen: Ernsthaft schülerorientiert wäre ein Unterricht, der offen den Belangen und Interessen der Schüler und Schülerinnen nachginge, auch ihren gefährdeten Hoffnungen, ihren bedrohten Lebenschancen, ihrer Kritik an der Gesellschaft – gerade jetzt, denn noch nie ging eine Generation in eine so von allen Seiten bedrohte Zukunft hinein!

Doch wenn die Lösungen und Lösungswege immer schon vorgegeben sind, kann Neues gar nicht mehr entstehen, Unerwartetes nicht mehr zu Worte kommen. In Wahrheit ist die Orientierung an vorgegebenen Lösungen und Lösungswegen die denkbar härteste autoritäre Lenkung des Lernens. Alle Freiheit der Schüler und Schülerinnen, sich selbst einzubringen, wird beschränkt auf die nicht ergebnisrelevanten Unterrichtspassagen. Im Blick auf die zentral geordneten Prüfungsanforderungen mit ihren vordefinierten Lösungen und Lösungswegen aber bleibt Schülern und Schülerinnen wie Lehrenden keinerlei Freiheit mehr. Sie sind gefangen in einem System, das ihnen zur völligen Anpassung keine Alternative lässt.

Die Kehrseite dieses Etikettenschwindels aber ist der Maßstab des Lernerfolgs: die „Fähigkeit, Anforderungssituationen zu bewältigen“. Was wird daraus für ein Lernen, wenn es nur noch das Ziel der Bewältigung gibt?

Wie wird eine Schule aussehen, in der alle – wirklich alle! – Inhalte funktionalisiert werden, d. h. nur noch dazu dienen, bewältigt zu werden, gleichviel ob es um ein Gedicht von Paul Celan geht, um die Leidensgeschichte der Demokratiebewegungen oder um so etwas wie die „Ästhetik des Widerstandes“? Sie alle haben keinen Eigenwert mehr.

Der allen übergeordnete Zweck ist, an ihnen bestimmte vordefinierte Kompetenzen zu erwerben und einzuüben. Schüler und Schülerinnen sollen „beschreiben, beurteilen, einordnen, prüfen, bewerten“. – All das ist notwendig, aber kann das alles sein? Der Gestus des Bewältigens wird langfristig alles überlagern und eine totale Immunisierung erzeugen, denn die so eingeübten Schüler und Schülerinnen werden fortan unberührbar bleiben von allem, was sich nicht bewältigen lässt.

So fällt aus dieser fortschrittlich optimistischen Didaktik alles Widerständige heraus: jeder Umgang mit Erfahrungen, die nur dann beredt bleiben, wenn wir begreifen, dass wir sie nicht bewältigen können, Erfahrungen der jüngeren deutschen Geschichte ebenso wie die der biblischen Texte: Der Versuch, sie zu „bewältigen“, lässt sie dauerhaft verstummen.

Es ist klar, woher diese Pläne ihre Terminologie und ihre rücksichtslose Zielstrebigkeit beziehen. Die Inhalte sind austauschbar, die an ihnen erworbenen Qualifikationen aber lassen sich durchweg einem erkennbaren Zweck unterordnen: Sie alle sind notwendig für ein reibungsloses Funktionieren in der markt- und wachstumsorientierten Industriegesellschaft. Genau in dem Augenblick, in dem der Club of Rome noch einmal mit noch nie dagewesener Eindringlichkeit vor der totalen ökologischen Katastrophe warnt, die unausweichlich auf uns zukommt, wenn wir nicht doch noch umsteuern, beansprucht eine Turbo-Didaktik mit dem wahnwitzigen Ziel einer immer weiter gesteigerten Effizienz die totale Herrschaft über unsere Schulen.

Das Lernen, das diese Pläne fordern, zielt auf perfekte Anpassung. Anpassung, das wissen wir, ist lebensnotwendig, eine biologische Überlebensstrategie; aber was für eine Perversion, wenn es um Anpassung an einen mainstream geht, der offensichtlich geradeswegs in die Katastrophe führt – und was für eine Erziehung, wenn – abermals! – eine biologische Kategorie die totale Herrschaft über das gesamte Schul- und Hochschulwesen beansprucht!

Wir fragen: Was wird aus einer Schule, die alles auf die exakte Überprüfbarkeit der Lernerfolge abstellen muss? Die pädagogisch zerstörerische Forderung, den Lernerfolg jeder Stunde (!) als Kompetenzgewinn genau nachzuweisen, zeigt das massive Interesse an einer Auslese, die Lebenschancen nach dem Maß geleisteter Anpassung vergibt. So wird die Schule zu einer Ausleseanstalt degradiert. Immerhin hat ja kein Geringerer als Peter Sloterdijk davon gesprochen, dass keine moderne Gesellschaft ohne „Selektion“ auskommen könne – ohne Rücksicht auf die uns eingebrannte Erinnerung an die Selektion an der Rampe von Auschwitz, die diesen Begriff unerträglich und pädagogisch schlechthin unbrauchbar macht.

Pädagogische Selektion also ist das Ziel, als tief internalisierter Anspruch einer Gesellschaft, die sich als Leistungsgesellschaft versteht, als unbedingte Forderung ihrer anonym bleibenden Götter, täglich auch mit Menschenopfern exekutiert – ja von wem eigentlich? – von der Lehrerschaft insgesamt? Von der Schule? Auch von den Universitäten? Wer eigentlich entwickelt solche Pläne? Was machen diese Pläne mit den Lehrerinnen und Lehrern, die Tag für Tag schwer zu kämpfen haben – auch um die Seelen der Kinder und Jugendlichen?

Mir geht die eindringliche Frage von Zwölfjährigen nicht aus dem Sinn: „Jetzt sagen Sie uns als unser Religionslehrer mal ganz ehrlich: Glauben Sie denn, dass wir noch erwachsen werden?“ Die Frage traf, und ich begriff: Es ist doch eine einfach absurde Situation – meine Generation war es und die ihr folgenden, die diese Welt in den gegenwärtigen Zustand versetzt haben, mit der bedenkenlosen Zerstörung der ökologischen Systeme zugunsten ungehemmten industriellen Wachstums, mit der Unfähigkeit, dem grassierenden Hunger in der Welt wirksam zu begegnen, mit der erschreckend ahnungs- und verantwortungslosen Lagerung des noch jahrtausendelang tödlich strahlenden atomaren Mülls – und – und …

Und ausgerechnet diese Generation presst die nachwachsende Jugend in einen Lernzwang, der schlechthin keine Alternative mehr zulässt, der nur noch Anpassung fordert an eben die Denkmuster und Fähigkeiten, die unsere Erde in diesen ruinösen Zustand versetzt haben. Das ist so irrational, dass nur eine Erklärung bleibt: die tiefenpsychologische. Es geht offenbar in diesem zwanghaften System auswegloser Anpassung um Verdrängung und Kompensation eigener Schuld, um einen Ödipus-Komplex mit vertauschten Rollen. Wie aber soll in einer solchen Schule der Anpassung noch so etwas wachsen wie die Fähigkeit zum notwendigen Widerstand? Wie können junge Menschen lernen, im Ernstfall Widerstand zu leisten, wenn Schule und Hochschule konsequent darauf aus sind, sie so fügsam wie möglich einzupassen?

Für eine aufgeklärte Gesellschaft ist totalitärer Druck etwas Unbekanntes, es gibt keine Wahrnehmungsmuster dafür, keine Vorwarnsysteme, und er kommt immer unerwartet und gibt sich rational, aufgeklärt und überaus fortschrittlich. Das ist, so war es schon von der Frankfurter Schule zu lernen, die gefährliche Dialektik der Aufklärung. Die Suggestion, alles lasse sich mit rational gesteuerten Lernprozessen bewältigen, erzeugt auf ihre Weise einen neuen Totalitarismus, der blind ist und wehrlos gegen politische Katastrophen, die aus dem Irrationalen heraufziehen.

Und wirklich: Jeder Tag lehrt uns doch, wie wehrlos diese Generation ist, ausgeliefert den unberechenbaren Schwankungen eines selbst aus den Fugen geratenen Arbeitsmarktes, jeder Manipulation zugänglich, die eine Erfüllung ihrer Träume verspricht. „Sie machen sich keine Vorstellung, in welcher emotionalen Verwahrlosung unsere Kinder und Jugendlichen heranwachsen!“, schrieb mir die Direktorin einer Gesamtschule in NRW.

Ein Unterricht, der darauf antworten will, kann sich nicht auf die Perfektion des Beherrschens und Bewältigens beschränken. Er muss sich auf die gefährdete und verletzte Emotionalität der Kinder und Jugendlichen einlassen, und die verlangt einen Unterricht, der Quellen erschließt, aus denen sich leben lässt, auch im Angesicht einer bedrohten Zukunft, notfalls auch noch im Widerstand. Das aber ist nur in offenen Prozessen möglich, die zu einem weiterführenden eigenen entdeckenden Lernen auch außerhalb der Schule anstoßen.

Fraglos liegt hier eine besondere Aufgabe des Religionsunterrichts: sich der ungestillten und dadurch jeder zerstörerischen Manipulation zugänglichen Emotionalität der Kinder und Jugendlichen anzunehmen, so dass sie sich ihrer selbst bewusst werden und eine Ich-Stärke gewinnen, die sie widerstandsfähig macht. Kein Buch hilft so elementar dazu wie das der Psalmen in der Bibel, die im Dialog mit einer unauslöschlichen Gotteserfahrung alle Höhen und Tiefen seelischer Erfahrung so artikulieren, dass auch heutige Kinder und Jugendliche daran Sprache finden für sich selbst. Der RU wird sein Lebensrecht an der Schule nicht dadurch wahren, dass er sich (wie in EKD-Verlautbarungen schon programmiert) dem Zwang des Bewältigens völlig anpasst, sondern nur indem er seiner ureigensten pädagogischen Aufgabe treu bleibt, in der er unvertretbar ist.

Doch es geht nicht nur um den Religionsunterricht. Nicht zufällig war es in den Jahren der Neubesinnung nach dem Krieg ein Physiker, Martin Wagenschein, der von seinem Unterricht her die Notwendigkeit exemplarischer Tiefenbohrungen aufzeigte. Alle Fächer degenerieren, wenn sie nicht mehr zu den Quellen führen. Zum Glück hatte ich nach dem Krieg auf dem Weg zum Abitur Lehrer, die uns damals das für meine ratlose Generation Notwendige zeigten: einen Physiklehrer, der uns staunen ließ über das Wunder der Mathematisierbarkeit der Welt, und einen Deutschlehrer, der uns die Wurzeln zeigte, aus denen selbst in den Zeiten der apokalyptischen Diktatur noch Lebensmut und Widerstandswille wachsen konnten.

Es bleibt nichts anderes: Der Zug ist abgefahren, aber mit falscher Weichenstellung – wir müssen ihn aufhalten, oder er fährt uns in die Katastrophe. Alles steht auf dem Spiel: die Menschlichkeit unserer Schule, die Zukunft unserer Gesellschaft, aber vor allem dies: das Leben und der Lebensmut der kommenden Generation.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2013

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