Ist religiöse Erziehung Schwarze Pädagogik? – Überlegungen zum destruktiven Potenzial religiöser Erziehung

von Werner H. Ritter

 

Wer seinen Sohn liebt, der züchtigt ihn bald”, heißt es schon im Alten Testament (Spr 13,24). Unter Schwarzer Pädagogik (Rutschky 1977; Mallet 1987) versteht man auf dieser Linie die Schatten- und Nachtseite von Erziehung, also Erziehung, die Heranwachsende rigorosen Gehorsamsdiktaten unterwirft und abrichtet, sie also letztendlich mehr destruiert als ihnen fördernd und fordernd auf ihrem Weg in das Leben zu helfen. Ist religiöse Erziehung Schwarze Pädagogik bzw. wie sieht es mit ihrem destruktiven Potenzial aus?

 

Anmerkungen zu Erziehung und religiöser Erziehung

Während von Bildung seit vielen Jahren fast alle reden – Medien, Erziehungswissenschaftler, Pädagogen und Bildungstheoretiker – ist von Erziehung erheblich weniger die Rede. Ausnahmen (Bueb 2006, Herman 2006, Winterhoff 2008) und reißerische Aufmacher in der Boulevardpresse bestätigen die Regel, und das obwohl Erziehung für die Subjekt- bzw. Personwerdung des Menschen fundamental ist (Hentig 2009).

Unsere deutschen Worte erziehen, Erziehung wie die lateinischen Äquivalente educare, erudire (rudis roh) erinnern uns daran, dass wir als Menschen gleichsam un-fertig zur Welt kommen. Nicht instinktgebunden bzw. -gesichert wie die Tiere müssen wir eine Zeit lang an der Hand genommen und geführt werden, sind also fundamental auf entsprechende Erziehungs- und Lernvorgaben seitens der Älteren angewiesen. Diese als persönlichkeitsfördernde “Autoritäten” (lat. augere) vermehren durch vielfältige Anregungen die Lebensmöglichkeiten von Heranwachsenden, fördern sie durch Bestärkung und Begrenzung, je jünger Heranwachsende sind, desto mehr – je älter, desto weniger. Ziel der Erziehung muss allemal die Freigabe der Heranwachsenden sein, die selbst in ihre Bestimmung und Individualität hineinfinden sollen. Erziehung hilft also dabei, dass wir unsere animalische Existenz transzendieren und zu Subjekten werden können.

Da wir ferner – ebenfalls im Unterschied zu den Tieren – nicht von Anbeginn unseres Lebens an über eine fertige Sinnformel, Weltanschauung oder Religion verfügen, sind wir als für die ganze andrängende Wirklichkeit offene Lebewesen (Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen), überlebensnotwendig auf entsprechende Vor-Gaben seitens der Älteren bzw. der Eltern angewiesen. Im Rahmen dieser Welt-Offenheit und einer fundamentalen Sinn-Bedürftigkeit sind Heranwachsende auch für (christliche) Religion und religiöse Erziehung offen.

Speziell unter religiöser Erziehung verstehe ich näherhin formal alle gerichteten und ungerichteten (intentionalen wie nicht-intentionalen) Einwirkungen seitens Erziehender auf Kinder und Heranwachsende im Sinne deren Hineinnahme in ein komplexes Lebens- und Wirklichkeitsmodell, das Kennen- und Erlernen dieses Modells, wozu auch so etwas wie eine “religiöse Muttersprache” (Richard Schröder) gehört. Inhaltlich gesehen meine ich mit religiöser Erziehung im christlich-abendländischen Kontext die Erschließung und Begehung (Christoph Bizer) einer Welt-Anschauung aus dem Reservoir des christlichen Glaubens mit allen Sinnen. Christliche Religion liefert Erziehern für die religiöse Erziehung Bilder, Vorstellungen, Geschichten, Visionen (wie z. B. in Gestalt von Gleichnissen, Wundergeschichten, Psalmen und Schöpfungsliedern), die den Heranwachsenden dabei helfen können, selbst zu einer religiösen Welt-Anschauung zu kommen und zu gebildeten religiösen Subjekten zu werden.

 

Beispiele schwarzer religiöser Erziehung

Beispiele für destruktive, schwarze religiöse Erziehung gibt es viele. Im Folgenden seien drei bekannte Persönlichkeiten genannt.

In der Form einer direkten Gottes-Anrede hat der Psychoanalytiker Tilmann Moser (*1939) vor über 30 Jahren die Geschichte seiner destruktiven religiösen Erziehung beschrieben, die er im Nachhinein als “Gottesvergiftung” (Moser 1976) empfindet:

“Aber weißt du, was das Schlimmste ist, das sie mir über dich erzählt haben? Es ist die tückisch ausgestreute Überzeugung, daß du alles hörst und alles siehst und auch die geheimen Gedanken erkennen kannst. Hier hakte es sehr früh aus mit der Menschenwürde; doch dies ist ein Begriff der Erwachsenenwelt. In der Kinderwelt sieht das dann so aus, daß man sich elend fühlt, weil du einem lauernd und ohne Pausen des Erbarmens zusiehst und zuhörst und mit Gedankenlesen beschäftigt bist.” (S. 13)

“Du hast mir so gründlich die Gewissheit geraubt, mich jemals in Ordnung fühlen zu dürfen, mich mit mir aussöhnen, mich o. k. finden zu können.” (S. 17)

Das destruktive Potenzial solcher Art religiöser Erziehung ist – wie insbesondere das letzte Zitat zeigt – gewaltig und wirkt lange, womöglich dauerhaft nach.

Der Sänger und Poet Konstantin Wecker (*1947) gibt seinem autobiografischen Rückblick auf seine religiöse Erziehung die bezeichnende Überschrift “Sieht Gott wirklich alles, Papa?” (Wecker 2004). In der Erinnerung verbleibt ihm als Haupteindruck:

“Fast alle meine Religionslehrer machten mir Angst. Nicht, dass sie selbst so Furcht einflößend gewesen wären, aber der liebe Gott, von dem sie mir erzählten und von dem ich doch so viel wissen wollte, war nicht lieb. Er schaute mahnend unter die Bettdecke, drohte bei jeder Gelegenheit mit dem Jüngsten Gericht und den Qualen der Hölle und war sehr, sehr streng. Und mir kam er damals auch ganz traurig vor, denn wer so streng ist, der ist auch ganz allein. Heute ist mir klar, dass es kein bequemeres Erziehungsmittel gibt für aufsässige kleine Jungs und Mädchen, als diesen unsichtbaren, bösen alten Mann aus der Trickkiste zu holen, der einen auch da noch beobachtet, wo die Eltern oder die Lehrer nicht hinsehen können. (S. 11)

Für Wecker ist religiöse Erziehung ein Erwachsenen willkommenes repressives Erziehungsmittel zur Disziplinierung “aufsässiger” Kinder – big brother is watching you!

August Hermann Francke (1663-1727), Professor für Pädagogik in Halle und Begründer der späteren Franckeschen Anstalten für vernachlässigte Kinder und Jugendliche, ging es als Vertreter des lutherischen Pietismus vor allem um eine der Frömmigkeit dienende Erneuerung der Erziehung. Sein erklärtes Ziel war es, Kinder zur Gottseligkeit zu erziehen; Gottes Wort und Gottes Ehre sollten für ihr Leben alleinige Richtschnur sein. Dafür waren ihm Gehorsam – für ihn “die eigentliche Tugend” –, Wahrheitsliebe, Demut, Willfährigkeit, Bescheidenheit und Fleiß wichtig. Um Erziehung bzw. Zucht mit Erfolg auszuüben, geht es nach Francke nicht ohne Prügel ab, was er zu seiner Zeit nicht weiter begründen muss, vielmehr kann er sich im Sinne des Zeitgeistes auf die Erfahrung als besten Lehrmeister berufen: Man kann die Rute nicht aus der Kinderzucht verbannen. Prügel waren indes nur ein Teil des Franckeschen Erziehungsprogramms. Entscheidender und der eigentliche Nerv der Franckeschen Erziehung ist die sogenannte Inspektion. Sie ist kritisch gesehen nichts anderes als eine Dauerüberwachung von Kindern und Jugendlichen, damit diese nichts Böses anstellen (konnten). Dementsprechend werden Zöglinge von Inspektoren in den Franckeschen Anstalten dauerhaft kontrolliert: “ein Aug’, das alles sieht”! – (Religiöse) Erziehung im Sinne einer Kontroll-Instanz “von oben”, die Heranwachsende klein hält – das ist durchaus Schwarze Pädagogik!

Die angeführten drei Beispiele religiöser Erziehung muten uns Heutigen in der Rückschau in ihrer Destruktivität als problematisch an. Man muss jedoch, um den geschichtlichen Verhältnissen gerecht zu werden, darauf hinweisen, dass sie zu ihrer Zeit (weithin) als richtig und positiv empfunden wurden, da sie weithin dem damaligen Zeitgeist entsprachen: Als Kind ihrer jeweiligen Zeit partizipiert (religiöse) Erziehung an deren Gepräge und normativen Vorstellungen. Genauer heißt das: Mit ursächlich für die von uns heute als destruktiv empfundene Gestalt der drei religiösen Erziehungsbeispiele sind zum einen eine traditionale, Jahrhunderte lang übliche Unterordnungs- und Gehorsamskultur, in die religiöse Erziehung als Kind ihrer Zeit massiv involviert ist, und zum anderen biblische Erziehungsvorstellungen, die nicht einheitlich sind, sondern “weichere” Erziehungsvorstellungen ebenso erkennen lassen wie härtere.

Auf das Ganze der Geschichte der christlichen Erziehung gesehen hat sich, wie ich meine, der von mir so genannte härtere Typ biblischer Texte zur Erziehung als wirkungsgeschichtlich einflussreicher gezeigt. Das heißt nicht, dass christliche Eltern und Erzieher ihre Kinder nicht auch liebevoll (religiös) erzogen hätten, aber die dunkleren, destruktiveren Komponenten haben sich wohl immer wieder als stärker erwiesen.

 

Religiöse Erziehung heute und morgen

Mittlerweile hat der gesellschaftliche Wandel im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts neue Lebensstile – religiöse Lebensstile inklusive – hervorgebracht, die sich auch in der religiösen Erziehung der Gegenwart bemerkbar machen. Wichtige Merkmale hierfür sind: Institutionen, Traditionen und Autoritäten allgemein – religiöse im Besonderen – wurden, zum Teil recht pauschal, als un­menschlich, freiheitsverhindernd und antiemanzipatorisch wahrgenommen und entsprechend kritisiert. Dies führt zur Relativierung einer Gehorsams- und Unterdrückungskultur zugunsten einer Befreiungs- und Selbstständigkeitskultur, die sich auch im Kontext von Religion produktiv auswirkt und die traditionale religiöse Erziehung mit ihren destruktiven Potenzialen zurückdrängt. Unterstützt wird dies durch weitere Indikatoren gesamtgesellschaftlicher Veränderungen wie Individualisierung, Pluralisierung und Privatisierung, die religiöse Erziehung vielgestaltiger und individueller ausfallen lassen. All dies zusammengenommen setzt im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert eine – durchaus positiv zu verstehende – liberale, “weichere” religiöse Erziehung in Gang, die jenseits von Unterdrückung und Destruktivität freundlich und freiheitlich an den Heranwachsenden orientiert ist und in deren Zentrum ein “lieber” Gott steht, der (fast ausschließlich) barmherzig und den Menschen verständnis- und liebevoll – “biophil” mit Erich Fromm gesprochen – zugewandt dargestellt wird. Dabei bleiben dessen “dunkle Seiten” weithin, nicht unproblematisch, ausgespart, was wiederum die “Weich”-Zeichnung religiöser Erziehung befördert.

Insgesamt fällt zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts im Unterschied zu den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts im Sinne eines (positiven) Paradigmenwechsels auf, dass entgegen allen z.T. überkommenen Vorbehalten gegenüber Religion und religiöser Erziehung generell, den Vorwürfen destruktiver religiöser Erziehung speziell offensichtlich ein gesellschaftlicher wie individueller Bedarf an religiöser Erziehung besteht. Zwar gibt es auch heute Eltern bzw. Erwachsene, die auf Grund negativer Erfahrungen mit ihrer eigenen religiösen Erziehung sich mit der religiösen Erziehung von Kindern schwer tun; gibt es Erwachsene bzw. Eltern, die aus ganz unterschiedlichen Gründen familiale religiöse Erziehung lieber aussparen und an religiöse Experten in Betreuungseinrichtungen und Schulen delegieren wollen; gibt es auch heute Eltern und Erzieher, die Angst haben, durch Erziehung allgemein, religiöse Erziehung insbesondere Kinder zu beeinflussen und zu manipulieren, sie also auf etwas hin zu erziehen, was diese gar nicht wollen. Daher rührt bis heute die Neigung mancher Eltern, dem Kind religiös nicht vorgreifen zu wollen, sondern es im Sinne von Rousseau sich entwickeln und später selbst entscheiden zu lassen. Nur nebenbei angemerkt: So sehr diese Angst verständlich und zu achten ist – kann man Erziehung allgemein und religiöse Erziehung speziell wirklich aussparen? Ist Nicht-Erziehung nicht auch ein erzieherischer Vorgriff und damit eben doch wieder Erziehung? Und muss man nicht das, worüber man als Kind oder Heranwachsender entscheiden soll, vorher lebensprozessual durch “learning by doing” kennen gelernt haben? Wie Entscheidung nicht auf das punctum mathematicum des kognitiven Entscheidungsaktes zu beschränken ist, so beginnt das Leben des Menschen nicht mit Denken und freiem Entscheiden, sondern mit der Übernahme von Verhaltensmustern. Das heißt, das Kind muss sich eine Orientierungs- und Verhaltensbasis erwerben, bevor es selbstständig denken und entscheiden kann (Fraas 1978). Aus diesem Grund ist die Gefahr einer Manipulation, auch wenn sie nicht zu leugnen ist, kein wirklich zwingendes Argument, auf Erziehung im Allgemeinen, religiöse Erziehung im Besonderen zu verzichten.

Ganz in diesem Sinne zeigen Umfragen (Zinnecker/Silbereisen 1996) und qualitativ empirische Untersuchungen (Schwab 1995) überraschend deutlich, dass es in sehr vielen Familien ein beachtliches Interesse an religiöser Erziehung gibt, sich diese “Familienreligiosität” aber anders konkretisiert als die, die heute die Kirchen erwarten. Diese (Familien-) Religiosität ist stark individualisiert und pluralisiert, und Eltern legen dabei großen Wert auf eigene Entscheidungen der Kinder; zwar steht Religion hier nicht im Lebensvordergrund, bildet aber den unverzichtbaren Rahmen und Horizont des Lebens und wird zwischen den Generationen mit deutlicher Prägekraft tradiert, weil man aus seiner religiösen (Familien-) Biografie nicht einfach aussteigen kann oder will.

Wenn dem Bertelsmann Religionsmonitor 2008 (Bertelsmannstiftung 2007) zufolge über 70 Prozent der erwachsenen Deutschen und 74 Prozent der Kinder an Gott glauben, muss einen dieser Bedarf an Religion nicht wundern. Es sieht also ganz danach aus, dass gerade Heranwachsende für Religion offen sind und sie sich hier, weil es ihnen wichtig ist, orientieren wollen. Diese religiöse Ansprechbarkeit heutiger Kinder und Jugendlicher ist immer wieder erstaunlich; ganz offensichtlich sind sie nämlich – auch in Sachen Religion – weniger Freiheitssucher wie in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts als vielmehr Ordnungs- und Orientierungssucher (Zinnecker u. a. 2002). Von daher ist es nur folgerichtig, wenn die Religionspädagogik seit etlichen Jahren davon spricht, dass Kinder ein “Recht auf Religion” haben (Schweitzer 2000) und sie nicht um Religion und Gott betrogen werden dürfen (Biesinger 1994a), auch nicht angesichts elterlicher Unsicherheiten und der Gefahr problematischer religiöser Erziehung. Wer Kindern religiöse Erziehung vorenthält, beraubt sie, so ein markanter religionspädagogischer common sense heute, einer wichtigen Entwicklungsmöglichkeit, die entscheidend zur Selbstwerdung und Orientierungsfähigkeit inmitten religiöser Vielfalt beiträgt. Deswegen ist dem katholischen Religionspädagogen Albert Biesinger zufolge eine “Trendwende in der Begründung religiöser Erziehung” bzw. “eine Trendwende religiöser Erziehung” angesagt: Weg von der Defensive hin zur Überzeugung: “Wer seinem Kind die Beziehung zu Gott eröffnet, erschließt ihm neue Räume von Weltdeutung und Hoffnung für das eigene Leben” (Biesinger 1994b, 652ff.). Will sagen: Heute nur vor den Gefahren einer “Gottesvergiftung” zu warnen und auf negative Beispiele religiöser Erziehung zu verweisen, reicht angesichts der massiven Veränderung im Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen und des Wandels religiöser Erziehung in den letzten Jahrzehnten nicht mehr aus. Kann es nicht sein, dass die “gesunde” Entwicklung von Kindern auch dann gefährdet ist, “wenn nicht zu viel, sondern zu wenig religiös erzogen wird und wenn religiöse Erfahrungen sprachlos bleiben und nicht mehr mit anderen geteilt werden können” (Schweitzer 2000, 43)? Muss, wer von “Gottesvergiftung” und destruktiver religiöser Erziehung spricht, nicht auch die Gefahr religiöser Unbehaustheit sehen und vor einem religiösen “Kaspar-Hauser”-Syndrom warnen? Kaspar-Hauser-Syndrom als Zeichen einer problematischen Kindheit, wenn und wo Kindern die fundamentale und elementare, auch religiöse, Begleitung und Unterstützung beim Aufwachsen in ihrer Komplexität vorenthalten wird. Was ist hinsichtlich der Zukunft religiöser Erziehung zu sagen?

 

Brauchen Kinder und Jugendliche  künftig religiöse Erziehung?
Sicher nicht alle, aber für eine Mehrzahl wird dies weiterhin der Fall sein, was mit der condition humaine zusammenhängt. Freilich machen Schnell-Lebigkeit und -Taktigkeit unserer Zeit, Multimedialität und Dauermobilität sowie die Priorisierung von Machbarkeit, rascher Bewältigung, schneller Verwertbarkeit und Konsumierbarkeit religiöser Erziehung zu schaffen und stellen eine Herausforderung für alle dar. Was, wenn inne- und stille-halten, staunen und danken immer seltener gelernt werden?

 

Welche religiöse Erziehung brauchen Heranwachsende künftig?
Meines Erachtens wird uns nicht wieder die traditionelle, unterordnende und destruktive religiöse Erziehung leiten können, da unsere Erziehungskultur nicht in Zeiten zurück sollte, in denen Kinder als Objekte dem Zugriff der Erwachsenen ausgeliefert waren (Carle 2001). Wer künftig religiös erzieht, hat Heranwachsende als Subjekte wertzuschätzen, wie das nach dem Zeugnis der Evangelien Jesus getan hat (vgl. Mk 10,13-16). Religiöse Erziehung soll Kindern und Jugendlichen die “herrliche Freiheit der Kinder Gottes” (Röm 8,21) und den “aufrechten Gang” lehren und vorleben, weil Heranwachsende eine unveräußerliche Würde haben. Zur jüdisch-christlichen Erinnerungskultur gehört ja fundamental die Vision eines herrschaftskritischen Gottes (vgl. Ex 20,2; Gal 5,1), der Menschen davor bewahren will, sich unterjochen zu lassen. Ein freier Gott will freie Menschen, keine Untertanen. Freilich: Ohne menschliche Selbstbegrenzung – der Mensch ist nicht das Maß aller Dinge – und ohne Unterordnung unter diesen Gott und Hörbereitschaft auf ihn, werden Religion und religiöse Erziehung nicht zu haben sein. Für biblisches Denken gibt es Freiheit nur “in Bindung an” (Ps 31,9). Ein herren- oder bindungsloser Mensch ist nicht frei, sondern gefährdet. Das ist das eine, das in Erinnerung gerufen werden muss, das andere aber auch: Christliche Religion und christliche Erziehung sind ein Ruf in die Freiheit der Kinder, der Söhne und Töchter Gottes. Beides im Blick zu haben, darauf kommt es bei künftiger religiöser Erziehung an. Alles andere ist – ein Kinderspiel.

 

Mit welchen religiösen (Gottes-)Vorstellungen soll religiöse Erziehung arbeiten?
Thema und zugleich Problem künftiger religiöser Erziehung ist vermutlich nicht, dass – wie bis in die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein – zu massiv mit gefährlichen, destruktiven (Gottes-)Bildern und religiösen Vorstellungen gearbeitet (werden) wird. In den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts ist Gott im Kontext religiöser Erziehung, wie oben schon angesprochen, vorwiegend “lieb” und “weich” gezeichnet worden, was eine Vereinseitigung des Gottesbildes im Sinne von “der Papa wird’s schon richten” (Peter Alexander) zur Folge hatte, aber sehr häufig den realen Erfahrungen von Heranwachsenden mit einem nicht-eingreifenden helfenden Gott widersprach (vgl. Ritter u. a. 2006 b). Seit gut einem Jahrzehnt besinnen sich Theologen und in der Folge auch für religiöse Erziehung Verantwortliche darauf, dass gleichsam die “dunklen Seiten Gottes” (Link/Dietrich 1995) nicht aus Religion und religiöser Erziehung ausgespart werden dürfen. Vielmehr wird es künftig darauf ankommen, wenn Gott das Zentrum religiöser Erziehung ist, sowohl dessen Nähe, Zuwendung und Barmherzigkeit als auch dessen Ferne, Verborgenheit und Abwesenheit im Blick zu haben (vgl. Jer 23,23) und sich erzieherisch zwischen diesen beiden Polen zu bewegen. Damit sollen gewiss nicht einfach (immer) mögliche destruktive Potenziale religiöser Erziehung reaktiviert, wohl aber die Reduktion religiöser Erziehung auf einen “Eia-popeia-Gott” (Heinrich Heine) vermieden werden.

 

Mit welchem Ziel religiös erziehen?
Es gehört zur religiösen Erziehung, dass wir Kinder und Jugendliche zu Gewohnheiten, Überzeugungen und Haltungen anregen wollen. Die große Gefahr und Versuchung jeglicher – auch religiöser – Erziehung ist, dass wir Erwachsene Kinder und Jugendliche nach unserem Bild formen wollen. Das aber kann nicht Ziel künftiger religiöser Erziehung sein, sondern (nur) dies: Heranwachsende zu befähigen, sich zunehmend selbst religiös zu positionieren. Wenn sie – wie alle Menschen – Ebenbilder (des freien) Gottes sind (vgl. Gen 1,26f.), schiebt dies jedem erzieherischen Zugriff, der sie zum verfügbaren Objekt degradieren will, einen Riegel vor.

 

Fazit

Ich wollte zeigen, dass es genug Beispiele missbräuchlicher, destruktiver religiöser Erziehung gibt, mutmaßlich mehr als gute. Wobei man annehmen darf, dass Beispiele guter, “gelungener” religiöser Erziehung nicht so “aktenkundig” geworden sind wie die negativen, da letztere einfach schlagzeilenträchtiger sind. Nicht plausibilisieren lässt sich jedoch mit zahlreichen guten Gründen die Auffassung, dass religiöse Erziehung per se Schwarze Pädagogik ist. Vielmehr hat religiöse Erziehung von ihren Potenzialen her das Zeug, produktiv zur Entwicklung von Kindern und Jugendlichen beizutragen. Vor destruktivem Gebrauch ist sie freilich eben so wenig gefeit wie jede andere Erziehung auch.

 

Literatur

  • Bertelsmannstiftung (2007). Religionsmonitor 2008. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
  • Biesinger, A. (1994a). Kinder nicht um Gott betrügen. Freiburg im Breisgau: Herder.
  • Biesinger, A. (1994b). Kinder nicht um Gott betrügen. In: Kat. Bl. 119 (1994) S. 652-655.
  • Bueb, B. (2006). Lob der Disziplin: Eine Streitschrift. Berlin: List.
  • Carle, U. (2001). Lasst uns die Welt mit den Kindern gemeinsam gestalten. Überlegungen zur Demokratisierung der Erziehungskultur. In: Pr Theol 36, S. 155-165.
  • Dietrich, W., Link, C. (1995). Die dunklen Seiten Gottes. Neukirchen-Vluyn: Neukirchner.
  • Fraas, H.J. (1978). Glaube und Lernen. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.
  • Hentig, H. von (2009). Das Ethos der Erziehung. Was ist in ihr elementar? In: ZfPäd 55 (2009), S. 509-527.
  • Herman, E. (2006). Das Eva-Prinzip / Für eine neue Weiblichkeit. München/Zürich: Pendo-Verlag.
  • Mallet, C. (1987). Untertan Kind. Nachforschungen über Erziehung. München: Hueber.
  • Moser, T. (1976). Gottesvergiftung. Frankfurt: Suhrkamp.
  • Rutschky, K. (1977). Schwarze Pädagogik. Berlin: Ullstein.
  • Schwab, U. (1995). Familienreligiosität. Religiöse Traditionen im Prozess der Generationen. Stuttgart: Kohlhammer.
  • Schweitzer, F. (2000). Das Recht des Kindes auf Religion. Ermutigungen für Eltern und Erzieher. Gütersloh: Mohn.
  • Wecker, K. (2004). Sieht Gott wirklich alles, Papa? In: A. Bick (Hrsg.), Gott gibt die Fischstäbchen. Erfahrungen mit religiöser Erziehung (S. 11-14). Berlin: Wichern.
  • Zinnecker, J., Silbereisen R. K. (1996). Kindheit in Deutschland. Weinheim: Beltz.
  • Zinnecker, J., Behnken, I., Maschke, S., Stecher, L. (2002). Nullzoff und voll busy. Die erste Jugendgeneration des neuen Jahrhunderts. Opladen: Leske und Budrich.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2010

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