Kompetenzen, Standards und kein Ende…- Von der Gefahr religionspädagogischer Kritikabstinenz

von Jürgen Heumann

 

Als in der Lehrerbildung die Lernzielorientierung noch en vogue war, wurde Studierenden und Referendaren zu deren Begründung gern die Fabel vom Seepferdchen erzählt.

Sie berichtet von einem jungen Seepferdchen, das sich in die Welt aufmacht, um sein Glück zu finden. Verschiedene Fische, denen es auf seinem Weg begegnet, bieten ihm für sein letztes Geld mehr oder weniger sinnvolle Hilfe an, bis es am Ende auf einen Haifisch trifft. Der meint, dass es das Seepferchen mit ihm gut getroffen habe: „…’Wenn du diese kleine Abkürzung machen willst’, sagte der Haifisch und zeigte auf seinen geöffneten Rachen, ‚sparst du eine Menge Zeit.’ ‚Ei, vielen Dank’, sagte das Seepferdchen und sauste in das Innere des Haifisches. Die Moral von der Geschichte: wenn man nicht genau weiß, wohin man will, landet man leicht da, wo man gar nicht hinwollte.“1

Die Lernzielorientierung unterlag seinerzeit, nicht zuletzt in den Seminaren der Zweiten Ausbildungsphase, einer ähnlichen Fetischisierung und Inflationierung wie gegenwärtig die alles pädagogische Handeln durchdringenden Begriffe Standardisierung und Kompetenzorientierung. Wer ein wenig länger die pädagogischen und fachdidaktischen Szenen überschaut, dem fallen gewiss noch weitere Begriffe ein, z. B. Handlungsorientierung oder Operationalisierung.

Bei all diesen Begriffen handelt es sich um Struktur- oder Funktionsbegriffe, die einzig so etwas wie einen „output“ anmahnen, der nach den Mühen des pädagogischen Inputs in Kinder- und Jugendlichenköpfe nun auch endlich für alle sichtbar werden müsse. Von den zu lehrenden Inhalten ist in diesen Begriffen nicht die Rede. Aber gerade die Inhalte sind es, die pädagogisch Orientierung vermitteln bzw. zur Abarbeitung auffordern, damit nachwachsende Generationen so etwas wie Verantwortung, Emanzipation, Selbstbestimmtheit, Freiheit, Solidarität, Kritikfähigkeit gegenüber Ideologien gewinnen. Es ist z. B. nicht nur wichtig Unterscheidungs- und Deutungskriterien für religiöse Sprachformen zu kennen, wie der Kompetenzkatalog des Comenius-Instituts vermittelt, also z. B. Gebete von Gleichnissen unterscheiden zu können, sondern die eigentliche Lernherausforderung besteht darin, welche Gebete es sind, die exemplarisch für eine Religion stehen und die gleichzeitig in Gegenwartskulturen Sinn machen und lebensdienlich sind.

Die Inhalte lassen sich nicht einfach austauschen. Sie müssen immer wieder neu diskutiert werden, u. U. so lange, bis sie durch andere begründet und, im Sinne der Grundrechte und Grundwerte der Gesellschaft sanktioniert, ausgetauscht werden.

Wenn aber eine solche Reflexion der Inhalte nicht ausreichend geschieht und stattdessen Funktions- und Strukturdebatten über Begriffe und Ableitungen bis in die letzte Aufgabenstellung für Schülerinnen und Schüler hinein geführt werden, dann können Bildung und Schule schnell ihre Orientierung verlieren und sich wider besseres Wissen zu einer „output-Anstalt“ reduzieren. Vielleicht, um auf die Fabel zurückzukommen, wäre es doch für das Seepferdchen wichtig gewesen, sich über die Gewässer, in denen es schwimmt kundig zu machen; in einem anderen „Inhalt zu schwimmen“ und sich damit in für es zuträglicheren Gewässern zu bewegen. Vielleicht wäre ein sonniger See doch lebensdienlicher als die Tiefsee mit ihren Haien (dass mein Beispiel unter fachbiologischen Gesichtspunkten hinkt, ist mir bewusst). Es scheint eben nicht ganz unwichtig zu sein, auf welche Inhalte wir Kinder und Jugendliche in der öffentlichen Schule hin orientieren. Formalisierte Kompetenzbeschreibungen und standardisierte Arbeiten sind allerhöchstens Mittel zum Zweck.

Wenn sie nur als solche gesehen werden, können sie pädagogisch dienlich sein; gegenwärtig, scheint es mir aber, werden sie zum Allheilmittel einer nach dem Pisa-Schock noch immer nicht „geheilten“ öffentlichen Bildung.

Was es alles religionspädagogisch zur Kompetenzdebatte Kritisches zu sagen gibt, hat Gabriele Obst in einem pragmatisch-konstruktiven Buch zusammengestellt und mit Antworten versehen, warum für sie Kompetenzorientierung gleichwohl wichtig ist.2

Als kritische Anfrage nennt sie zum einen das bildungstheoretische Argument, demzufolge es das Subjekt selbst ist, das sich bildet und das Bildung als persönlich bereichernd empfinden muss. Nicht zuletzt bedeute dies: „einhalten, nachdenken, sich sammeln, Zeit lassen zum Begreifen, um zu sich selbst zu kommen – und so auch zu den Sachen“.3 Obst versteht dieses Argument als ein „Phasenargument“. Die „Rhythmisierung des Schullebens erfolge phasenweise, „zwischen Phasen höchster Konzentration und Phasen größter Gelassenheit“.4 Insofern würde Kompetenzorientierung nicht stören. Zunächst ist diese Argumentation nachvollziehbar. Natürlich muss es im Religionsunterricht Anstrengung und Konzentration geben. Es wird aber höchst problematisch, wenn Prinzipien wie Kompetenz oder Standardisierung zur pädagogischen, inhaltlichen und methodischen Grundlage für den Religionsunterricht gemacht werden, die im Schulalltag eben jene Gelassenheitsdispositionen nicht zum Zuge kommen lassen und damit ein Essential von Religionsunterricht verdrängen.

Mit Karl Ernst Nipkow und Bernhard Dressler führt Obst das bildungstheoretische Argument weiter. Mit Nipkow besteht sie nicht nur auf einer „leistungsstarken“, sondern auch auf einer „nachdenklichen Schule“ und mit Dressler warnt sie davor, dass Bildungsideale in pädagogische „Vollkommenheitsansprüche“ umschlagen können und „Bildung nur dann funktional sein kann, wenn sie nicht nur funktional ist“.5 Ihre Gegenargumente auf solche Einwände beziehen sich darauf, dass es gerade die Kompetenzorientierung sei, die die Schüler als „Subjekte“ in den Blick nehme, und das sei durch eine „Inhalts- oder Lernzielorientierung“ eben nicht in demselben Maße gegeben. Haben aber nicht Konzepte wie Problemorientierung, Symbolorientierung, Schülerorientierung oder Elementarisierung, also inhaltsbezogene Konzepte, mit ihrem dezidierten Interesse an von Schülern erstellten Produkten bis hin zu Projekten, immer auch den Lernoutput und konkrete Handlungsmöglichkeiten im Blick gehabt? Dies aber eben aus inhaltlich-konzeptioneller Intention und nicht nur aus Gründen einer leistungsoptimierenden Überprüfbarkeit.

Der gern auch von anderen Kompetenzvertretern6 erhobene Vorwurf, die Lernzielorientierung der 70er Jahre sei weit technokratischer als die gegenwärtige Kompetenzorientierung gewesen, trifft leider zu. Aber es ging seinerzeit nicht um eine „möglichst genaue Ausstrichelung von Lernzielen“, wie Obst meint (leider haben sich viele Fachseminare der Zweiten Phase dazu verführen lassen), sondern um eben jene Bewusstseinsschärfung, wohin der Weg des Lernens führen soll, damit die Schüler nicht im „Rachen von Haifischideologien“ - auch und gerade christlichen und religiösen - verschwinden.

Immerhin war dieser Ansatz inhaltlich ausgerichtet und nicht einzig von der Faszination „möglichst vielfältig gestalteter Lernwege“ bestimmt. In der Lernzielorientierung wie in der bildungstheoretischen Didaktik von Klafki „dienen“ die Unterrichtsmethoden mit ihren „outputs“ den Inhalten (Primat der Didaktik vor der Methodik), nicht umgekehrt. Immerhin kannte die Lernzielorientierung inhaltliche Grundentscheidungen, die bis heute durchaus nicht obsolet sind. Mit Vierzig muss immer noch darauf bestanden werden, dass der Religionsunterricht die Fähigkeit vermitteln muss, „die religiöse Frage in den jeweiligen Entscheidungs- und Konfliktsituationen zu stellen und in Auseinandersetzung mit vorgegebenen Antworten religiöser und weltanschaulicher Traditionen vornehmlich der biblischen Botschaft zu einer eigenen Antwort zu kommen.“7 Es bleibt die Anfrage, auf welche Inhalte und Zielsetzungen sich Kompetenzen beziehen. Oder ist es einer Kompetenzorientierung gleichgültig, wohin öffentliche religiöse Bildung heute orientieren soll? Der alleinige Rückgriff auf bzw. die alleinige Voraussetzung der Stimmigkeit biblischer, theologischer oder gar kirchlicher Weltsichten reicht nicht mehr hin, oder muss doch zumindest im Diskurs als ausreichend erwiesen werden. Die Kompetenzorientierung „verschleiert“ solche Ansprüche und Diskurse zugunsten vermeintlich optimierter Lernprozesse.

Die Schwäche der Kompetenzorientierung liegt nicht in dem Anspruch einer Beschreibung, was Schülerinnen und Schüler nach vollzogenen Lernprozessen „können“ sollen; solches war immer schon Anspruch der Schule und auch Anspruch eines sich Bildung und Schule verpflichteten Religionsunterrichts. Das Problem liegt in der von Staat und Kirche gesetzten Dominanz gegenüber einer inhaltlichen Bildung mit ihren emanzipativen und kritischen Impulsen. Die von Obst postulierten Qualitäten der Kompetenzorientierung, diese hielte „Wissen und Können, Lernen und Handeln zusammen“, sie ginge vom „lernenden Subjekt“ aus, begünstige „vernetzendes nachhaltiges Lehren und Lernen“ und würde die „Qualität des Unterrichts sichern“8 erbringt zunächst nichts Neues und leider auch nicht den Nachweis, dass solches früheren, weniger begrifflich-technokratischen Konzepten unmöglich war. Dass auch ältere Konzepte da, wo sie tatsächlich fundiert und konsequent angewendet wurden, über vergleichbare Qualitäten verfügen, wird jedem Praktiker deutlich sein.

Mit der gesetzten Dominanz von Standardisierung und Kompetenzorientierung geht auch eine verdeckte Normierung von Unterricht einher, wenn dieser in allen Lehr- und Lernprozessen unter den Anspruch von überprüfbaren Kompetenznachweisen gestellt wird. Der Pädagoge Fritz Bohnsack bemerkt zu Recht: „Von der Buber’schen Perspektive des Verlusts der Person aus ist zu befürchten, dass mit der Standardisierung der Lernprozesse auch die Personen standardisiert werden, die Lernenden also und die Lehrenden. Die letzteren nehmen dann die Lerninhalte, z. B. literarische Texte, nur noch unter dem Vorzeichen vorausberechenbarer Kompetenzen wahr und schneiden diese auf das Überprüfbare zurecht“.9 Bohnsack stellt in diesem Zusammenhang auch die wichtige Frage nach dem Menschenbild, das standardisierte und kompetenzorientierte Konzepte steuert und reklamiert noch einmal die Pädagogik Martin Bubers: „Wieweit entspricht es z. B. Martin Bubers ‚großem Charakter’, der die Anforderungen jeder Situation ihrer Einmaligkeit gemäß verantwortlich beantwortet. Und wieweit ist dieses Menschenbild noch für die religiösen Dimensionen menschlichen Lebens und Erlebens offen…?

Derartige pädagogische oder gar pädagogisch-religiöse Zielsetzungen sind nicht leicht mit der politisch-ökonomischen Orientierung vereinbar, die heute zu dominieren sucht“10 Standardisierung und Kompetenzorientierung lassen sich nicht einfach voneinander abkoppeln, demzufolge durchgreifende Kompetenzorientierungen pädagogisch akzeptabel und die Standardisierungen von Unterrichtsinhalten als notwendiges Übel akzeptiert werden. Eine kritische Aufarbeitung des hinter solchen Vorstellungen stehenden ökonomistischen Menschenbildes muss weiterhin, gerade aus theologischer oder religiöser Perspektive heraus, geleistet werden, ehe man denn daran geht, die Curricula „umzumünzen“ und Lehrbücher und Unterrichtskonzepte mit neuen Vorzeichen zu versehen.

 

Anmerkugnen

  1. Robert F. Mager / Helga Thomas: Lernziele und Unterricht, Weinheim 1994 (Vorwort).
  2. Gabriele Obst: Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen im Religionsunterricht, Göttingen 2009. Der Band ist jedem zu empfehlen, der sich über die pädagogische und religionspädagogische Debatte kundig machen will bzw. wissen will, wie Kompetenzorientierung „funktioniert“.
  3. Zitiert nach Obst, a.a.O. S. 44, aus: Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- u. Lerngesellschaft. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2003.
  4. Ebd.
  5. Obst, a.a.O., S. 50.
  6. Hartmut Lenhard: Kompetenzorientierung – Neuer Wein in alten Schläuchen? In: Loccumer Pelikan 3/2007.
  7. Siegfried Vierzig: Lernziele des RU’s, Informationen zum RU 1+2, 1970.
  8. Obst, a.a.O., S. 65ff.
  9. Fritz Bohnsack: Schule – Verlust oder Stärkung der Person? Bad Heilbrunn 2008, S. 39.
  10. Obst, a.a.O., S. 40

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2009

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