Kompetenzorientierung: Neuer Wein in alten Schläuchen?

von Hartmut Lenhard

 

Täusche ich mich, oder spricht aus der Themenformulierung eine gehörige Portion Skepsis? Man muss kein Weinkenner sein, um dem „neuen“ Wein mit einer gewissen Reserve entgegenzutreten. Da gärt und saust es noch in der trüben Brühe, und tückisch versteckt die Süffigkeit des Federweißen die alkoholischen Tatsachen, die dann – wenn über die Maßen genossen – unweigerlich einen schweren Kopf produzieren. Natürlich: der Kenner braucht nur einen winzigen Schluck, um die Qualität des künftigen Weins abzuwägen –aber Vorsicht ist allemal geboten, schon gar wenn der neue Wein in den alten Schläuchen präsentiert wird.

Was also ist von der jüngsten religionspädagogischen Debatte zu halten, die mit einiger Vehemenz über die diversen universitären Lehrstühle her­ eingebrochen ist, aber auch den Praktiker vor Ort aufgeschreckt hat? Landauf landab predigen Bildungspolitiker und Pädagogen gebetsmühlenartig das Mantra von den Kompetenzen und Standards2 und trauen ihm offenbar zu, wie eine Zauberformel die Probleme des deutschen Schlsystems wenn nicht zu lösen, so doch in einen nomenklatorisch entrückten Zustand zu überführen, so dass sich die Fakten der Schulwirklichkeit nicht mehr so hart im Raume stoßen mögen. Hat also die Religionspädagogik nichts Besseres zu tun, als wieder einmal der mehr oder weniger fetten Sau hinterher zu jagen, die da durchs pädagogische Dorf getrieben wird? Oder geht es nun doch um etwas anderes als um Maschen und Moden, als um Wortgeklingel und Elfenbeinturmdidaktik? Könnte es sein, dass wir es hier mit einem neuen Paradigma zu tun haben, das die still vor sich hin dümpelnde und in der Routine des Alltagsgeschäfts hier und da erstarrende Praxis des Religionsunterrichts mit Recht aus ihrem Dornröschenschlaf aufscheucht? Und wie wäre es, wenn uns allen die unangenehme Frage gestellt würde, ob bei den 9, 10 oder gar 13 Jahren Religionsunterricht so etwas wie substanzielle religiöse Bildung herausgekommen ist. Nehmen wir also einen ersten Anlauf, um uns dem Problem der Kompetenzorientierung im Religionsunterricht zu nähern.


„Neuer Wein in alten Schläuchen“ – ein Exempel

Stellen wir uns einmal einen Schüler der Jahrgangsstufe 11 vor, der sich etwa im Fach Deutsch der Lektüre eines Romans oder einer Kurzgeschichte zu unterziehen hat. Nennen wir ihn biblisch bedeutungsschwer Jakob. Der Text bietet keine besonderen Schwierigkeiten, da stolpert Jakob über eine Passage, in der der Protagonist ausruft: „Das ist doch alter Wein in neuen Schläuchen!“ Jakob stutzt – wenn er sich denn den Text nicht einfach „reinzieht“, sondern ihn in seiner sprachlichen Gestaltung wahrnimmt und verstehend liest. Wein und Schläuche – wie passt das zusammen? Und was soll dieser Ausruf eigentlich bedeuten? Selbstreguliertes Lernen ist angesagt. Jakob greift auf die unerlässlichen Hilfsmittel eines Schülers zurück:

In Wikipedia findet er eine erste Auskunft:
„Schon in der Antike wurden Vorräte in flexiblen Behältern aus Leder oder Tierdärmen aufbewahrt, die als Schläuche bezeichnet wurden.“

„Als Weinschlauch werden elastische Gebinde bezeichnet, in denen Wein gehandelt und aus denen Wein abgezapft wird. In der Antike und im Mittelalter waren Weinschläuche neben Amphoren und Fässern ein gängiges Transportmittel.“
Aber was bedeutet der Ausruf? Sollte dies vielleicht eine Redensart sein?

Im Online-Lexikon für Redensarten (www.redensarten-index.de) findet Jakob die Erklärung:
„… den gleichen Inhalt auf andere Weise präsentieren oder anders benennen; Täuschungsmanöver“.

Und als Beispiele werden u. a. angegeben:
„Mehr als nur alter Wein in neuen Schläuchen? Eine kritische Bilanz der rot-grünen Sozialpolitik“ – „Unter dem Strich bleibt über: Hier wird mit viel Show alter Wein in neuen Schläuchen präsentiert“.

Doch halt. Im Experten-Forum „Wer-weiß-was.de“ stößt Jakob auf eine unerwartete Entdeckung:
„Hi Alex / ‚Alter Wein in neuen Schläuchen’ / Zitat von Jesus z. B. Mk 2,22. / Gruß Metapher“

Er hätte es sich denken können: Wie so oft liegt auch dieser Redensart ein biblischer Verweis zu Grunde. Mk – das kann nur das Markus-Evangelium sein – Kapitel 2, Vers 22: „Niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche; sonst wird der Wein die Schläuche zerreißen, und der Wein geht zu­ grunde samt den Schläuchen. Sondern neuen Wein [füllt man] in neue Schläuche.“

Merkwürdig, hier ist von neuem Wein in alten Schläuchen die Rede, in der Redensart von altem Wein und neuen Schläuchen. Die Erklärung aus dem Online-Wörterbuch passt überhaupt nicht auf das Bibelwort. Reizvoll, ein solcher Widerspruch. Er fordert geradezu zum Nachdenken heraus.

Unser Schüler braucht nicht lange, um das Bildwort zu entschlüsseln. Schließlich hat er gelernt, dass es bei biblischen Bildworten nicht darauf ankommt, Einzelheiten auszudeuten, sondern die Pointe zu entdecken. Warum wird beim Federweißen der Deckel nicht luftdicht aufgeschraubt, sondern nur aufgesetzt? Weil sich der junge Wein ausdehnt und den Deckel absprengen, vielleicht sogar die Flasche platzen lassen würde. Also eine auch heute nachvollziehbare Alltagserfahrung, die nicht anders auch in der Antike jedermann geläufig war. Ein alter Tierfellschlauch ist zu unelastisch für Most, der noch nicht ausgegoren ist. Nur ein neuer Schlauch passt zu neuem Wein.

Neugierig schaut sich Jakob den Kontext des Verses an. Er weiß aus dem Religionsunterricht, dass die Evangelien erzählerische Kompositionen sind und dass man Einzelverse nicht isolieren darf, sondern aus dem Zusammenhang erklären muss.

In Vers 21 liest er:
„Niemand näht ein Stück ungewalktes Tuch auf ein altes Kleid; sonst reißt das Flickstück [einen Teil] von ihm ab; das neue von dem alten, und der Riss wird schlimmer.“
Walken – Wikipedia gibt wie immer Auskunft:

„Bei der Tuchherstellung ist Walken ein Arbeitsvorgang, der mit Filz vorgenommen wird und den Zweck hat, durch Verfilzung der Fasern im Gewebe Tuch und tuchartige Stoffe zu erzeugen. Die ursprüngliche Methode, insbesondere Wolle zu walken, ist, den Filz in Tücher einzuschlagen und rollend zu kneten … Das Werkstück schrumpft dabei stark und es ergibt sich ein fester Stoff.“

Jakob braucht nicht viel Vorstellungskraft, um sich auszumalen, was passiert, wenn ein ungewalkter Flicken einen Riss in einem Gewand überdecken soll. Beim letzten Waschen ist sein gerade erst gekauftes T-Shirt leider auf die Größe seines zehnjährigen Bruders eingelaufen. Und bei einem Gewand, das ohnehin schon etwas marode zu sein scheint, dürfte der absehbare Schrumpfprozess in der Katastrophe enden. Also auch hier eine Alltagserfahrung. Das eine muss zum andern passen – das ist die Pointe.

Jakob ahnt, dass der Sinne der beiden Bildworte sich nicht in haushaltstechnischen Plausibilitäten erschöpft. Und richtig: Es geht in der Perikope um eine religiös relevante Frage: „Warum fasten die Jünger des Johannes und die Jünger der Pharisäer, die Jesusjünger aber nicht?“ Da muss unser Schüler schon etwas tiefer einsteigen. Wer ist dieser Johannes? Wer sind seine Jünger, warum fasten sie? Inwiefern verbindet das Fasten die Johannesjünger mit den Pharisäern? Soviel immerhin ist unserem Schüler nach der Konsultation des einschlägigen Wikipedia-Artikels klar: Fasten ist ursprünglich ein religiöser Ritus zur Reinigung der Seele, Abwehr des Bösen, verbunden mit Trauer über das eigene Tun und Bereitschaft zur Umkehr.

Und dann ergibt der Text einen Sinn:
„Da sprach Jesus zu ihnen: Können etwa die Hochzeitsleute fasten, während der Bräutigam bei ihnen ist?“

Es passt einfach nicht zu einer Hochzeit zu fasten. Da ist Freude und Schlemmen angesagt, nicht Askese und Trauer. Und deshalb verbietet sich während der Präsenz Jesu bei seinen Jüngern das Fasten. Die Zeit der anbrechenden Herrschaft Gottes ist Zeit der Freude, auch wenn die Schatten des Todes bedrohlich in die Gegenwart hineinragen. Die beiden Bildworte sind der schlagende Beleg: Das weiß doch jeder, wie es mit dem Flicken und den alten Schläuchen ist!3

Wir verlassen unseren Schüler und begeben uns auf die Metaebene. Eia wär’n wir da, wird manch einer von Ihnen seufzen. So einen Schüler möchte ich auch mal haben. In der Tat: eine Utopie, wie forschendes, selbstreguliertes Lernen aussehen könnte, so voller Neugier, Motivation und dem Willen, die Stolpersteine aus dem Weg zu räumen, das Problem zu knacken, das sich dem Lese- und Verstehensprozess unerwartet gestellt hat. Aber träumen wir nicht alle davon, dass unser Religionsunterricht Schüler nicht nur zu einer solchen Grundhaltung ermutigt, sondern ihnen auch das notwendige Wissen und die erforderlichen Fähigkeiten mit auf den Weg ihres Lernens und Lebens gibt?

Im Falle unseres Schülers ist das eine ganze Menge:Da ist zunächst einmal die Tatsache, dass der Schüler überhaupt etwas wahrnimmt und nicht nichts. Es bedarf eines geschulten Augenmerks auf Divergenzen, Unstimmigkeiten, Unerwartetes und Unbekanntes, auf Anstößiges und Widerborstiges, um nicht über Fragwürdigkeiten jeder Art im Tiefflug hinwegzugleiten. Und es bedarf einer motivationalen Prioritätensetzung, zur Aufklärung solcher Phänomene Zeit zu investieren und sich in ein Problem zu verbeißen.

Dann braucht unser Schüler Instrumente und Hilfsmittel, die er methodisch sachgemäß verwenden muss. Es genügt nicht, einfach wahllos vor sich hin zu googeln, aber es braucht auch nicht immer und unbedingt das Fachkompendium. Wichtiger ist, dass unser Schüler gezielt in validen Datenbanken sucht und die Fähigkeit besitzt, aus der Vielzahl der Informationen genau die herauszuklauben, die seine Fragen treffsicher beantworten.

An dritter Stelle lässt sich beobachten, dass unser Schüler gekonnt den Sinn einer Redewendung deutet und damit zeigt, dass er ein elaboriertes Textverständnis erreicht hat, das sich nicht einfach mit dem Wortlaut zufrieden gibt. All dies könnte er in einem guten Deutschunterricht gelernt haben. Aber jetzt beginnt es für den Religionsunterricht interessant zu werden.

Schon bei der einfachen Auflösung der biblischen Abkürzungen scheitert manch ein Oberstufenschüler, ganz zu schweigen davon, die richtige Stelle im Alten oder Neuen Testament nun auch in überschaubarer Zeit aufzuschlagen: Verfügung über biblisches Elementarwissen ist gefragt, das bei der Bearbeitung konkreter Aufgaben aktualisiert werden kann!

Anspruchsvoller sind grundlegende Kenntnisse über die Komposition von Evangelien, die unser Schüler benötigt, um einen biblischen Text in seinem Kontext zu verstehen. Schließlich muss er wissen, worauf es bei der Interpretation von Bildworten und Gleichnissen ankommt, dieses Wissen auf ein ihm unbekanntes Bildwort anwenden und es in Zusammenhang bringen mit der Botschaft von der anbrechenden Herrschaft Gottes – eine durchaus oberstufengemäße Aufgabe des Religionsunterrichts.


Neuer Wein – Die Kompetenzorientierung

Befassen wir uns nun etwas genauer mit dem „neuen Wein“, der da vor sich hin brodelt und gärt und bei dem man noch nicht recht weiß, was aus ihm werden soll.

Kehren wir zunächst zurück zu unserem Beispiel: Zerlegt man das Vorgehen des Schülers in einzelne Operationen und versteht man diese als Indikatoren für dahinter liegendes Wissen, für Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen, dann gelangt man zu einer Definition dessen, was mit Kompetenzen gemeint ist:

Kompetenzen sind Dispositionen, die dazu befähigen, unterschiedliche konkrete Anforderungssituationen in einem bestimmten Lern- oder Handlungsbereich erfolgreich zu bewältigen. Sie stellen die Verbindung zwischen Wissen und Können her und werden daher als erlernbare kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie als damit verbundene motivationale, volitionale und soziale Bereitschaft und Fähigkeit aufgefasst.4

Dazu einige Anmerkungen:
Erstens: Zunächst fällt auf, dass der Kompetenzbegriff vorrangig auf kognitive Leistungen bezogen ist. Gemeint ist ein systematisch aufgebautes Wissen, dessen Elemente miteinander vernetzt und in unterschiedlichen Kontexten verfügbar sind, das also auch die Prozeduren einschließt, wie mit Wissen umgegangen werden muss. Der Kompetenzbegriff fasst daher unterschiedliche kognitive Leistungen zusammen, ist also als integraler Be­ griff zu verstehen.

Zweitens ist der Kompetenzbegriff auf konkrete Anforderungssituationen bezogen, die einer Bearbeitung oder Lösung bedürfen. Dahinter steht die Vorstellung, dass jeder von uns mit einer unüberschaubaren Menge von situativ zu bewältigenden Aufgaben, Problemen, Fragen und Herausforderungen zu tun hat, denen er nur gewachsen ist, wenn er über ein adäquates Wissen und Können verfügt. Kompetenzen sind also nicht einfach als ‚Problemlösefähigkeit’ zu beschreiben, sondern als flexibles Antworten auf vielfältige Anforderungen, die das Leben – das persönliche, das soziale, das berufliche, das gesellschaftlich-politische – stellt.

Drittens gehören zu den kognitiven Kompetenzen auch bestimmte Einstellungen, die meine individuellen Interessenlagen, meinen Willen, aber auch meine Bereitschaft und Fähigkeit betreffen, mit anderen zusammen zu arbeiten oder auch Aufgaben allein anzugehen. Ohne diese grundlegenden Einstellungen, die stärker in emotionale Bereiche hineinreichen, hingen die kognitiven Fähigkeiten in der Luft, weil ihnen sowohl Antriebskraft als auch Richtung fehlten.

Viertens sind Kompetenzen überdauernde Dispositionen, die durch einen nachhaltig wirkenden Lernprozess aufgebaut werden. Gehirnphysiologisch gesprochen werden durch kumulatives und einübendes Lernen stabile neuronale Vernetzungen aufgebaut, so dass Wissen im Langzeitgedächtnis abgespeichert und flexibel verfügbar ist.

Schließlich – und das ist für unseren Zusammenhang entscheidend – sind Kompetenzen domänenspezifisch, d.h. auf bestimmte Lern- und Handlungsbereiche bezogen. Wissenserwerb geschieht nämlich nicht einfach in austauschbaren unspezifischen Situationen, sondern ist gebunden an konkrete Kontexte und Inhalte. Es ist – um das nebenbei zu bemerken – eine groteske Fehleinschätzung, dass ein Schüler, der gelernt hat, in einem Sachtext über das Leben der Maulwürfe Schlüsselwörter anzustreichen, dies auch in einem Gryphius-Gedicht können sollte. Soviel zum Thema Klippert. Die Stärke des Kompetenzbegriffs liegt daher darin, dass er das fachspezifische Lernen betont und damit auch die Religionspädagogik herausfordert. Ich biete Ihnen einen Versuch an, den Kompetenzbegriff auf den Religionsunterricht zu übertragen: 

„Kompetenzen im Evangelischen Religionsunterricht beschreiben die fachspezifischen und fachübergreifenden Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Schülerinnen und Schülern helfen, sich in der modernen religiös pluralen Welt zu orientieren, eigene religiöse Überzeugungen zu gewinnen, darüber auskunfts- und dialogfähig zu sein sowie ethisch verantwortlich urteilen und handeln zu können.“5

Wie Sie unschwer bemerken können, wird der formale Kompetenzbegriff hier zugespitzt, und zwar in vier Hinsichten. Diese Fokussierung steht von vornherein unter der Prämisse, dass Kompetenzen im Prozess der religiösen Identitätsfindung zwar notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen darstellen, dass also dieser Prozess weitaus mehr umfasst als kognitive Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten.

Kompetenzen tragen dazu bei, dass Schülerinnen und Schüler:

  • sich in der pluralen Welt orientieren können. Dazu brauchen sie Orientierungswissen6, das nicht nur wie das Verfügungswissen in Wissenschaft und Technik be­ schreibt, wie Ursachen, Wirkungen und Mittel zusam­ menhängen. Orientierungswissen umfasst vielmehr Einsichten, die es ermöglichen, sich im Leben zurechtzufinden, aber auch solche, die dem Leben selbst Richtung und Sinn geben.
  • eigene religiöse Überzeugungen gewinnen. Wie sich tragende Lebensgewissheiten bilden, ist letztlich ein kontingentes Geschehen. Gleichwohl gehört es zu den Essentials religiöser Bildungsprozesse, solche Überzeugungen nicht in einen unüberbrückbaren Widerspruch zum Denken treten zu lassen, sondern sie vernünftiger Auseinandersetzung zugänglich zu machen. Und dazu bedarf es fundierten Wissens aus der Perspektive des christlichen Glaubens ebenso wie der Offenheit, sich argumentativ auf unterschiedliche religiöse Perspektiven einzulassen.
  • auskunfts- und dialogfähig sind. Religiöse Überzeugungen sind auf sprachliche Artikulation und verständliche Kommunikation angewiesen, wenn sie nicht un­ verständliches Zungenreden bleiben wollen. Dem Trend zur religiösen Sprachlosigkeit und zum Analphabetismus, aber auch zur sprach­ losen Konfrontation mit anderen Religionen kann nur Einhalt geboten werden, wenn Schülerinnen und Schüler lernen, ihren eigenen Glauben (oder auch Nichtglauben) überzeugend zu formulieren und zu begründen.
  • ethisch verantwortlich urteilen und handeln können.  Ohne eine Ausrichtung an fundamentalen Werten bleibt das Urteilen und Handeln dezisionistisch und manipulierbar. Deshalb erinnert der Religionsunterricht an die in der christlich-jüdischen Tradition einbeschlossenen Wertschätzungen des Menschen und seiner Welt, macht sie bewusst und stellt Beispiele gelebter christlicher Praxis vor.


Sie werden bemerkt haben, dass in diesen vier Aspekten Bildungsziele des Religionsunterrichts beschrieben werden, die den Kompetenzen übergeordnet sind und dem Religionsunterricht einen unvertretbaren Platz in der Schule zuweisen. Mit Recht hat Wolfgang Huber daher den Stellenwert religiöser Bildung treffend so zusammengefasst: „Es ist an der Zeit einzusehen, dass für die Schule Ethik so wichtig ist wie Englisch, die Pflege des kulturellen Gedächtnisses so wichtig wie Informatik, Religion so wichtig wie Mathematik.“7

Natürlich sind diese Ziele im einzelnen nicht unumstritten, und je nach Verortung eines Autors werden sie unterschiedlich ausfallen. Gleichwohl besteht doch ein weitgehender Konsens darüber, dass die Subjekte des Religionsunterrichts die Schülerinnen und Schüler sind. Es ist ihr Leben und es ist ihre Welt, die sie sich aneignen, die sie gestalten und reflektieren sollen. Damit dies gelingt, muss der Religionsunterricht Kenntnisse, Fähigkeiten und Orientierungen vermitteln. Kompetenzen sind deshalb daran zu messen, ob sie diesen Leitzielen religiöser Bildung dienlich sind.

Welche Kompetenzen religiöser Bildung sollen nun im Religionsunterricht erworben werden? Hier haben wir den Punkt erreicht, an dem die gegenwärtige Debatte am stärksten brodelt.8 Denn hier sind schwierige Fragen zu klären: Zum Beispiel steht an erster Stelle die Frage, welchen Beitrag denn der Religionsunterricht überhaupt zur Bildung leisten soll. Oder es ist zu diskutieren, ob man von einem allgemeinen Religionsbegriff ausgehen sollte, der dann für Religionsunterricht jeder Couleur maßgebend wäre, also auch für islamischen und jüdischen, für den Hamburger Separatweg des ‚Religionsunterrichts in evangelischer Verantwortung’, den ‚Unterricht in biblischer Geschichte’ in Bremen genauso wie für den evangelischen und katholischen Religionsunterricht nach Art. 7,3 GG. Dem Vorteil eines solchen Ansatzes – wenn ein solcher allgemeiner Religionsbegriff denn überhaupt konsensfähig wäre – stünde der Verzicht auf eine klare Perspektive des Unterrichts gegenüber, so dass letztlich eine Beliebigkeit der Inhalte und Ziele die Folge sein und der Religionsunterricht sich in einem learning about religion erschöpfen könnte. Zu klären ist schließlich auch, ob es ein konsistentes Kompetenzmodell für religiöse Bildung gibt oder gar so etwas wie „religiöse Kompetenz“ anzustreben ist.



… in alten Schläuchen? – Konsequenzen für die Praxis

Ist die ganze Debatte um einen kompetenzorientierten Religionsunterricht nicht nur – wie so oft – Elfenbeinturmgerede, akademischer Überbau, praxisferne Konsequenzmacherei, die für den täglich erteilten Unterricht so gut wie keine Relevanz hat? So könnte man den Titel des Referats auslegen, wenn man auf der Ebene der abwehrenden und abwertenden Re­ densart bliebe. Ich neige aber dazu, das markinische Bildwort zunächst einmal zu bekräftigen: In der Tat, der neue Wein passt nicht zu den alten Schläuchen. Kompetenzorientierung ruft nach einer veränderten Unterrichtskonzeption. Warum ist das so? Aus zwei Gründen:

Erstens: Kompetenzorientiertes Unterrichten unterscheidet sich von herkömmlichem Unterricht durch den konsequenten Blick auf das, was Schülerinnen und Schüler am Ende ihrer Lernzeit wissen und können sollen und wozu sie bereit sind. Die Fokussierung auf zentrale, langfristig aufgebaute Lernergebnisse bedeutet einen einschneidenden Perspektivenwechsel. Es gilt, den Bildungsgang der Schüler vom Ende her zu denken und einen in sich stimmigen Lehr- und Lernprozess zu konzipieren, in dessen Verlauf die erforderlichen Kompetenzen sukzessive und mit wachsendem Ausprägungsgrad erworben werden können.

Man könnte einwenden: Das haben wir in der Oberstufe doch immer schon so gemacht. Schließlich steht am Ende die Abiturprüfung, in der die Schüler nachweisen müssen, was sie gelernt haben. „Einheitlichkeit der Maßstäbe, Vergleichbarkeit, Überprüfbarkeit, Output-Orientierung, sind hinsichtlich der Allgemeinen Hochschulreife bereits Tradition und Konsens“– so der Saarbrücker Religionspädagoge Bernd Schröder.9

So richtig es ist, dass mit dem Abitur ein hochgradig geregeltes und weitgehend objektiviertes Verfahren praktiziert wird, in dem Schülerinnen und Schüler nachweisen müssen, was sie gelernt haben, so wenig schließt das notwendigerweise den permanenten didaktischen Blick auf die Kompetenzen ein, die im Laufe des Oberstufenunterrichts erworben werden sollen. Ich vermute vielmehr, dass sich – auch bedingt durch die Lehrpläne und Oberstufenbücher – der Unterricht weitgehend auf die materiale Abarbeitung bestimmter theologischer Positionen und Entwürfe, auf die Erschließung zentraler Texte und Themen konzentriert, deren Kenntnis im Abitur vorausgesetzt wird. Prüfen Sie Ihre eigene Praxis der Unterrichtsvorbereitung einmal an der Kontrollfrage: Wie gehe ich eigentlich an die Vorbereitung eines Stunden- oder Reihenthemas heran? Überlege ich primär: Welche theologisch-inhaltlichen Aspekte, Argumente, Ansätze, Fragestellungen, Positionen etc. will ich mit den Schülern durchnehmen? oder: Welche Kompetenzen will ich bei den Schülerinnen und Schülern durch die Auseinandersetzung mit einem bestimmten Thema fördern, ausbauen, entwickeln, entfalten, ausdifferenzieren? Die veränderte Fragestellung führt zu einer anderen Sicht auf den Unterricht und womöglich auch zu einer veränderten Konzeption des Lernens. Das führt mich zu einem zweiten Grund:

Kompetenzen zielen auf den Umgang mit alltäglichen oder herausgehobenen Situationen, in denen der Einzelne sich zu konkreten Herausforderungen verhalten oder in denen er selbst handeln muss, und benennen daher Aspekte einer spezifischen Handlungs- und Reflexionsfähigkeit. In solchen Situationen können sich z. B. Fragen stellen, die geklärt, beantwortet oder beurteilt werden sollen, Aufgaben, die zu bewältigen sind, oder Probleme, die gelöst werden müssen. Kompetenzorientierter Religionsunterricht macht solche Handlungssituationen zum didaktischen Ausgangspunkt des Lernens.

Was bedeutet das? Das didaktische Grundmodell eines kompetenzorientierten Religionsunterrichts lässt sich folgendermaßen beschreiben (vergl. nachfolgende Abbildung):

Das dikaktische Grundmodell eines kompetzenzorientierten Religionsunterricht

Das Modell legt einen Fünfschritt für die Planung von Lehr- und Lernprozessen im Religionsunterricht nahe. Die Planung:

  • klärt die in den Situationen aufscheinenden Herausforderungen, Fragen, Aufgaben und Probleme,
  • zeigt deren Sinn, Bedeutung und Tragweite für die Lebens- und Lerngeschichte der Schülerinnen und Schüler auf,
  • stellt Bezüge zu eigenen Erfahrungen, eigenen Kenntnissen, Fähigkeiten und Einstellungen der Schülerinnen und Schüler her,
  • analysiert, über welches Wissen, über welche Fähigkeiten und welche Einstellungen Schülerinnen und Schüler zur Bewältigung der Handlungssituationen verfügen müssen,
  • und baut die notwendigen Kompetenzen in einem inhaltsbezogenen Lehr- und Lernprozess auf. 
  • Ein ausführliches Beispiel für das didaktische Grundmodell, das in einer Jahrgangsstufe 9, aber auch in einem Grundkurs 11 angesiedelt sein könnte, findet sich im Internet unter: www.rpi-loccum.de/pelikan.




Weinprobe – Neuer Wein in neue Schläuche!

Wie wird der neue Wein? Das ist die große Frage, die sich die Weinkenner stellen. Von der Antwort hängt viel ab, gelegentlich sogar die Zukunft eines Weinguts. Begeben wir uns also auf den Weg zu einer Weinprobe.
Welche Chancen könnte die Kompetenzorientierung des Religionsunterrichts eröffnen?

Zugegeben: Vieles ist vage, manches eher eine Projektion von Möglichkeiten als eine gesicherte Fortschreibung bereits eingetretener Entwicklungen. Hier und da werden bereits die üblichen Warntafeln hochgehalten, die in unterschiedlicher Heftigkeit entweder auf überflüssigen Modernismus, desaströse Wiederkehr des Gleichen oder den Ausverkauf des Religionsunterrichts hinweisen.

Mit vier solcher skeptischen Denkfiguren möchte ich mich im Folgenden genauer auseinander setzen:

1.
„Am Ende darf bei der Umstellung auf kompetenzorientierte Arbeitsweisen sowie auf Bildungsstandards nicht aus dem Blick geraten, dass das Wichtigste und Beste am Religionsunterricht, aber auch an der Schule sich gerade nicht in Kompetenzen oder Standards ausdrücken lässt. Für ihr Aufwachsen brauchen Kinder und Jugendliche Erfahrungen und Begegnungen, Einsichten und Anstöße, die sich nicht operationalisieren oder messen lassen.“10 

Friedrich Schweitzers mahnender Hinweis ist insofern bedenkenswert, als der Umgang mit Religion und Ethik sich nicht pädagogisch auf Kompetenzen reduzieren lässt. Mit Recht konstatiert deshalb die EKD-Denkschrift „Maße des Menschlichen“: „Religion und Ethik sind keine direkt vermittelbaren ‚Fertigkeiten‘, vielmehr stellen sie vor Fragen, bei denen es um das gesamte menschliche Dasein geht. Beherrschbares und grundsätzlich Nicht-Beherrschbares, Verfügbares und grundsätzlich Nicht-Verfügbares sind auseinander zu halten.“11

Die Parole von der Reduktion der Religion auf Kompetenzen hat allerdings auch niemand verkündet. Vielmehr betont bereits das sogenannte Klieme-Gutachten, dass die als ‚Bildungsstandards’ ausgewiesenen Kompetenzen „erklärtermaßen nicht das gesamte Curriculum [abdecken], sondern nur einen Kern in zentralen Domänen des Lernens“12. Und der Haupt-Verfasser des Gutachtens, Eckhard Klieme, führt an anderer Stelle aus:

„Es gibt Bildungsziele im weiteren Sinne, die nicht empirisch überprüfbar sind. Z.B. die Idee von Mündigkeit, von Kreativität, von Entwicklung individueller Persönlichkeit. Das sind sehr wichtige Bildungsziele, aber Standards sollen ja nicht die gesamte Breite der Bildungsziele abdecken. Die Standards sollen sich lediglich auf einen zentralen Kern schulischer Bildung beziehen. Darüber hinaus gehört natürlich viel mehr zur Schule.“13

Wer also für eine Kompetenzorientierung des Religionsunterrichts eintritt, der weiß, dass Kompetenzen und Standards weder den Religionsunterricht insgesamt abbilden noch seinen Bildungsauftrag erschöpfend beschreiben, sondern sich auf das beschränken, was im Unterricht lehrbar, lernbar und überprüfbar ist. Sie ha­ ben eine wichtige, aber begrenzte pragmatische Funktion. Denn alle Lernprozesse im Evangelischen Religionsunterricht zeichnen sich durch eine prinzipielle Offenheit für unerwartete Fragen, existentiell be­ deutsame Einsichten, persönliche Betroffenheit und orientierende Erfahrungen aus. Mit Recht darf es als Proprium des Evangelischen Religionsunterrichts gelten, einen Raum der Freiheit für die individuelle Begegnung mit christlichem Glau­ ben und Leben offen zu halten.

Es hat allerdings den An­ schein, als sei das Insistieren auf dem „Mehr“ des Religionsunter­ richts, das zugleich als das „Wichtigste und Beste“ ausgegeben wird, das, was angeblich den „Charme“ des Religionsunterrichts ausmacht14, ein willkommenes Argument, um die Bedeutung der Kompetenzorientierung klein zu reden, so als beträfe dies nur einen „Bruchteil“ dessen, was im Religionsunterricht „ansteht und die Agenda bestimmt“15. Vor allem dann, wenn existentielle „Erfahrungen und Begegnungen“ in Opposition zu Kompetenzen und Standards gebracht werden, lässt sich der Verdacht nicht von der Hand weisen, dass die Bedeutung des Wissens und Könnens für die Entwicklung einer Persönlichkeit eher gering eingeschätzt wird. Dagegen ist m.E. mit Nachdruck darauf zu verweisen, dass der Königsweg zu einer eigenen Positionsbestimmung – zumindest was die schulische Bildung angeht – immer noch über die fundierte geistige Auseinandersetzung mit der Religion führt. Wir können es uns nicht länger leisten, dass Schülerinnen und Schüler den Religionsunterricht als „Laberfach“ ansehen, in dem jeder jede beliebige Meinung zu Protokoll geben kann, auch wenn sie vor Unkenntnis nur so strotzt. Und die Berufung auf den „Charme“ reicht auf Dauer nicht hin, um den Religionsunterricht an einer öffentlichen Schule zu begründen. Wenn das Fach Religionsunterricht im Fächerkanon der Schule anschlussfähig bleiben und nicht marginalisiert oder letztlich hinauskomplimentiert werden soll, dann muss es sich durch präzise benannte Kompetenzen ausweisen, die durch den Unterricht erworben werden können und sollen. Wer also auf dem unplanbaren ‚Mehr’ des Religionsunterrichts insistiert, muss sich umso eingehender dem didaktisch Planbaren und Überprüfbaren stellen.

2.
Mit der ersten Denkfigur hängt die zweite eng zusammen: Vielfach wird befürchtet, dass dem Religionsunterricht sachfremde Kategorien und Konzepte übergestülpt werden16, wenn er sich an Kompetenzen ausrichtet. Nicht selten wird auf die Irrwege des lernzielorientierten Unterrichts verwiesen und befürchtet, es handele sich bei der Kompetenzorientierung nur um einen modernisierten Aufguss. In der Tat gibt es Überschneidungen der heutigen Debatte mit der Ende der 1960er Jahre eingeleiteten „Bildungsreform als Revision des Curriculum“17. Auch damals ging es um die „Ausstattung zur Bewältigung von Lebenssituationen“, für die bestimmte Qualifikationen erworben werden sollten. Die Pointe des Ansatzes bestand darin, dass von den prognostizierten Qualifikationen die Bildungsinhalte der Curricula „in optimaler Objektivierung“18 neu bestimmt werden sollten. Insgesamt ist zu konstatieren, dass dieser deduktive Versuch aus unterschiedlichen Gründen gescheitert ist19. Manche von Ihnen werden sich noch an die legendären, aber berüchtigten Thesen Siegfried Vierzigs Anfang der 1970er Jahre erinnern. Vierzig propagierte als generelle Bildungsvorstellung die ‚Emanzipation’ der Schüler und leitete schnurstraks aus dem Globalziel „Fähigkeit, die religiöse Frage in den jeweiligen Entscheidungs- und Konfliktsituationen zu stellen“20 Dutzende untergeordneter Lernziele ab. Die Unterrichtskonzepte, die auf diesen Lernzielen fußten, hatten mit Emanzipation nicht das Geringste zu tun, sondern unterwarfen die Schüler einem behavioristischen, kleinschrittigen Lernprozess, für den jeweils detaillierte operationalisierte Ziele ausgewiesen wurden.

Eben dies ist bei der Kompetenzorientierung nicht der Fall. Sie setzt nur voraus, dass Kompetenzen lehr- und lernbar sind, also in organisierten Lernprozessen erworben werden können. Damit öffnet dieser Ansatz den Unterricht für eine Vielfalt an Lehr- und Lernprozessen, Unterrichtsformen, Medien, Verfahren und Lernwegen, die eine neue Dynamik des Lehrens und Lernens im Religionsunterricht auslösen können. Denn wenn die langfristigen Ziele des Unterrichts verbindlich vorgegeben sind, sind die Wege dahin variabel und können den Lernständen und -möglichkeiten der Schüler vor Ort angepasst werden. Die Planung des Religionsunterrichts konzentriert sich daher auf die Frage, wie ergiebige Lernprozesse inszeniert, motivierende Lernarrangements entwickelt und Lernergebnisse gesichert und überprüft werden können. Dazu gehört eine ausreichende Breite von Lernkontexten, Aufgabenstellungen und Transfersituationen. Was guter Religionsunterricht ist, entscheidet sich daran, ob es gelingt, die Gegen­ stände des Religionsunterrichts mit dem Vorwissen und den Interessen der Schüler, mit ihren Erfahrungen und ihrer Lebensgeschichte zu verhaken und über die Lebensbedeutsamkeit des neuen Wissens Auskunft zu geben. In diesem Sinne gewinnt der Religionsunterricht einen beträchtlichen Gestaltungsspielraum, der letztlich die Professionalität der Lehrerinnen und Lehrer stärkt statt sie einzuschränken und zu gängeln.

3.
Erst jetzt gehe ich auf das Hauptproblem ein, das unter dem Stichwort ‚Standards’ firmiert. „Bildungsstandards konkretisieren die Ziele in Form von Kompetenzanforderungen. Sie legen fest, über welche Kompetenzen ein Schüler, eine Schülerin verfügen muss, wenn wichtige Ziele der Schule als erreicht gelten sollen.“21 Kompetenzorientierung ist also ohne Überprüfbarkeit nicht zu haben.

Und vor diesem unausweichlichen Zusammenhang schrecken manche Religionspädagogen, aber auch Kolleginnen und Kollegen zurück. Sie starren auf die Überprüfung wie das Kaninchen auf die Schlange. Da wird dann das Gespenst des „Teaching to the test“ ebenso beschworen wie die Gefahr, dass statt Kompetenzen nur Testlösungsfähigkeiten eingeübt werden.22 Dem ist entgegen zu halten, dass wir von den gängigen Praktiken einer Testeritis wie in den USA oder auch in England noch weit entfernt sind und vermutlich aufgrund unserer völlig andersartigen Bildungstradition nicht befürchten müssen, dass eine solche überhand nehmen wird. Davor wird uns schon die Tatsache bewahren, dass valide Testinstrumente für die ‚Nebenfächer’ abseits von Deutsch, Mathematik und Fremdsprachen Millionensummen verschlingen und nicht damit zu rechnen ist, dass Staat oder Kirche sich für den Religionsunterricht in finanzielle Abenteuer stürzen werden. Ich empfehle also eine gute Portion Gelassenheit. Natürlich werden die Einheitlichen Prüfungsanforderungen für das Abitur so etwas wie die Messlatte werden, an der sich die Quantität und Qualität von Aufgaben auszurichten haben. Und selbstverständlich werden die EPA Rückwirkungen haben auf den Unterricht und wahrscheinlich sogar auf die künftige Entwicklung von Kerncurricula für die Oberstufe und vielleicht sogar – von dort ausgehend – auf die Sekundarstufe I.

Aber ist diese Perspektive nicht eher erfreulich? Der Religionsunterricht gewinnt damit ein erkennbares Profil im Fächerspektrum der Schule, da er auf Kompetenzen religiöser Bildung bezogen ist, die in keinem anderen Fach erworben werden können. Er legt öffentlich Rechenschaft ab über den erzielten Lernertrag und damit auch über die Qualität der Lehr- und Lernprozesse, in denen die Schülerinnen und Schüler Kompetenzen erworben haben. Er zeigt, dass er den Vergleich mit anderen Fächern nicht scheuen muss, sondern dass Unterricht auf hohem Niveau stattfindet. Er legt seine Anforderungen transparent und begründet offen und verpflichtet sich auf deren hohe Verbindlichkeit. Die Schülerinnen und Schüler können einschätzen, was von ihnen erwartet wird, aber auch welche Hilfen und welche Unterstützung sie bei ihren Lernprozessen erhalten. Sie übernehmen Verantwortung für ihr Lernen und können in die Überprüfung des eigenen Lernerfolgs eingebunden werden.

4.
Vielleicht das gewichtigste Bedenken zielt darauf, was letztlich tatsächlich an der Basis ankommen wird.23 Wird das Projekt der Kompetenz- und Standardorientierung konterkariert durch die üblichen Hinweise auf permanente Überlastung, unterlaufen durch Strategien des Einfach-so-Weitermachens-wie-bisher, angepasst an die gängigen Praktiken, bis nichts mehr an innovativer Potenz von ihm übrig bleibt? Oder gelingt es, Kolleginnen und Kollegen davon zu überzeugen, dass dieses Projekt mehr Chancen als Risiken enthält, dass es ihnen mehr an Gestaltungsfreiheit und Professionalität zumutet, dass es ihnen aber auch gemeinsame, von den Mitglieder der Fachkonferenzen getragene Entwicklungsarbeit abverlangt? Ich setze einstweilen darauf, dass der Religionsunterricht noch nicht am Ende seiner Möglichkeiten angekommen ist. Die Erfahrung lehrt mich, dass der Religionsunterricht in den letzten Jahrzehnten eines der innovativsten Fächer gewesen ist und hoffentlich auch bleiben wird. In diesem Sinne: Neuer Wein in neue Schläuche!

 

Materialanhang

Ein Beispiel für das didaktische Grundmodell, das in einer Jahrgangsstufe 9, aber auch in einem
Grundkurs 11 angesiedelt sein könnte:

Im Februar 2006 wurde die islamische Welt durch eine Welle der Empörung über Karikaturen
erschüttert, die in einer dänischen Zeitung im September 2005 abgedruckt worden waren und den
Propheten Mohammed mit terroristischer Gewalttätigkeit islamistischer Kreise in Verbindung brachten.
Diese Empörung wurde teilweise politisch funktionalisiert; Gewalttätigkeiten gegenüber westlichen
Institutionen und gegenüber Christen und Kirchen wurden geschürt. Islamische Geistliche in Pakistan
setzten ein Kopfgeld in Millionenhöhe für die Ermordung der Karikaturisten aus.

  1. Die Vielzahl der Fragen und Probleme, die mit dieser politisch-religiösen Situation zusammenhängen, betrifft auch den Evangelischen Religionsunterricht. Auf den einzelnen Stufen des Bildungsgangs können diese Fragen in unterschiedlichem Komplexitätsgrad aufgenommen und bearbeitet werden. So könnte die Leitfrage etwa in einer Jahrgangsstufe 11 lauten: Wie kommt es, dass sich Muslime durch die karikaturistische Darstellung Mohammeds in schwerwiegender Weise in ihrem Glauben beleidigt fühlen, und welche Konsequenzen hat dies für das Zusammenleben und den Umgang mit Muslimen?
  2. Die politische, religiöse und kulturelle Tragweite und Bedeutung dieser weltweit artikulierten Empörung ist noch unübersehbar. Ihre Analyse wird unterschiedliche Ebenen, Dimensionen und Deutungsmuster einbeziehen müssen. Im Religionsunterricht ist zunächst einmal das unmittelbare Zusammenleben mit muslimischen Mitschülerinnen und Mitschülern berührt, dessen religiöse Implikationen erschlossen werden müssen, um angemessene Verhaltensweisen zu ermöglichen. Darüber hinaus geht es um grundlegende Probleme des Selbstverständnisses, des Stellenwertes und der Funktion der Religionen in der modernen, von Widersprüchen und Ungleichzeitigkeiten geprägten Welt. Die gegenwärtigen und wohl auch künftigen religiös bedingten Konflikte können Schülerinnen und Schüler nur verstehen, wenn Sie über das Oberflächenphänomen des konkreten Verhaltens zu Muslimen hinaus zu Sinn und Bedeutung religiöser Grundüberzeugungen vordringen und ihre eigenen Einstellungen dazu klären.
  3. Bei der Bearbeitung dieser Situation dürften Einstellungen der Schüler ins Spiel kommen, die von Gleichgültigkeit gegenüber religiösen Überzeugungen und der Grundanschauung geprägt sind, jeder könne im religiösen Bereich vertreten, was er wolle. Auch mit tief greifenden Vorurteilen und Missverständnissen ist zu rechnen; genauere Kenntnisse über den Glaubenshintergrund fehlen vermutlich.
  4. Damit Schüler mit dieser Situation sachgemäß umgehen können, brauchen sie Wissen über die absolute Bildlosigkeit Allahs und deren zentrale Stellung im Islam sowie über die von ihr ausgehenden Vorbehalte gegenüber der bildlichen Darstellung der Geschöpfe. Außerdem müssen die Schüler verstehen, warum insbesondere Mohammed durch das Bilderverbot vor vergötternder Anbetung geschützt wird. Die Besonderheit des moslemischen Bilderverbots wird erst im Vergleich zur biblischen Überlieferung und zur jüdischen und christlichen Tradition und Geschichte des Bilderverbots erkennbar. In der Aufarbeitung dieser Wissensbereiche erwerben die Schüler die Fähigkeit, die Empörung der Moslems zu verstehen und vor dem Hintergrund moslemischer Glaubensgrundlagen zu deuten, aber auch die Fähigkeit und Bereitschaft, mit moslemischen Mitschülern darüber zu kommunizieren und deren Anschauung zu respektieren. Zugleich eignen sich die Schülerinnen und Schüler die Fähigkeit an, den differenzierten Umgang mit Bildern in der christlichen Kirche als theologischen Reflex der Gott-Ebenbildlichkeit des Menschen und der Menschwerdung Gottes zu verstehen und ein reflektiertes Verhältnis dazu zu gewinnen. Darüber hinaus zeigt die Verletzung religiöser Überzeugungen in der konkreten Situation die Ungleichzeitigkeit der Tragweite und Bedeutung der Religion im globalen Maßstab. In einer Welt, die global vernetzt ist, ist es für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher religiöser Prägung überlebensnotwendig, eine Haltung von Respekt und Behutsamkeit mit religiösen Traditionen und Glaubensinhalten zu entwickeln. Unbeschadet der Grundwerte einer aufgeklärten demokratischen Gesellschaft bedarf es einer Rückbesinnung darauf, die religiöse Integrität des Anderen zu achten, gleichermaßen aber auch, sich die spezifisch christlichen Impulse zu vergegenwärtigen, die unser Gemeinwesen mitgeprägt haben, und sich - sofern vorhanden - an die Essentials der eigenen Glaubensüberzeugungen und Lebenspraxis zu erinnern. Diese Grundhaltungen sind als reziprok zu verstehen und einzufordern.
  5. Die Lehr- und Lernprozesse, die zur Aufarbeitung der konkreten Situation notwendig sind, sind vielfältig. Sie reichen von der projektartigen Sammlung von Materialien aus den Medien bis hin zu Interviews mit Muslimen, von der Bearbeitung von Texten zum Bilderverbot in Koran und Bibel bis hin zur Auseinandersetzung mit der Person Mohammeds, vom forschenden Lernen bei einem Moschee-Besuch bis zur Untersuchung der Innenraumgestaltung einer katholischen Kirche.

 

Anmerkungen

  1. gekürztes Referat vom 23.11.2006 auf der Jahreskonferenz Gymnasium und Gesamtschule im RPI Loccum. Der Vortragsstil wurde beibehalten.
  2. Vgl. Oelkers, Jürgen: Bildungsstandards vor dem Hintergrund der Schulgeschichte, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 58/2004, S. 195-205 (195).
  3. Vgl. dazu die ausführlichen Nachweise bei Schellong, Dieter: Was heißt „Neuer Wein in neue Schläuche?“, in: Einwürfe 2, München 1985, S. 112-125.
  4. Vgl. zum Folgenden Lenhard, Hartmut/Obst, Gabriele: Kompetenzen und Standards. Was zeichnet einen kompetenz- und standardorientierten Evangelischen Religionsunterricht aus? Thesen zu einem notwendigen Perspektivenwechsel, in: entwurf 2/2006, S. 55-58 (55). 
  5. Ebd.
  6. Vgl. Elsenbast, Volker/Götz-Guerlin, Marcus/Otte, Matthias (Hg.): wissen – werten – handeln. Welches Orientierungswissen braucht die Bildung?, Berlin 2005.
  7. Kirchenamt der EKD (Hg.): Religion und allgemeine Hochschulreife. Bedeutung, Aufgabe und Situation des Religionsunterrichts in der gymnasialen Oberstufe und im Abitur, Hannover 2004, S. 3 (Vorwort). Im Netz unter: www.ekd.de/download/religion_und_allgem_hochschulreife.pdf
  8. Vgl. Fischer, Dietlind/Elsenbast, Volker: Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung. Zur Entwicklung des evangelischen Religionsunterrichts durch Bildungsstandards für den Abschluss der Sekundarstufe I, Münster 2006; vgl. auch: Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung. Evangelische Religionslehre, 2007, hg. von der Kultusministerkonferenz 2007, im Netz unter: http://www.kmk.org/doc/beschl/061116_EPA-evreligion.pdf
  9. Schröder, Bernd: Religionsunterricht und Bildungsstandards – eine aktuelle Herausforderung. In: Wermke, Michael/Adam, Gottfried/Rothgangel, Martin (Hg.): Religion in der Sekundarstufe II. Ein Kompendium, Göttingen 2006, S. 80-93 (92) 
  10. Schweitzer, Friedrich: Bildungsstandards auch für Evangelische Religion?, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 58/2004, S. 236-241 (240 f.)
  11. Kirchenamt der EKD (Hg.): Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft, Gütersloh 2003, S. 70
  12. Bundesministerium für Bildung und Forschung: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise, Berlin 2003, S. 48. 
  13. Klieme, Eckhard: Interview am 11.3.2003 mit E&W, Zeitschrift der GEW 3/2003, zit. bei Willert, Albrecht: Output-Orientierung im Religionsunterricht? Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 58/2004, S. 241-250 (248).
  14. So Willert, Albrecht, Output-Orientierung, S. 248.
  15. Ebd. 
  16. Vgl. Schröder, Bernd: Religionsunterricht, S. 91.
  17. So der Titel des schmalen, aber folgenreichen Bändchens von Saul B. Robinsohn, Berlin 1969. 
  18. A.a.O., S. 45. 
  19. Vgl. dazu ausführlich Fischer, Dietlind/Elsenbast, Volker: Grundlegende Kompetenzen, S. 8f.; Bundesministerium für Bildung und Forschung: Bildungsstandards, S. 64.
  20. Vierzig, Siegfried: Lernziele des Religionsunterrichts, in: informationen zum ru 1-2/1970, S. 5-16 (12).
  21. Bundesministerium für Bildung und Forschung: Bildungsstandards, S. 21
  22. Vgl. dazu Fischer, Dietlind: Bildungsstandards und Kompetenzen. In: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 58/2004, S. 205-212 (210).
  23. Vgl. Fischer, Dietlind: Bildungsstandards und Kompetenzen, S. 212, und Willert, Albrecht, Output-Orientierung, S. 247ff., der eine Reihe von bedenkenswerten Desideraten vorträgt 

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2007

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