Religion zu lernen geben: Das Wort in Form bringen

von Thomas Klie

 

Das Ei und seine Möglichkeiten

Haben Sie schon mal eine Religionsstunde mit einem Ei bestritten? Oder eine Stunde angeschaut und begutachtet, bei der es um ein Ei ging? Ein richtiges Hühner-Ei? Vermutlich trifft das nur auf die wenigsten zu. Dabei steckt ein Hühner-Ei – gekocht oder roh – voller kreativer Möglichkeiten, wie das folgende Exempel belegt. Die Werbeanzeige „Wie viel Performance steckt in diesem Ei?“, die auf der folgenden Seite zu sehen ist, bietet gleich zwei Möglichkeiten an, ein simples Hühner-Ei augen- wie sinnenfällig in Szene zu setzen: „Ein in 10.000 m Flughöhe serviertes Frühstücksei bedeutet für uns mehr als einen guten Start in den Tag. Es steht für den ausgezeichneten Service der Fluggesellschaft, und es ist eins von vielen Details, die wir prüfen, bevor wir eine Anlageentscheidung treffen. Erst dann zeigt sich, ob ein Ei nur ein Ei ist oder Kennzeichen eines zukunftsweisenden Investments (…)“Die Zeitungsanzeige deutet im Textteil an, dass ein Ei nicht immer nur ein Ei ist. Es kann weit mehr sein als ein schlichtes Geflügelprodukt – je nach Gebrauchszusammenhang und Wahrnehmungskontext. So steht dieses Anzeigen-Ei noch für etwas ganz anderes, es wird den Betrachtern zum Zeichen, zum „Kennzeichen“ gemacht. Hier: zum Kennzeichen für einen angenehmen Morgen bzw. zum Zeichen für perfekten Service.  Dass die Ei-Semantik hier eindeutig die einer „befruchteten oder nicht befruchteten weiblichen tierischen Keimzelle“ übersteigt, wie es der Duden1 ebenso richtig wie langweilig definiert, dafür sorgen zunächst einmal die Deutesätze. Selbstverständlich ist ein Ei in erster Linie eine „weibliche Keimzelle“, doch hier, in dieser Anzeige ist es das gerade nicht (nur). Vielmehr zeigt es Komfort und Solvenz an – ein gleichsam qualitativer (Ei-)Sprung. Der Kon-Text legt diese Deutung nahe. 

Unsere Ei-Szenerie wird hier aber nicht nur durch den Text, sondern auch durch das bildliche Arrangement zum Zeichen. Je nachdem, wie man Eier in Szene setzt, vermögen sie anderes zu bezeichnen. Ein zerplatztes Ei im Warenregal eines ALDI steht für Nachlässigkeit – ein ebensolches am Kopf des Altbundeskanzlers Kohl gerät zum Ausdruck ostdeutschen Volkszorns. Betrachten wir daraufhin unseren Bild-Kontext, dann sehen wir im Hintergrund das Portrait eines etwa 50-jährigen Mannes, uns aus dem Bild heraus anschauend. Die kunsthistorisch Bewanderten haben den Herren längst erkannt – es ist ein Portrait des Christoph Kolumbus. Das Ei bekommt also in der Werbeanzeige über die Komposition auch eine historische Qualität; die Werbe-Performance bringt es als das viel zitierte „Ei des Kolumbus“ ins Spiel. 

Zur Erinnerung: Die Performance, die „Ei-Aufführung“, auf die hier angespielt wird, bestand bei Kolumbus bekanntlich darin, die Unmöglichkeit, ein Ei und den aufrechten Stand miteinander zu verbinden. Eine nach menschlichem Ermessen und den Gesetzen der Physik unmögliche Kopplung. Sprichwörtlich ist der Kunstgriff, mit dem der Amerika-Entdecker diese beiden unvereinbaren Größen zur Deckung brachte: ein leichter herzhafter Druck und klack! – schon stand das Ei senkrecht auf dem Tisch. Was hatte Kolumbus damit zum Ausdruck gebracht? Es konnte ja unmöglich diese banale Allerweltshandlung allein gewesen sein, die ihn samt seinem Ei zur Metapher werden ließ.

Kolumbus hatte einfach den Gebrauchskontext durch eine unerwartete Handlung umdefiniert. Genauer gesagt: Er erweiterte sein Handlungsrepertoire um eine Regel, die undiskutiert ausgeschlossen war, nämlich die, das Ei mit Effet auf die Platte zu bannen und es dadurch an seiner Basis geringfügig zu zerstören. Mit dieser kleinen Show-Einlage – so will es die Anekdote – war es ihm gelungen, den Einwand seines Gesprächspartners zu entkräften, es sei doch wirklich keine große Kunst gewesen, einfach nur stur nach Westen zu segeln und dabei auch noch Amerika zu entdecken. – Soviel zur Historie.

Nimmt man die Bild-Botschaft zur Text-Botschaft dieser Werbeanzeige beim Wort, dann ergibt sich ein für die Didaktik unseres schönen Schulfaches durchaus anschlussfähiger Sachverhalt: 

  1. Etwas kann zum Zeichen werden, indem man es aus seinem normalen Gebrauchszusammenhang herauslöst und in einen neuen Kontext einrückt;
  2. Durch die Inszenierung erzeugt dieses seiner Umwelt Entnommene und neu Arrangierte unkonventionelle Lesarten.

Verlassen wir nun die Ebene des Kulinarischen und Anekdotischen und richten unsere Aufmerksamkeit auf den Gegenstand, der diese Zeitschrift legitimiert: die Religion bzw. die Möglichkeiten – und immer auch die Unmöglichkeit –, Religion anderen zu lernen zu geben. Vorausgesetzt sei dabei folgende These: Die Darstellung und Vermittlung von Religion funktioniert, formal betrachtet, nach exakt demselben Muster wie diese Werbeanzeige. Denn auch in der christlichen Religion ist es üblich, dass ganz alltägliche Sachverhalte, wie etwa „Wasser“, „Wein“, „essen“, „Hand“ oder „Schaf“, aus ihren semantischen Konventionen gelöst und in einem anderen Kontext neu „in Szene“ gesetzt, zu Zeichen werden, zu Kennzeichen einer veränderten Welt-Wahrnehmung. So steht „Wasser“ im Wahrnehmungskontext einer Taufe für „neues Leben“, „Wein“ beim Abendmahl für das Blut des Neuen Bundes, „essen“ ebenfalls beim Abendmahl für die Erinnerung an die Mahlgemeinschaft mit dem Gastgeber Jesus, „Hand“ beim Segen für Gottes Obhut und schließlich das „Hüten einer Schafherde“ für die pastorale Kernkompetenz usw.

Die Bibel ist voll von solchen Allerweltsdingen und Alltagshandlungen, die unter unkonventionellen, in diesem Falle religiösen Umständen zum Zeichen werden und so – gleichsam zweckentfremdet – eine neue Sicht auf Wirklichkeit ermöglichen. Die jeweiligen Deutesätze im Zusammenhang mit den dazugehörigen Ausdruckshandlungen zeigen dies an. „Ich taufe dich im Namen…“, „Nimm hin und trink …“, „Der Herr segne dich …“ Religion ist ein permanentes und beharrliches Anders-in-Gebrauch-Nehmen, ein fortwährendes Zeichensetzen und Ausdruckshandeln. Religion ist, wenn man etwas um Gottes Willen anders macht, sagt oder wahrnimmt. Sie erschöpft sich nicht im Eigentlichen, in der Proprie-Bedeutung von Begriffen und Texten. Religion – zumal die evangelischer Religion des Wortes – macht sich „schwarz auf weiß“ gerade nicht eindeutig. Religion gibt es immer nur im deutenden Vollzug, im aktiven Umgebrauchen, in gestaltender Lektüre. Zugespitzt: Religion tritt entweder in dreidimensionalen Deutungsfiguren in Erscheinung oder sie ist keine Religion. Sie ist weder nur in abstrakten Deutesätzen zu haben, noch nur in Bildern, noch nur im Handeln. Erst in der Dreiheit ist Religion; dann aber wird sie b-greifbar. – Unsere Werbeanzeige hat also das in der Überschrift angezeigte Thema hinlänglich präzisiert: „Religion zu lernen geben“ – so die These – kann und muss evangelisch-didaktisch übersetzt werden mit: „das Wort in Form bringen“.

Folgt man dieser These und zieht den Gedanken aus den Niederungen theoretischer Betrachtungen bis in die Höhen unterrichtlicher Praxis, dann ergibt sich für unser Fach eine Reihe interessanter Fragen: Wie viel „Performance“ braucht der Religionsunterricht? Wie viel Theater verträgt die öffentliche Schule? Muss es nicht vielmehr darum gehen, dass inszenierungsunabhängige Informationen gegeben, Sachverhalte erklärt, Lernstoffe vermittelt werden? 

 

Performance. Oder: die Formschwäche des informierenden Unterrichts

Die Zwischenüberschrift klingt gewöhnungsbedürftig. Religionsunterricht hat im öffentlichen Bewusstsein mit Theater soviel zu tun wie „Star wars“ mit moderner Weltraumforschung. Zumindest weckt die Formulierung Vorstellungen, die auf den ersten Blick mit der Form strukturierter Religionsvermittlung, mit der wir es an der Schule in erster Linie zu tun haben, kaum zur Deckung zu bringen sind. Die gelehrte Religion wird schulisch eher mit Einstellungen in Verbindung gebracht, mit Wissen und Werten. Dass es im Religionsunterricht um wissenswerte Einstellungen geht, erscheint für Lehrer, Schüler und Schulverwaltungen hoch plausibel. Danach ist die schulisch zu vermittelnde Religion ganz allgemein nicht durch ihre Theatralität bestimmt, sondern durch Kategorien wie „richtig“, „falsch“ und leider oft auch „da muss jeder selbst zusehen“. Schul-Religion ist ernst und anders, nicht aber vorzeigbar oder gar schön. 

Die gelehrte Religion beruft sich in ihrer Richtigkeitsorientierung und Ernsthaftigkeit, wenn es denn nach Lehrplan geht, auf das Religionsbuch. Und das beruft sich, wenn es ein gutes Religionsbuch ist, auf das Bibel-Buch. Unsere unterrichtlich gewährte Religion ist in der Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler, vermutlich aber auch in der Wahrnehmung der Nicht-Religionslehrer im wahrsten Sinne des Wortes eine „Buch-Religion“, eine „Buchstaben-Religion“, eine „Sätze-Religion“. Eine Religion, in der die Logik von Subjekt, Prädikat und Objekt Gültigkeit, ja: Wahrheit beansprucht. Eine Subjekt-Prädikat-Objekt-Religion hat keine Ausdehnung – wenn überhaupt ist sie zweidimensional. Sie hat die Form einer unterbrochenen Linie. Perlenschnurartig reihen sich Wort an Wort, Satz an Satz. Aus pragmatischen Gründen ordnen sich die Wort- und Satzlinien zeilenförmig auf einem genormten rechteckigen Areal mit bestimmter Länge und Breite (21 x 29,7 cm), das vertraute DIN A-4 Arbeitsblatt-Format. Man geht sicher nicht fehl, als die am häufigsten begegnende methodische Spielform im real existierenden Religionsunterricht das fotokopierte DIN A-4-Blatt zu vermuten. 

Religion ist, wenn Textblätter verteilt werden: kopiert aus der Bibel (wenn’s hoch kommt), aus dem SPIEGEL (wenn’s moralisch kommt), aus der Unterrichtshilfe (wenn’s schnell gehen muss), aus dem Kunstband (wenn’s symbolisch wird), aus dem CD-Cover (wenn’s schülerorientiert zugeht), aus der BRAVO (wenn’s peppig wird), aus der Tageszeitung (wenn’s aktuell wird) usw. Kaum auszudenken, was geschehen würde, wenn es unseren Kultusministern – eine Berufsgruppe, die sich in besonderer Weise der Sparsamkeit verpflichtet weiß – einfiele, aus Kostengründen alle in den Schulen vorhandenen Kopierer ersatzlos einzuziehen! Meine Prognose: Unser Religionsunterricht wäre damit bis auf weiteres methodisch am Ende. Empirisch scheint ein nicht-Kopierpapier-gestützter Unterricht in Sachen Religion weder denk- noch machbar.

Dabei ist die Normalität eines Arbeitsblattunterrichts keineswegs schon deshalb gerechtfertigt, weil ihn eine spätmoderne Lehrpragmatik als Konvention heiligt. Ein Arbeitsblattunterricht ist im Hinblick darauf, welche Religion hierbei wie in Szene gesetzt wird, immerhin begründungspflichtig. Denn zum Ersten zerknittert papierene Religion leicht. (Was geschieht nur mit all den Reli-Schnellheftern, Kopiengräbern und Zettelmappen am Schuljahresende? Der Altpapierbehälter als religionspädagogisches Purgatorium?) Zum Zweiten muss didaktisch gefragt werden, in welchem Verhältnis bei einer Fotokopie Form und Inhalt stehen. Kann ein religiöser Inhalt durch „Information“ überhaupt Gestalt annehmen? Kann man etwas informativ „in Form“ bringen? Man stelle sich einen Sport-Unterricht vor, der ein ganzes Schuljahr lang die verschiedenen Leibesübungen im Klassenraum anhand von Lehrmaterialien und Video-Aufzeichnungen unterrichtet und darüber Turnhalle und Sportplatz gänzlich ausspart. Und zum Dritten: Wie kann es zettelförmig gelingen, Allerweltsdinge aus der Allerwelt herauszulösen und in einer Anderwelt lebensdienlich neu zu arrangieren? Muss Unterrichtswirklichkeit nicht grundsätzlich anders gestaltet sein als die Wirklichkeit, in der die Gegenstände des Lernens normalerweise vorkommen? Zumal in Sachen Religion, zu deren Lebensbedingungen doch immerhin die religiöse Praxis zählt, das Spiel der Formen und handlungsoffenen Deutungen.

Selbst wenn im schulischen Alltagsgeschäft nicht immer das „Ei des Kolumbus“ inszeniert werden kann, aber die „Performance“, die dramaturgischen Möglichkeiten, die in einem potenziell religionshaltigen Medium stecken, wollen doch allererst angemessen zum Ausdruck gebracht werden können. Und zwar um der Schüler wie um der „Sache“ willen. Das Arbeitsblatt im Religionsunterricht kann insofern nur als ein latenter Formfehler gewertet werden.

 

Lernen didaktisch in Form gebracht: Performativer Religionsunterricht2

Wenn man den ebenso elementaren wie fundamentalen Satz, wonach es den Inhalt nie ohne eine Form gibt, didaktisch ernst nimmt, dann darf man Formfragen nicht einfach nur unter Anwendungsgesichtspunkten behandeln. Etwa so, wie eine Stundenverlaufsskizze in der Regel erst nach den Spalten für „Zeit“ und „Inhalt“, die „Medien“ und „Methoden“ auflistet. Wollte man beispielsweise zeigen, wie man die in einem „Ei“ verborgene „Performance“ für die Dauer einer Schulstunde in eine plausible pädagogische Gestalt zu gießen beabsichtigt, müsste doch das „Medium“ (Semantik) an erster Stelle stehen, in der folgenden Spalte wäre mit den „Methoden“ (Syntax und Pragmatik) fortzufahren und erst danach, und sich daraus ergebend, wäre die Spalte mit den so genannten „Inhalten“ einzufügen. Da sich der Zeitbedarf nach den Entfaltungsoptionen des Mediums berechnet, gehört die Zeit nach dieser Logik grundsätzlich in die letzte Spalte.

Diesem Inszenierungsmuster folgt der so genannte Performative Religionsunterricht. Eine relativ neue Spielform der Religionspädagogik, die den Lernwegen und der Formgebung eine didaktische Priorität einräumt. – Was hat man sich darunter vorzustellen?

„Performativ“, so definieren es die Kommunikationswissenschaften, bezeichnet eine sprachliche Handlung, bei der mit dem Verlauten bereits eine Wirklichkeit mitgesetzt ist. „Performativ“ meint einen Sprech-Akt. Eine „Performance“ ist zunächst einmal ganz allgemein eine Ausdruckshandlung. Eine Handlung, bei der etwas zum Ausdruck kommt (z.B. die Schwierigkeit bzw. Leichtigkeit, Amerika zu entdecken, verdichtet in einer effektvollen Ei-Aufstellung).

Im Grunde genommen geht es im Unterricht immer nur um solche Effekte, um die Inszenierung möglichst „fruchtbarer Momente im Bildungsprozess“, wie es eine Generation zuvor der Pädagoge Friedrich Copei postuliert hat. Im Unterricht, nicht nur im Religionsunterricht, werden lebensweltliche Stoffe und Sachverhalte zu „Themen”, d.h. man löst diese Stoffe und Sachverhalte aus ihrer gewohnten Lebenswelt heraus und stellt sie in einen schulischen Kontext. „Mutter Courage“ holt man von der Bühne in die 10a, die Photosynthese aus dem Blumengarten in den Biologieraum, die Kontinentalverschiebung wird anhand des Globusses gewissermaßen ins Kleinformat entglobalisiert. Durch die pädagogisch motivierte Herauslösung macht man diese Dinge und Sachverhalte zu Lerngegenständen. Man reduziert sie auf ihr „erschließend Einfaches“ (Klafki), um sich deren Funktionen im Rahmen von Lernprozessen aneignen zu können. Aller Didaktik Anfang ist der Ausschnitt – nicht die Ganzheit. 

Diese Erkenntnis ist prinzipiell nicht neu. Denn dramaturgisch betrachtet „inszenieren” Lehrerinnen und Lehrer immer schon ihre Gegenstände; sie sprechen in diesem Zusammenhang von „Methode“ oder „Medium“. Unterrichtliches Handeln ist so gesehen immer ein probeweises, experimentelles Handeln. Lehrende und Lernende agieren miteinander in einer „Probe-Realität”, in einem experimentellen Raum, gewissermaßen auf einer Probebühne. Dieser Raum ist aus guten Gründen jenseits des „normalen” Alltags platziert. Ein Schulgebäude ist eben ein besonderes Gebäude – eine Klasse ist kein Wohnzimmer und die Tafel kein TV-Monitor. (Wo sie das wird, ist diese Entwicklung durchaus nicht nur zu begrüßen.) In solchen Lern-Räumen, auf solchen Probe-Bühnen hat das Handeln (Gott sei Dank) keine direkten Konsequenzen für die Akteure. Ausgenommen vielleicht, inwieweit sich das Ausprobierte während des Ausprobieren einsichtig gemacht hat und dementsprechend reflektiert werden kann. Der Prototyp solchen Probehandelns ist das naturwissenschaftliche Experiment. 

Dieses Experiment gibt es in Schule nur zu den Bedingungen einer mehr oder weniger gelingenden Beziehung. Es handelt sich hier um eine künstliche und professionelle Beziehung zwischen Lehrerin und Schüler. Lerngruppen sind Zwangsgruppen, die Zuwendung der Lehrpersonen zu den Lernenden ist – ungeachtet ihrer möglichen Herzlichkeit – immer professionell gebrochen. Lehrer und Schüler agieren dabei in Rollen, die sich u.a. durch ein unterschiedliches Wissen beschreiben lassen. Das Wissen erstreckt sich bei den Lehrenden auf Sachwissen und auf Wissen über die Vermittlung dieses Wissens. 

Das Besondere unseres Religionsunterrichts ist, dass die Religion – ebenso wie Musik oder Sport – nicht einfach einzureihen ist in die Menge affektneutraler Stoffe. Religion ist eine Weltanschauung, eine besondere Form, die Welt zu betrachten. Anders als etwa Philosophie ist sie dabei immer eingelagert in ganz besondere Gebrauchszusammenhänge. Religion ist allererst eine Praxis, ein Vollzug, der von vielen Menschen praktiziert wird. Christliche Religion hat also immer auch Außenseiten, hat immer eine ästhetisch bestimmte Gestalt.

Die Religionsfreiheit, wie sie durch das Grundgesetz garantiert wird, beinhaltet deshalb konsequenterweise die Möglichkeit, Religion aktiv in Gebrauch zu nehmen (oder auch nicht). Dies ist einer der Gründe dafür, warum sich der Religionsunterricht nicht auf ein Wissen über Religion beschränken kann. Er muss vielmehr – um seiner „Sache“ willen! – auch Räume bereitstellen, in denen ohne jede Konsequenz für das außerschulische Leben experimentiert und probiert werden kann. Zum Vergleich: Auch im Theater sind die Probenräume für das Publikum tabu. Ein probates Mittel, ein solches Probehandeln für alle Beteiligten kenntlich zu machen, im wahrsten Sinne des Wortes nachvollziehbar zu halten, besteht darin, die Lerngegenstände in besonderer Weise „in Szene” zu setzen. 

Unter einer Inszenierung, einer Performance versteht man die ganz bestimmte Darstellung eines Stücks. Das Stück, das Drama, die Tragödie, die Komödie kommt erst in Form, wenn die Worte des Stückes aufgeführt worden sind: in Zeit und Raum, in Verkleidungen, in Gesten, in Haltungen, in Bewegungsrichtungen, in Sprechakten, kurz: in sinnlich Wahrnehmbarem. Stellen wir die uns bekannte Unterrichtswirklichkeit inszenatorisch auf den Prüfstand, dann sollte z.B. die Frage erlaubt sein, inwiefern die räumlichen, kreativen und zu unterrichtlichen Handlungen motivierenden Optionen des Lerngegenstands ernst genommen bzw. allererst überhaupt wahrgenommen wurden! 

Von der Dramaturgie zum Stoff: Beim Religionsunterricht, wie beim Theater muss unterschieden werden zwischen der Vorlage und ihrer Inszenierung. Eine Komödie findet sich nicht zwischen zwei Buchdeckeln (hier verbirgt sich nur der Stoff, das Sujet), sondern sie findet statt, d.h. sie tritt als dasjenige Spiel in Erscheinung, das von erstem und letztem Vorhang begrenzt wird. Vorlage und Inszenierung verhalten sich zu einander wie Kochbuch und fertiges Menü. Genau hier liegt das Selbstmissverständnis eines Arbeitsblattunterrichts: Er versucht permanent, den Schülern „Kochbücher“ zu essen zu geben (und zeigt sich dann aber nicht selten irritiert, wenn ihnen die Papierspaghetti einfach nicht munden …).

Beim Gleichnis vom verlorenen Sohn z.B. bildet die biblische Wortfolge nicht einfach den Inhalt, sondern sie stellt – folgt man der performativen Logik – allenfalls die Vorlage, das Sujet, den zu gestaltende Satzzusammenhang. Der 1. Akt in einem Stück protestantischer Religion besteht im Verlauten, also darin, aus dem Schriftwort einen Wortlaut werden zu lassen. Erst im unterrichtlichen Spiel, erst über die gewählte Methode, die Dramaturgie wird aus der Vorlage ein wahrnehmbares Stück. Und erst daraus ergibt sich ein möglicher Inhalt. Denn was sich an einem Theaterabend vermittelt, können Zuschauende erst während oder nach der Aufführung wissen. Vorher haben sie allenfalls eine bestimmte Erwartungshaltung, die sich dann bewahrheiten kann oder auch enttäuscht wird – je nach Inszenierung. Wie soll man also wissen können, was einen ein Stück lehrt (Inhalt!), bevor man die Schauspieler spielen gesehen hat? Übertragen auf das didaktische Spiel: Ob und wo einem das Gleichnis vom verlorenen Sohn bedeutungsvoll wird, kann derjenige erst im Beschreiten eines bestimmten Lernweges sagen. Möglicherweise aber auch erst (lange Zeit) danach.

Je besser nun ein Sujet ist, desto problematischer ist eine schlechte Inszenierung. Großartige Stoffe vertragen schlicht keine miserable Aufführung. Bei einer schlechten Inszenierung bleibt nicht nur das Publikum weg, es dementiert auch die Qualität der Vorlage. Die Inszenierung muss also immer in einem angemessenen Verhältnis zum Stoff stehen. Erst dann trifft die Bewertung „werkgetreu“, und erst dann gibt es (im Theater) ein volles Haus.

Religiöses Lernen muss sich aber nicht allein deshalb der Inszenierungslogik zuwenden, weil gut inszenierte Religion „ansehnlicher“ ist oder weil das in der Bibel aufgeschriebene Evangelium ein qualitativ hervorragendes Stück abgibt. Das freilich auch, aber es gibt noch einen weiteren Grund: Religion will auch darum gut in Szene gesetzt werden, weil die besondere Qualität des Bibelwortes darin besteht, bei einem Adressaten ankommen zu wollen. Und ankommen kann es nur, wenn es eine wahrnehmbare Gestalt bekommt. Wenn es gehört wird (Luther), wenn es ästhetisch für wahr genommen werden kann. Um zu verstehen, „wie freundlich der Herr ist“, muss man eben „schmecken und sehen“ (Ps 34,9).

Es war Luthers feste Überzeugung, dass das Bibelwort solange nicht Evangelium ist, bis es verlautet, gehört und als solches von den Hörern (und Ausführenden) realisiert wird. Die leibräumliche Gestalt ist konstitutiv für das Wortgeschehen. Das verbum externum, das äußerliche Wort, ist für Luther das sinnliche Zeichen göttlicher Selbstmitteilung. In ihm nimmt der redende Gott für den hörenden Menschen verheißungsvoll Gestalt an. Der Zuspruch der Gnade ergeht in Form der Darstellung. Vor und außerhalb dieses Inszenierungsrahmens, also unabhängig von der Mündlichkeit des Gotteswortes, seiner Performance, kann der Adressat nicht wirklich erreicht werden. Das Lesen vermag eben nicht soviel wie das Hören – „lectio non proficit tantum, quantum auditio“3. Die Kirche ist darum für Luther auch eher ein „Mundhaus“ denn „Federhaus“4, also eher Kanzel oder Bühne als Bibliothek.

In evangelischer Sicht ist die Heilige Schrift wesentlich Anrede, weniger Anschreiben: „natura verbi est audiri“ – es gehört zur Natur des Wortes, gehört zu werden.5 Das Wort wirkt, indem es zur Sprache kommt. Es setzt, was es sagt, indem es verlautet und von einem angesprochenen Hörer als angehende Botschaft geglaubt wird. Erst das präsentierte, also das öffentlich aus- und aufgeführte Wort setzt diejenige Referenz in Kraft, von der es handelt und die es letztlich bezeugt. Verheißung und Glaube, korrelieren im Modus der Präsentation. Das Evangelium muss eben auch und gerade äußerlich ankommen, damit es nicht in „spiritueller“ Attitüde unmittelbar und unbefragbar in der Gefühligkeit seiner Hörer aufgeht. 

Wendet man nun diese schrift-theologische Einsicht ins Didaktische, dann besteht der angemessene Umgang mit der Bibel darin, dieser Eigenbewegung des Wortes Zeit, Raum und Ausdruck zu geben. Wortlaute der Heiligen Schrift sind dann so in Szene zu setzen, dass sie im freien Zugriff als Orientierungsgewinne – also bildend – zu Buche schlagen. Es ist somit auch, streng lutherisch genommen, ein folgenreiches Fehlurteil, christliche Religion einfach fraglos einzureihen in die so genannten Buch- oder gar Schriftreligionen. Evangelische haben keine Religion des Buches, sondern eine Religion der Aufführung. Und dies gilt auch und gerade für die traditionell wortlastige evangelische Religion. Evangelische Religion ist, so sie sich auf die der religiösen Qualität des Bibelbuches angemessene Lesart besinnt, immer eine Inszenierungsreligion.

Es gibt die Botschaft nicht jenseits der Formen, in denen sie sich vernehmbar macht. Religiöses Lernen ist – aus theologischen Gründen! – allererst ästhetisches Lernen. Dazu gehört auch, dass Schülerinnen und Schüler, z.B. das Sprechen, das Gehen und das Handeln im gottesdienstlichen Raum in den Blick nehmen. Experimentell, probeweise und spielerisch. Ein reiner Textunterricht verfehlt in Religion schlicht sein Thema.

Dieser Zusammenhang soll nun an zwei Exempeln verdeutlicht werden.

 

Religionsaufführung – praktisch

Ein Luther-Stück6

In seiner Schrift „Eine einfältige Weise zu beten für einen guten Freund“ von 15357 empfiehlt Luther seinem alten Freund Peter Beskendorf eine merkwürdige Prozedur. Dieser hatte ihn nach einer evangelisch akzeptablen Gebetspraxis gefragt (sinngemäß): „Sag mir Luther, wie ich unsere neue Religion in Gebrauch nehmen kann. Wie soll ich sie mir zurecht legen, damit es in meiner individuellen Religionspraxis würdig und recht zugeht?“

Luther schlägt seinem Freund zunächst vor, im Anschluss an das Vaterunser – „so ich Zeit und Raum habe – auch noch die zehn Gebote zum Gebet”. Dieser auf den ersten Blick befremdliche Gebrauch der zehn Gebote soll nach Luther gemäß der Regel des „vervierfachten oder vierfach gedrehten Kränzleins” erfolgen. „Nämlich: Ich nehme jedes Gebot erstens als eine Lehre in Gebrauch – was es ja an sich auch darstellt – und denke, was unser Herrgott darin ernsthaft von mir fordert. Zweitens mache ich eine Danksagung daraus, drittens eine Beichte, viertens ein Gebet.”8 

Der Reformator empfiehlt also ein religiöses Drama in vier Akten. Er imaginiert – wohl wissend, dass es sich bei den zehn Geboten in traditionell-reformatorischer Lesart um eine „Lehre” handelt – noch drei weitere Lesarten: Der Dekalog soll als Danksagung, Beichte und als Gebet gelesen werden. Als guter Religionspädagoge begnügt er sich nun nicht mit dieser Anweisung, sondern er führt auch gleich seinem Freund und damit all den anderen interessierten Leserinnen und Lesern9 vor, wie sich eine reformatorische Wortaufführung zu vollziehen habe. Er dekliniert den Dekalog in vierfacher Weise anhand kurzer prägnanter Beispiele vom ersten bis zum zehnten Gebot durch. Liest man mit Luther z.B. das dritte Gebot als eine Lehre, dann ist zu lernen, „dass der Feiertag ein Gesetz ist, nicht zum Müßiggang noch zu fleischlicher Wolllust“; „am Feiertage solle zuvorderst Gottes Wort [zu] hören und bedenken“ sein. Im Dank (2.) soll „die große schöne Wohltat und Gnade Gottes“ zum Ausdruck kommen, dass Gott „uns sein Wort und Predigt gegeben hat und auf den Feiertag sonderlich zu üben befohlen“. In der Beichte (3.) „beichte und bekenne ich meine große Sünde und schändliche Undankbarkeit, dass ich die Feiertage so lästerlich habe mein Lebtag zugebracht“. Und schließlich gilt es im Gebet (4.), „für mich und alle Welt“ zu bitten, „dass der liebe Vater wollte uns bei seinem heiligen Wort erhalten und dasselbe nicht von uns nehmen um unserer Sünde, Undankbarkeit und Faulheit willen“.

Nimmt man nun diese lutherische Etüde als ein religionspädagogisches Lehrstück und als theologische Antizipation der Performativen Didaktik, dann bleibt Folgendes festzuhalten: 

Die Inszenierung der zehn Gebote erfolgt nicht hier willkürlich, etwa in Form einer freien Assoziation („Sagt doch mal, was euch dazu alles einfällt…”). Vielmehr sind hier bestimmte religiös gehaltvolle Spielregeln vorgegeben, die das Deutungsspiel in besonderer Weise stimulieren. Die Auflösung des „Unterrichtsgegenstands” Dekalog vollzieht sich nach den Regeln der Kunst: Gebet, Danksagung und Beichte sind schließlich theologisch gehaltvolle Umgangsformen.

Zum anderen kann Luthers performative Gebetsanleitung auch als Anleitung für die Auswahl möglicher Unterrichtsgegenstände gelesen werden. Wie das Vaterunser kein beliebiges Gebet darstellt, sondern ein zentrales Stück christlichen Selbstverständnisses, so ist auch bei der Auswahl geeigneter Lern-Medien darauf zu achten, dass an ihnen deutlich werden kann, wie es sich mit christlicher Religion verhält. Nicht alles was pädagogisch geht, frommt didaktisch. Naturwissenschaftliche, psychologische, sozialwissenschaftliche Weltdeutungen können im Religionsunterricht mit guten Gründen anderen Fächern und Lernanlässen überlassen bleiben. Der Religionsunterricht wird vielmehr seine Gegenstände sorgsam und mit didaktischem Kalkül auszuwählen haben, denn nicht an jedem Thema, an jedem Lerngegenstand lässt sich in gleicher Weise aufzeigen, was es mit der Religion auf sich hat.

Ein letzter Szenenwechsel.

 

Ein Stück aus der Werbung10

Die Anzeige „Get the spirit“ der Firma Casio versetzt uns, wie das obenstehende Bild zeigt, ganz unmittelbar in eine kirchliche Trauung. Braut und Bräutigam stehen festlich gekleidet vor einem Traualtar. Wie „in echt“ stehen sie mit dem Rücken zur Gemeinde – in diesem besonderen Fall: zur Gemeinde der Leserinnen und Leser der Zeitschrift „Max“ (Nr. 10/2003). Über meine Zurschaustellung sind jetzt auch alle anderen Leserinnen und Leser ungefragt zu Gottesdienstbesuchern gemacht. – Betrachten wir auch diesen Kasus etwas genauer. 

Inszeniert wird hier eine Aura der Unmittelbarkeit. Man kann sich dieser Szene nicht ohne weiteres entziehen. Denn dieses Bild spricht unmittelbar unsere Sinne an – nicht nur wegen des erotischen Einblicks. Hier wird eine Religion in Szene gesetzt, die weniger leibfeindlich und vor allem weniger Gnosis-anfällig ist wie die protestantisch-nüchterne Weisheits- und Ethik-Religion. Kerzenlicht und heller Sonnenschein, der durch die Kirchenfenster dringt, Rosen auf dem Altar, im Haar der Braut und als Brautstrauß und dazu zwei richtig schöne Menschen (wenn auch nur von hinten).

Die Trauung findet – und das ist durchaus bemerkenswert – in einer erkennbar evangelischen Kirche statt. Die weitaus meisten medialen Traumhochzeiten spiegeln dagegen ein eher katholisches Ambiente. Dies muss nicht verwundern, denn das hat schlicht religionsästhetische Gründe: katholisch heiraten ist einfach schöner. Es „macht mehr her“, denn der Ritus ist hier bekanntlich sakramental verfasst. Es gibt dort mehr zu sehen als bei einem protestantischen „Gottesdienst anlässlich einer Eheschließung“. – Hier jedoch ist eine unzweideutig evangelische Kirche ins Bild gesetzt. Erkennbar ist dies am barocken Kanzelaltar, das kirchenbauliche Alleinstellungsmerkmal evangelischer Gotteshäuser. Das Lehren des Evangeliums und die Verwaltung der Sakramente kommen im Kanzelaltar in größtmöglicher Verdichtung zum Ausdruck. Verbaute Theologie – barocker Ausdruck evangelisch-orthodoxer Christentumspraxis. Nie waren evangelische Religionsräume prunkvoller, nie der liturgisch-räumliche Gestus erhabener. Der Kanzelaltar ermöglicht es dem Geistlichen, seiner gottesdienstliche Doppelrolle religionsästhetisch gerecht zu werden (unten Liturg, oben Prediger). Die dem Kanzelaltar entsprechenden Handlungen „bebilderten“ die orthodoxe Theologie im praktischen Vollzug.

Doch von Liturg und Prediger ist hier auf diesem Bild überhaupt nichts zu sehen! Altar und Kanzel sind vakant, zur Zeit nicht besetzt. Das Brautpaar wird also nicht getraut, es traut sich praktisch selbst. Es praktiziert volle liturgische Autonomie. Das evangelischerseits immer wieder hoch gehaltene, aber in seiner ganzen Tragweite von uns selten realisierte „Priestertum aller Gläubigen“ wird von dieser Werbung wohl am radikalsten interpretiert: ein Gottesdienst aus Anlass der Trauung als ästhetischer Selbstvollzug. 

Dass hier ein Gottesdienst im Gange ist, daran lassen die brennenden Kerzen und der Blumenschmuck auf dem Altar keinen Zweifel. Aber der auratische Ort spricht hier ganz für sich selbst. Und damit zugleich auch zu allen, die sich an ihm aufhalten. Diese Religion des schönen Scheins ist offensichtlich durch den festlich gestalteten Altarraum hinlänglich religiös möbliert. Der herausgehobene sakrale Ort bedient alle gängigen Bedürfnisse im Hinblick auf eine Trauung. Überdeutlich zeigt diese kleine Szene an, wie stark sich derzeit religiöser Stil auf „Raumausstattung“ und „Ästhetik“ konzentriert. Es menschelt – allerorten. Aber was spricht schon aus evangelischer Perspektive gegen eine Verkörperung, gegen die Veräußerung religiös veranlasster „Feierlichkeit“? 

Über diese pastorenfreie Trauliturgie legt sich nun die Werbewirklichkeit mit ihrem sublimen Kaufanreiz: „Get your style.“ Hier wird man als virtueller Gottesdienstbesucher angeredet – gleichsam aus dem Off. „Get the spirit“, empfangt den Geist! Für diesen Zuspruch reicht die leere Kanzel völlig aus, denn die Verkündigung geschieht hier nicht mehr personal, sondern lediglich lokal. Verheißung vermittelt sich im Modus räumlicher Wahrnehmung. Der kirchlich vorgehaltene Sonder-Raum hebt an zur Predigt. Diese individualisierte und ästhetisierte Religionsform lebt allein von der Performance. Umso erstaunlicher, dass auch in diesem virtuellen Sonderraum die Verheißung völlig regelkonform "abgekanzelt" wird: Der Geistempfang wird von der Kanzelbrüstung aus verkündet. 
Was lehrt nun dieses zweite Exempel?
Erstens: Das Zitieren kirchlichen Interieurs setzt eine bestimmte Form der Religionspraxis voraus. Erweist sich unsere, ob ihrer "Beliebigkeit" gern geschmähte Erlebnisgesellschaft etwa doch noch als religionsfähig? Die uns tragende Alltagskultur zehrt offenbar immer wieder und immer noch von traditionellen Sinn-Ressourcen - dies jedoch im Medium einer stimmigen Inszenierung. 
Zweitens: Das Bild zeigt uns einen liturgischen Akt - Religion in ihrer schönsten Form. Keine nüchternen Sätze, keine Erklärungen oder Informationen, sondern eine opulente Feier. Die Lebenswelt verlangt offenbar von uns nicht nur dürre Worte, sondern starke Szenen. - Zeigen wir uns also spendabel!

 

Anmerkungen

  1. Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden. Mannheim u.a. 31999, Bd. 2, S. 926.
  2. Vgl. Leonhard, Silke / Klie, Thomas (Hg.): Schauplatz Religion. Grundzüge einer Performativen Religionspädagogik. Leipzig 2003. Klie, Thomas: Performativer Religionsunterricht. Von der Notwendigkeit des Gestaltens und Handelns im Religionsunterricht, in: Loccumer Pelikan 4/2003, S. 171-177.
  3. WA 13, 686, 9f.: 524/26.
  4. WA 10/I:2, 48, 5-7: Adventspostille (1522).
  5. WA 4, 9, 18 f.: 1513/16.
  6. Ausführlich ist dieses Luther-Stück dargestellt in Klie, Thomas: Zeichen und Spiel. Semiotische und spieltheoretische Rekonstruktion der Pastoraltheologie, Gütersloh 2003, S. 443ff.
  7. WA 38, 351-375.
  8. WA 38, 364, 31-365, 4.
  9. Der Brief-Traktat lag innerhalb nur weniger Monate in mehrfachen Auflagen und in lateinischer Übersetzung vor. 
  10. Ausführlich (im Hinblick auf die kulturelle Beutung des Kirchenraumes) dargestellt in Klie, Thomas: Religion sucht Raum. Kirchengebäude in der Postmoderne, in: Herbst, Michael u.a. (Hg.): Missionarische Perspektiven für eine Kirche der Zukunft, Neukirchen-Vluyn 2005, S. 128-143 (S. 133ff.).

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2006

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