Mütter des Glaubens

von Carsten Mork

 

 

 

Der weiblichen Traditionslinie Jesu Christi auf der Spur - Ahnenforschung einmal anders

Ahnenforschung kann ein spannendes Unterfangen werden, wenn dabei nicht nur Namen und Daten, sondern auch die mit den Namen verbundenen Lebensgeschichten erinnert werden. Wer wissen möchte, aus welchen Quellen er sich bei seinen Beschreibungen, Erklärungen und Deutungen seines Lebens speist, dem ist mit Blick auf die eigene Biographiearbeit auch ein Blick auf die vorhergehenden Generationen in der eigenen Familiengeschichte anzuraten. Das, was gegenwärtige innerpsychische und zwischenmenschliche Irrungen und Wirrungen wie Klärungen zum Ausdruck bringen, lässt sich dann auch als Ausdruck und Folge eines mehrgenerational angelegten Dramas beschreiben. "In diesem Drama zeigt sich die Generationen übergreifende Macht der (häufig unsichtbaren) Loyalitäten und die Bedeutung von – möglicherweise wieder über die Generationen hinweg – zum Zuge kommender oder vorenthaltener Gerechtigkeit, von liebender Opferbereitschaft, von Schmach und Triumph, von Schuld und Sühne und nicht selten tragischer und schicksalhafter Verstrickung."1 

Bei dieser Erinnerungsarbeit spielt auf der einen Seite vielleicht die Suche nach sogenannten Fakten – wie es "wirklich" war – eine Rolle, verbunden mit dem Wunsch nach einer vergewissernden Orientierung. Bei der eigenen Selbsterkundung und für Anregungen der Lebens- und Sinngestaltung werden dann aber vor allem die jeweiligen Konstruktionen und Sichtweisen wirksam, wie man die gefundenen Spuren deutet und bewertet. Die vermeintliche Alternative von sogenannten harten Fakten oder vermeintlich nur der Fantasie entsprungenen Fiktionen spielt für die subjektorientierte Sinnkonstruktion mit Blick auf die weichen, d.h. die von den jeweils Beteiligten gestellten Beziehungs- und Sinnfragen nur eine begrenzte Rolle. Wer bei der Konstruktion der Bedeutung der eigenen Vergangenheit an Problemgeschichten interessiert ist, wird diese problematischen Seiten auch in den Versuchen einer kontextangemessenen Lebensgestaltung vergegenwärtigen. Wer an Lösungsgeschichten und an Ressourcen interessiert ist, wird auch diese für seine Gegenwartsgestaltung und die Konstruktion von Sinn vitalisieren können. Wer bei der Zuschreibung von Sinn, Wert und Bedeutung bezüglich der bisherigen Konstruktionen des Gewesenen den Schritt zur Konstruktion von bisher so noch nicht Dagewesenem geht, kann dabei den Möglichkeitssinn anregen für zuversichtliche Schritte in eine letztlich nicht vorhersehbare Zukunft.

Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden eine religionspädagogische Spurensuche mit Blick auf die vom Evangelisten Matthäus angebotene Konstruktion eines Stammbaumes Jesu2  entwickelt werden. Hier können Jugendliche in der Schule oder im Konfirmandenunterricht exemplarisch wahrnehmen lernen, wie die mit Personennamen erinnerten Lebensgeschichten in ihren Zusammenhängen und Auswirkungen auf spätere Generationen bis hin auf einen konkreten Menschen für das Verstehen dieses Menschen Bedeutung gewinnen können. Das matthäische Deutungsangebot einer Kontextualisierung des Jesus von Nazareth in der Ahnenreihe von hierzu gezielt ausgewählten Lebensgeschichten könnte so auch ein Verständnis der theologischen Rede von der Inkarnation anbahnen helfen. Denn das "Wunder der Menschwerdung Gottes soll uns kein Anlass zu mythischer Spekulation über vom Himmel herabsteigende Gottwesen sein und erst recht kein Anlass zum Streben nach Göttlichkeit durch moralische Perfektion. (...) Weil Gott Mensch geworden ist, müssen wir Menschen nicht mehr versuchen, mehr zu sein als wir sind, und dabei immer wieder scheitern. Weil Gott Mensch geworden ist, können wir wissen, wie wir als Menschen gemeint sind, auch wenn wir uns in unserer Menschlichkeit immer wieder verfehlen."3 

Wer sich wie in dem im Folgenden beschriebenen religiösen Lernprozess dann in ermöglichter Distanz und Nähe in den Kontext von Glaubensgeschichten begibt, dem können sich mit den dabei gemachten Begegnungen4  Erfahrungen existenziellen Berührtseins – an welcher Stelle des Prozesses auch immer – eröffnen, die als potenzielle Begegnungserfahrungen im tiefen Sinne zu achten sind. In einem religionspädagogisch reflektierten Zugang zu diesen Geschichten gilt es in rezeptionsästhetischer Perspektive dabei gleichzeitig sensibel zu bleiben für die Tatsache, "dass der Sinn biblischer Texte eben immer auch von den Rezipienten selbst produziert wird und damit wesentliche Inhaltsdimensionen des Textes durchaus verfehlt werden können"5 . Ein auf mögliche existenzielle Berührtseinsmomente bezogenes Nachdenken in der Gruppe vor allem in den unten beschriebenen Rollen- und Spielendenreflexionen kann dabei eine wesentliche Hilfe darstellen, "individuelle lebensgeschichtliche Bezüge (Aufarbeitungen von familiär oder kulturell vermittelten Gottesbildern, Verletzungen, Erinnerungen und Einordnungen tragender Erfahrungen in Familie, Kirche oder Partnerbeziehung etc.) in ihrem Verhältnis zu kollektiven existenziellen Bezügen (Ausgeliefertsein an den Tod, Sinnfragen etc.) zu deuten"6 . Die Lebenserzählung anderer Menschen und auch die eigene Lebenserzählung in eine Geschichte mit Gott einzutragen, kann dabei Deutungshorizonte eröffnen, die das eigene Leben in seinem Gelingen und Scheitern als lebbar und sinnvoll ansehen lassen. Zugleich können dabei auch der Konstruktcharakter der jeweiligen Welterschließungswege und Deutungsformen der einzelnen Teilnehmenden wie der Konstruktcharakter der matthäischen Textvorlage durchschaubarer und der jeweilige Aufbau von Anschauung als ein Vorgang absichtsvoller Konstruktion begreifbarer werden.

 

Tamar, Rahab, Ruth und Batseba

Im Unterschied zu der anders angelegten Ahnenreihe des Evangelisten Lukas (Lk 3,23-38) nennt Matthäus neben vielen Männernamen vier Frauennamen in seiner Auflistung (Mt 1,3.5.6): Tamar , Rahab, Ruth und ohne direkte Namensnennung die Frau des Uria, Batseba.

Um eine Fokussierung auf und Entdeckungen mit dieser von Matthäus angebotenen weiblichen Traditionslinie Jesu soll es im Weiteren gehen. Die beschriebene Schrittfolge in dem mehr-dimensionalen Lernprozess unter Aufnahme der Methode des sich aus der Distanz annähernden stillen Schreibgespräches und den gewählten bibliodramatischen Vertiefungsformen lässt sich sowohl im Schulkontext von Unterrichtsstunden als auch im Zusammenhang von unterschiedlichen Zeitformen der Konfirmanden- oder Jugendarbeit realisieren.

 

Zur Vorbereitung

Im Gruppenraum stehen in den vier Ecken Arbeitstische bereit. Jeder Tisch steht für eine der Ahnfrauen Jesu. Es liegen an jedem Tisch entweder mehre Bibeln oder Arbeitsblätter mit der zu der jeweiligen Ahnfrau gehörenden biblischen Erzählung (Tamar: 1. Mose 38,1-30; Rahab: Josua 2,1-24; Ruth: ausgewählter Text aus dem Buch Ruth, z.B. 1,1-19a; Batseba: 2. Samuel 11). Auf jedem Tisch liegt außerdem ein den ganzen Tisch bedeckender Papierbogen mit den im dritten Schritt benannten Impulsen für ein stilles Schreibgespräch. Die Teilnehmenden kommen im Stuhlkreis in der Mitte des Raumes zusammen.

 

Erster Schritt

Im Stuhlkreis mit freier Mitte wird der Stammbaum Jesu nach Matthäus 1 vorgelesen. Erste Eindrücke, Auffälligkeiten, eventuelle Kenntnisse zu einzelnen Namen werden benannt.

 

Zweiter Schritt

Die Namen der Ahnfrauen Jesu – Tamar, Rahab, Ruth und Batseba – werden auf große Zettel geschrieben und in der Mitte ausgelegt. Die Teilnehmenden ordnen sich in etwa gleich großen Gruppen einer Ahnfrau zu. Bei eventuellen Vorkenntnissen sollen sie sich für die noch unbekannte Frau entscheiden.

 

Dritter Schritt

Die Teilgruppen kommen an den jeweiligen Arbeitstischen zusammen, lesen in Stillarbeit den Bibeltext zur jeweiligen Ahnfrau Jesu und tauschen sich in einem stillen Schreibgespräch miteinander aus zu den beiden Fragen:

– Welche Erfahrung hat diese Ahnfrau gemacht?

– Welche besonderen Eigenschaften oder Fähigkeiten vermutet ihr bei dieser Ahnfrau?

 

Vierter Schritt

(Dieser Schritt kann übersprungen
werden.) Die Teilnehmenden besuchen die anderen Gruppentische, lesen die Texte und nehmen die Ergebnisse der stillen Schreibgespräche zu den anderen Ahnfrauen wahr.

 

Fünfter Schritt

Die Teilnehmenden kommen wieder im Stuhlkreis zusammen. In die Mitte wird ein Stofftuchbündel als Platzhalter für den späteren Spielort "Zukunft" und für die danach benannte Bezugsgröße "Jesus" gelegt. Der Platzhalter wird zunächst noch nicht benannt.

Darum herum kommen die vier Namenzettel der Ahnfrauen Jesu. Die Teilnehmenden stellen sich in Gruppen zu dem Namen, mit dem sie sich ausführlicher beschäftigt haben. Anschließend werden sie eingestimmt, sich in die Sichtweise und Rolle der jeweiligen Ahnfrau zu versetzen. In der Rolle dieser Ahnfrau suchen sie sich in Nähe oder Ferne zu dem als "meine Zukunft" markierten Stofftuchbündel in einer darauf bezogenen Körperhaltung, die die innere Befindlichkeit in Mimik und Gestik zum Ausdruck bringt, einen Platz. Dabei müssen die entstehenden Standbilder zu einer Ahnfrau nicht in den Teilgruppen aufeinander abgestimmt werden. In dem entstehenden soziometrischen Bild stellen die einzelnen Rollenspielenden ihre unterschiedlichen Sichtweisen zur jeweiligen Ahnfrau mit Blick auf die darauf bezogene Zukunftsvorstellung dar. Mit Blick auf eine Ahnfrau können so auch unterschiedliches Rollenerleben und verschiedene Sichtweisen und Interpretationen zu ein und derselben Figur im Raum für alle sichtbar werden.

In der im Stammbaum vorgegebenen chronologischen Reihenfolge von Tamar zu Batseba äußern sich nun die Rollenspielenden. Dazu nehmen sie zu jeweils einer Ahnfrau ihren Platz und ihre Haltung ein und ergänzen in einer weiteren Phase die von den Leitenden vorgegebenen Sätze: "Ich bin ... Ich habe erlebt, dass ... Gott ist für mich ..." Die Leitenden können zur Klärung der Reihenfolge der Äußerungen dabei von einem Teilnehmenden zum anderen gehen und diesen mit einer vorsichtigen Berührung an der Schulter zum Sprechen auffordern. Hilfreich kann es sein, bei den ersten Rollenspielenden die Sätze vorzusprechen und diese dann ergänzen zu lassen. Im Weiteren genügt dann die kurze Berührung an der Schulter. Jeder kann, muss sich aber nicht äußern. Nach einem Durchgang mit Blick auf eine der Ahnfrauen werden die Rollenspielenden als Entlastung aus der eingenommenen Haltung, nicht jedoch vom gewählten Platz in dem soziometrischen Bild entlassen.

 

Sechster Schritt

Die Rollenspielenden treten aus den gefundenen Haltungen heraus wieder in den Kreis zurück. Das Stofftuchbündel in der Mitte wird nun umbenannt als das Kind Jesus, das in näherer oder
fernerer Zukunft einmal geboren wird. Mit Blick auf diese Zukunft suchen die Rollenspielenden in der Rolle der jeweiligen Ahnfrau erneut in einem soziometrischen Bild aller Teilnehmenden einen Platz und eine Haltung (die bereits vorher gefundene oder auch eine veränderte) und nennen nacheinander ohne festgelegte Reihenfolge einen guten Wunsch mit Blick auf dieses Kind Jesus ("Ich wünsche diesem
Kind ...", "Ich wünsche Dir, dass ...").

 

Siebter Schritt

Alle Rollenspielenden werden aus dem Gruppenbild und aus den Rollen entlassen.

 

Achter Schritt

Im Stuhlkreis folgen eine Rollenreflexion ("Mein Erleben in der Rolle der ...") und dann eine Reflexion als Spielende ("Meine Entdeckungen als Spielerin/Spieler von ...").

 

Neunter Schritt

Ein Austausch über Entdeckungen mit Blick auf diese "Mütter des Glaubens" schließt sich an. Hierzu können zunächst noch einmal die Ergebnisse des stillen Schreibgespräches (vgl. Dritter Schritt) in den Blick gerückt werden – nun verbunden mit den Sichtweisen der Spielenden. Dazu ergänzen die Teilnehmenden in einer Fortsetzung des stillen Schreibgespräches auf den Papierbögen zu der von ihnen gespielten Ahnfrau Jesu mit anderer Farbe ihre im Spiel und in den Reflexionen zum Spiel gemachten Entdeckungen.

 

Zehnter Schritt

Für eine Bündelung der Ergebnisse und Präsentation in der Gesamtgruppe wird dann von den Teilgruppen auf einem gesonderten Plakat das für die jeweilige Ahnfrau als wichtig angesehene Profil in Stichworten beschrieben. Nach einem Wahrnehmen der verschiedenen Profilskizzen sammeln die Teilnehmenden Vermutungen darüber, was den Evangelisten Matthäus (evtl. auch im Unterschied zum Evangelisten Lukas) zur Auswahl und Nennung dieser Mütter des Glaubens veranlasst haben könnte und warum und wozu die Geschichten dieser Ahnfrauen auf Jesus bezogen werden.

 

Anmerkungen

1. Helm Stierlin, Die Demokratisierung der Psychotherapie. Anstöße und Herausforderungen, Stuttgart 2003, S.55.

2. Vgl. zum exegetischen Befund betreffs des matthäischen Stammbaumes Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus.1.Teilband Mt 1-7, Düsseldorf, 5.Auflage 2002.

3. Bernhard Dressler, Karfreitag – ein sperriger
Feiertag aus evangelischer Sicht, in: Loccumer Pelikan 1/2004, S.4.

4. Vgl. zum Begriff der Begegnung als bibliodramatische Schlüsselkategorie Heiner Aldebert, Spielend Gott kennen lernen. Bibliodrama in religionspädagogischer Perspektive, Hamburg 2001, S.207 ff.

5. Ebd. S.243.

6. Ebd. S.246.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2004

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