Was heißt christliche Freiheit heute?

von Gerald Kruhöffer

 

Jürgen Habermas hat in einem "Gespräch über Gott und die Welt" vor einiger Zeit folgende Überzeugung geäußert: Es geht heute in der Begegnung mit anderen Religionen und Kulturen darum, sich "der eigenen Wurzeln, also auch unserer Verwurzelung in jüdisch-christlichen Überlieferungen deutlicher inne zu werden"; kurz zuvor hatte er gesagt: Zur jüdischen Gerechtigkeits- und zur christlichen Liebesethik "gibt es bis heute keine Alternative. Auch angesichts der aktuellen Herausforderungen ... zehren wir nach wie vor von dieser Substanz. Alles andere ist postmodernes Gerede." 2 Diese Aussage eines zeitgenössischen Philosophen, der sich einer kritischen Rationalität verpflichtet weiß, sollte ein Anlass sein, sich neu mit zentralen Inhalten des Christentums zu beschäftigen und nach ihrer Bedeutung für die gegenwärtige Situation zu fragen. Das Phänomen der Freiheit ist dabei insofern interessant, als sich hier das neuzeitliche und das christliche Verständnis berühren und zugleich unterscheiden. Für die Theologie und Religionspädagogik ist es wichtig, hier zu einer Klärung zu kommen, nicht zuletzt um Argumente zu gewinnen in der Auseinandersetzung mit kritischen Anfragen und mit verbreiteten Missverständnissen.

 

1. Fragen und Beobachtungen

1.1 Persönliche Freiheit

"Freiheit" ist zu einem grundlegenden Wort des neuzeitlichen Denkens und des gegenwärtigen Lebensgefühls geworden. Es geht dabei zunächst um die Möglichkeit, über sich selbst zu bestimmen und das persönliche Leben frei zu gestalten. Zweifellos sind in den letzten Jahrzehnten die persönlichen Freiheitsspielräume gewachsen. Das hängt zum Teil daran, dass allgemeinverbindliche Anschauungen und Traditionen zurückgetreten sind; es gibt weniger feste Vorgaben und Maßstäbe für das, was die Einzelnen tun und wie sie sich verhalten. Da die Freiheitsspielräume gewachsen sind, wird es auf der anderen Seite für die einzelnen Menschen schwieriger, verantwortliche Entscheidungen wahrzunehmen. Manche fühlen sich dabei überfordert im Blick auf das Risiko, das mit den eigenen Entscheidungen verbunden ist. Soziologen sprechen deshalb von "riskanten Freiheiten". Darüber hinaus haben viele den Eindruck, sie könnten mit dem, was sie tun, gerade eine wichtige Chance verpassen und damit etwas Wesentliches versäumen. Mit alledem kommen die Möglichkeiten wie die Grenzen der persönlichen Freiheit in den Blick.

Die bisher umrissenen Beobachtungen treffen nur zu, weil wir in einem Raum politisch-gesellschaftlicher Freiheit leben – genauer gesagt: in einem Staat (bzw. einer Staatengemeinschaft) mit einer rechtsstaatlich-demokratischen Verfassung. Sie ruht auf der Grundlage der Menschenrechte, die immer eine Grenze staatlicher Macht markieren. Verbürgt sind die Grundrechte, die sich aus der Würde des Menschen ergeben: Das Recht auf Leben ist unantastbar, ebenso die Freiheit des Gewissens, die Religions- und die Meinungsfreiheit. Die Menschenwürde kommt gerade in der Achtung der grundlegenden Freiheitsrechte zur Geltung.

Im alltäglichen Leben wie im philosophischen Nachdenken geht man weithin von der grundlegenden Annahme aus, dass der freie Wille die ethische Bedingung dafür ist, dass Menschen verantwortlich handeln können. So hat Immanuel Kant aufgezeigt: Wenn der "kategorische Imperativ", die unbedingte ethische Forderung, dem Menschen begegnet und er als vernünftiges Wesen dieser Forderung zustimmt, dann wird er seiner Freiheit gewiss. Freiheit bedeutet also nicht Beliebigkeit; diese Auffassung wird zwar immer wieder vertreten und auch praktisch gelebt, sie entspricht aber nicht der eigentlichen Intention des neuzeitlichen Verständnisses. Vielmehr geht es darum, der praktischen Vernunft zu entsprechen. So gehört zur verantwortlichen Wahrnehmung der Freiheit, die Freiheit und die Würde anderer zu achten. "Niemand ist frei, so lange es nicht alle sind." 3 Gerade weil für Jugendliche die zunehmende Selbstbestimmung eine große Rolle spielt, ist die Einsicht wichtig, dass die Wahrnehmung der eigenen Freiheit die Achtung anderer einschließt. Das ist ein langer, manchmal mühsamer, aber notwendiger Lern- und Erfahrungsprozess.

 

1.2 Freiheit vor Gott

Es geht wie gesagt zunächst um die Freiheit, die der Mensch auf der Ebene des Tuns und Handelns wahrnimmt. Es ist die Freiheit der ethischen Verantwortung, die aus christlicher Sicht vor Gott dem Schöpfer wahrgenommen wird. Für die christliche Botschaft kommt im Phänomen der Freiheit etwas Wesentliches von der Würde und der Bestimmung des Menschen vor Gott zum Ausdruck.

Man muss von dieser Erkenntnis aus aber noch einen Schritt weitergehen. Es geht dabei um die Frage: Wo liegt der Ursprung der Freiheit bzw. der Unfreiheit? In diesem Zusammenhang ist die biblische Erkenntnis wichtig: Das entscheidende Hindernis der Freiheit liegt nicht allein in äußeren Umständen. Das christliche Verständnis sieht die Wurzel aller Unfreiheit vielmehr im Menschen selbst, in seiner Selbstverschlossenheit, in der Verweigerung, als Geschöpf Gottes zu leben. "Der eigentliche Ort, an dem die Entscheidung über meine Freiheit ausgefochten wird, bin ich selbst in der Tiefe meines Seins. Die Grundausrichtung meines Herzens entscheidet über meine Freiheit." 4 Die christliche Botschaft beschreibt deshalb die Gotteserfahrung als grundlegende Befreiungserfahrung. Der Mensch wird in seinem Herzen, im Innersten seines Wesens, von der Selbstverschlossenheit befreit. Er wird vom göttlichen Geist der Freiheit ergriffen und in seinem Lebensvollzug bestimmt.

Es gibt also die Freiheit auf der Ebene des ethischen Tuns. Und es gibt die Freiheit auf der Ebene des Glaubens, des vom Geist Gottes bestimmten Lebens. Von dieser Befreiung sprechen die biblischen Schriften, von denen jetzt einige – oft vergessene – Aussagen in Erinnerung gerufen und hervorgehoben werden sollen.

 

2. Grundlagen

2.1 Biblische Grunderfahrungen

Obwohl das Wort "Freiheit" im Alten Testament nicht vorkommt, spielen Befreiungserfahrungen eine wichtige Rolle. So bildet die Herausführung aus Ägypten (Exodus) das Grunddatum für die Geschichte und den Glauben Israels. In diesem Geschehen tritt das Besondere des biblischen Gottesverständnisses deutlich hervor. Gott ist nicht der ferne, dem das Ergehen der Menschen gleichgültig ist, sondern er ist dem Leben der Menschen zugewandt. Er sieht das Elend, er hört das Geschrei der Unterdrückten, er kennt die Leiden seines Volkes (2. Mose 3). In der Herausführung aus Ägypten erweist er sich als der rettende, befreiende Gott, dessen Nähe das Volk immer aufs Neue erfahren wird (vgl. die Zusage in der Offenbarung des Gottesnamens 2. Mose 3, 14).

Die Exodustradition wird von Deutero-Jesaja, dem Propheten, der zur Zeit des Exils in Babylon wirkt, aufgenommen und überboten. Der Prophet verkündigt die erstaunliche Botschaft: Die Zeit des Exils geht zu Ende, und die Rückkehr nach Jerusalem steht bevor. Diese grundlegende geschichtliche Veränderung erfolgt durch das Wirken des einen Gottes, den er als den Schöpfer und Erlöser verkündigt. Damit kündigt der Prophet einen neuen Exodus an, die für Israel grundlegende Tradition wird so aufgenommen und zugleich durch die bevorstehende Befreiung überboten.

Botschaft und Wirken Jesu
Im Neuen Testament sind die Befreiungserfahrungen mit der Verkündigung und dem Wirken Jesu verbunden. So praktiziert Jesus in seiner Mahlgemeinschaft mit den Zöllnern und Sündern (Markus 2, 13-17) die Freiheit von den religiösen und ethischen Maßstäben seiner Zeitgenossen. Indem Jesus mit den Zöllnern und Sündern das Mahl feiert, erfahren sie eine befreiende Veränderung ihres Lebens. Sie sind nicht mehr auf ihre schuldhafte Vergangenheit festgelegt, vielmehr ist ihnen ein neuer Anfang geschenkt, sie sind zur Gemeinschaft mit Gott gerufen.

Die ethische Forderung Jesu ist ganz an der Gottesherrschaft orientiert. Dies wird in Aussagen deutlich, in denen Jesus die Thora auslegt bzw. sich mit dem überlieferten Verständnis der Gebote auseinandersetzt. Aufschlussreich dafür sind die Konflikte um den Sabbat. Bei der Frage, was am Sabbat erlaubt ist, formuliert Jesus den Grundsatz: "Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen" (Markus 2, 27). Jesus nimmt hier eine erstaunliche Freiheit gegenüber den Sabbatvorschriften für sich in Anspruch. Ihm ist es wichtig, den eigentlichen Sinn des Feiertages wahrzunehmen.

Christusbotschaft bei Paulus
Paulus nimmt das Wort "Freiheit" auf aus dem griechisch-hellenistischen Zusammenhang und gibt ihm im Rahmen seiner Theologie einen neuen Sinn. Das Neue in der christlichen Interpretation liegt vor allem darin, dass Freiheit mit einem geschichtlichen Ereignis in Verbindung gebracht wird: Jesus Christus ist der Ursprung der Freiheit. In seiner Geschichte ist die Freiheit Ereignis geworden. Aus diesem Grunde wird die Freiheit vor allem als Befreiung verstanden und erfahren.

Pointiert formuliert Paulus: "Zur Freiheit hat uns Christus befreit. So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!" (Gal. 5, 1). Wesentlich ist die befreiende Gotteserfahrung, die in der Geschichte Jesu Christi ihren Ursprung hat. Es geht dabei um die "Freiheit vom Gesetz", um die Einsicht, dass die letzte Erfüllung des Lebens sich nicht durch das Tun erreichen lässt. Deshalb warnt Paulus davor, sich wieder "das Joch der Knechtschaft" auflegen zu lassen. Für die christlichen Gemeinden besteht offenbar die Gefahr, aus der gewonnenen Freiheit in eine religiöse Gesetzlichkeit zurückzufallen.

Darüber hinaus ist es wichtig, die positive Intention wahrzunehmen, die an einer späteren Stelle zum Ausdruck kommt: "Denn in Jesus Christus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist" (Gal. 5,6). Jesus Christus befreit aus der Gottesferne und Selbstsucht. Er befreit zum Vertrauen auf Gott und zur Liebe. Die Freiheit verwirklicht sich also in der Zugehörigkeit zu Gott, in dem glaubenden Vertrauen, in dem wir mit ihm verbunden sind. Denn in dieser Vertrauensbeziehung steht der Mensch nicht mehr unter dem Zwang kultischer oder ethischer Forderungen, vielmehr entsteht Vertrauen nur in einer Atmosphäre der Freiheit. Es hat seinen Grund in der befreienden Gotteserfahrung, die durch Jesus Christus erschlossen wird.

Die Beziehung zu Gott hängt mit der Beziehung zu den Menschen untrennbar zusammen. Deshalb spricht Paulus von dem Glauben, der in der Liebe wirksam ist. Im weiteren Zusammenhang betont er, dass der Einzelne die Freiheit nicht für sich allein haben kann: "Ihr seid ja doch zur Freiheit berufen, Brüder, nur: sorgt dafür, dass die Freiheit nicht eurer Selbstsucht Raum gibt, sondern dient einander in der Liebe" (Gal. 5, 13). Die durch Jesus Christus erschlossene Freiheit kann nicht im individualistischen Sinne verstanden werden. Sie ist vielmehr auf die menschliche Gemeinschaft bezogen und will daher in der Liebe wirksam werden. Im Blick auf die Tradition fügt Paulus hinzu, dass das ganze Gesetz (Thora) im Gebot der Nächstenliebe seine Erfüllung findet (Gal. 5, 14).

Auch die Hoffnung hat für Paulus ihren Grund in der Geschichte Jesu Christi und der in ihr erschlossenen Gotteserfahrung. Zwar ist alles Leben vergänglich, und auch für die Glaubenden ist der Tod eine harte und schmerzliche Erfahrung. Durch die Auferweckung Jesu jedoch hat der Tod seine endgültige Macht verloren. Deshalb ist unser sterbliches Leben in dem unvergänglichen Leben Gottes geborgen. Wir gelangen zum Ziel, zu "der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes" (Römer 8, 21).

 

2.2 Reformatorische Entdeckungen

Programmatisch hat Martin Luther seinen Ansatz in der Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen" zum Ausdruck gebracht. Er greift dabei auf Paulus zurück und spricht von der Freiheit, die Christus erworben und gewonnen hat. Um sie zu beschreiben, stellt er zwei Thesen auf: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan." "Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan." 5 Luther versucht in der Entfaltung dieser bewusst paradox formulierten Sätze das Wesentliche der Christusbotschaft und der christlichen Existenz deutlich zu machen.

Die Christen sind frei, d.h. sie sind durch das Wort von Jesus Christus befreit und erneuert. Wenn das Wort und der Glaube in der Seele regieren, dann ist der Mensch befreit von seiner Schuld, die ihn von Gott trennt. Luther verdeutlicht dies mit dem Bild vom Eisen und Feuer: "Wie das Wort ist, so wird auch die Seele von ihm gleich dem Eisen, das glutrot wird wie das Feuer, aus der Vereinigung mit dem Feuer."6 Der Mensch wird von der Art des göttlichen Wortes durchdrungen und damit verändert. Er bekommt Anteil an der Freiheit, die durch Jesus Christus verwirklicht ist. Zugleich wird der Glaubende ein Herr über alle Dinge. Natürlich müssen auch die Glaubenden leiden und sterben, aber das Leiden und der Tod können sie nicht endgültig von Gott trennen.

Im zweiten Teil der Freiheitsschrift beschreibt Luther das Leben der Christen in der Welt. Die Beziehung zu den Mitmenschen und die Notwendigkeit des Tuns. Dabei macht Luther deutlich: "Die Person prägt die Werke. So wie Christus sagt: Ein böser Baum trägt keine gute Frucht. Ein guter Baum trägt keine böse Frucht" (Matth. 7, 18). Die Person ist durch Christus und sein Wort verändert. So ist kein Gebot einem Christen zur Seligkeit Not, vielmehr gilt, "dass er von allen Geboten frei ist und aus lauterer Freiheit alles umsonst tut, was er tut, in nichts damit seinen Nutzen oder seine Seligkeit sucht." 7 Die Betonung der göttlichen Gnade macht die Werke keineswegs überflüssig, vielmehr will sich der Glaube im Tun der Liebe auswirken. Dabei befreit der Glaube das Tun von einer unsachgemäßen Zielsetzung, er befreit davon, sich durch die Werke zu rechtfertigen und Geltung zu verschaffen – vor Gott, vor den anderen Menschen, vor sich selbst. Darum gibt der Glaube die Freiheit, das zu tun, was um des Nächsten willen nötig ist, was die Liebe fordert.

Luther fasst zusammen: "Sieh, das ist die rechte, geistliche, christliche Freiheit, die das Herz freimacht von allen Sünden, Gesetzen und Geboten, die alle andere Freiheit übertrifft wie der Himmel die Erde. Das gebe Gott uns recht zu verstehen und zu behalten."8

In Übereinstimmung mit Luther hat Philipp Melanchthon ebenfalls bereits in der Frühzeit der Reformation das Wesentliche des Christentums in den prägnanten Worten zum Ausdruck gebracht: "Denn was anderes ist aufs Ganze gesehen das Evangelium als die Ausrufung der Freiheit. Kurz: Christentum heißt Freiheit."9

 

3. Einsichten

3.1 Diskussionen

Mit Melanchthons Aussage "Christentum heißt Freiheit" ist ein wichtiges Kriterium gewonnen, um religiöse Phänomene außerhalb und innerhalb des Christentums wahrzunehmen und angemessen zu beurteilen. Von diesem Maßstab her sind die Formen von Christentum und Kirche zu kritisieren, für die eine religiöse oder eine ethische Gesetzlichkeit maßgeblich sind. Eine besondere Kritik erfahren dabei alle Spielarten von Fanatismus und Fundamentalismus. Aber abgesehen von diesen extremen Erscheinungen ist die Gesetzlichkeit immer eine neue Gefahr – "das musst du glauben!", "das musst du tun!" Eben dies widerspricht zutiefst dem Geist Jesu Christi. Das Evangelium enthält immer auch das "Protestantische", also die Kritik des Glaubens und der kirchlichen Praxis nicht von außen, sondern von der Mitte der christlichen Botschaft her. Darin liegt eine Konsequenz der Freiheit. "Wo der Geist des Herrn (Jesu) ist, da ist Freiheit" ( 2. Kor. 3, 17).

Auf der anderen Seite ist eine kritische Auseinandersetzung mit einer in der Neuzeit verbreiteten Auffassung notwendig. Es ist die Meinung, dass der Glaube an Gott und die menschliche Freiheit sich widersprechen. So ist etwa für Jean Paul Sartre Gott mit seiner Allmacht der Tod der menschlichen Freiheit und Subjektivität. In ähnlicher Weise bleibt für Ernst Bloch neben dem "großen Weltherren" für die Freiheit der Menschen kein Raum. Die Auseinandersetzung mit dieser Auffassung muss bei dem von Jesus Christus erschlossenen Gottesverständnis ansetzen. Der von Jesus bezeugte Gott ist kein autoritärer Herrscher, nicht "der große Weltherr", er ist der Gott, der die Freiheit der Menschen achtet, in Treue an ihnen festhält und die Antwort ihres freien Vertrauens erwartet. Von dieser grundlegenden Erfahrung her gehören Gott und Freiheit untrennbar zusammen.

 

3.2 Vertrauen und Freiheit

An Jesus Christus wird deutlich, wie gerade die Gotteserfahrung als grundlegende Befreiungserfahrung wahrzunehmen ist. Die entscheidende Einsicht besteht darin: Freiheit wird von der Beziehung, von der Zugehörigkeit her gedacht und gelebt. Ich weise auf eine analoge Erfahrung aus dem menschlichen Zusammenleben hin: Wenn ein Kind im Vertrauen zu seinen Eltern lebt, dann kann es sich frei entfalten. Es kann spielen, sich freuen, die Welt entdecken. Wenn es traurig ist, kann es getröstet werden. Wenn es etwas falsch gemacht hat, stehen die Eltern zu ihm, es wird trotzdem geliebt. In einer Atmosphäre des Vertrauens kann sich ein Mensch frei entfalten. Das gilt in entsprechender Weise für eine Freundschaft, eine Partnerschaft, eine Ehe.

Freiheit in diesem Sinne ist nicht etwas, was der Einzelne für sich hat, sondern was in der Beziehung des Vertrauens entsteht und sich entfaltet. Entsprechendes gilt auch für die Freiheit des Glaubens. Die christliche Botschaft sieht die Menschen nicht als isolierte Einzelne, sondern sieht sie in einer Vielfalt von Beziehungen – im Verhältnis zu Gott, zu den anderen Menschen, zur natürlichen und sozialen Umwelt und zu sich selbst.10 Wenn der Mensch diesen Beziehungsreichtum, die Vielfalt von Lebensverhältnissen, nicht wahrnimmt, ausschließlich auf sich selbst bezogen ist und sein Leben in rücksichtsloser Selbstverwirklichung gestaltet, dann wird die Gemeinschaft zwischen den Menschen und ebenso die Gemeinschaft mit Gott grundlegend gestört. Wenn die Botschaft von Jesus Christus Menschen anspricht und überzeugt, weckt sie das Vertrauen auf die Wirklichkeit Gottes. Sie befreit damit den Menschen aus der Selbstverschlossenheit und Beziehungslosigkeit; sie eröffnet ihm so den Beziehungsreichtum des Lebens, und eben darin verwirklicht sich die Freiheit.

Diese Gewissheit will sich auch in Grenzsituationen bewähren. Die durch Jesus Christus erfahrene Freiheit kommt in Worten Dietrich Bonhoeffers in elementarer und eindrucksvoller Weise zum Ausdruck: "Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein."11 Dies ist keine Einsicht, über die man wie über einen Besitz verfügt, vielmehr will diese Gewissheit stets aufs Neue lebendig werden. Die Angst ist da, aber das Vertrauen erweist sich als stärker, und eben darin besteht in besonderer Weise eine befreiende Erfahrung. In dieser Gotteserfahrung ist auch die Hoffnung angesichts der Grenze des Lebens begründet. Unser zeitliches Leben ist bei Gott, dem Ursprung und Ziel alles Seins aufgehoben und geborgen. Der Tod ist nicht das Letzte, sondern das Menschsein kommt in der Erfahrung der Liebe Gottes zu seiner endgültigen Erfüllung: "Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben uns trennen kann von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist" (Römer 8, 38f).

 

3.3 Freiheit und Liebe

Menschliches Leben vollzieht sich in einer Vielfalt von Beziehungen. Deshalb verwirklicht sich die christliche Freiheit auf das Gegenüber zu Gott und auf die Beziehung zu den anderen Menschen. Jesus Christus befreit zum Vertrauen auf Gott und zur Liebe gegenüber den Mitmenschen. Dies geschieht dadurch, dass im Herzen, dem Zentrum der menschlichen Person, die befreiende Kraft der Liebe Christi erfahren wird. Damit wird eine wesentliche Einsicht der christlichen Auffassung deutlich. Im Gegensatz zu manchen neuzeitlichen Konzepten wird Freiheit nicht nur als Selbstbestimmung des einzelnen Menschen verstanden, vielmehr im Blick auf das gemeinsam zu gestaltende Leben als Verantwortung wahrgenommen. Wolfgang Huber spricht in diesem Zusammenhang von kommunikativer und kooperativer Freiheit. Unter dieser Voraussetzung gilt: "Freiheit verwirklicht sich nach christlichem Verständnis ... in der Gemeinschaft von Menschen, die einander in vorbehaltloser Anerkennung und Liebe begegnen."12 Gegenüber einer individualistischen Verengung vertritt das Christentum damit ein "anspruchsvolles Konzept menschlicher Freiheit". Es ist nicht durch eine Forderung, sondern in der von Jesus Christus ausgehenden Befreiung (= dem Evangelium) begründet.

Diese Einsicht ist wichtig für die aktuelle Problematik der Verantwortung für das Leben, z.B. bei der Frage nach überzeugenden ethischen Maßstäben im Blick auf Probleme der Bioethik. Hier stehen sich gegenwärtig zwei Positionen gegenüber:

Auf der einen Seite ein Verständnis von Vernunft, das sich am Machbaren orientiert: was wissenschaftlich und technisch möglich ist, das kann man auch praktisch umsetzen. Diese Auffassung verbindet sich zum Teil mit einer utilitaristischen Ethik und einem entsprechenden Menschenbild (z.B. Peter Singer). In diesem utilitaristischen Sinne wird dann auch die menschliche Freiheit und das aus ihr resultierende Tun verstanden.

Dem steht auf der anderen Seite ein philosophisches Verständnis von Menschenwürde gegenüber, das allen Menschen diese Würde zuspricht und die Unverfügbarkeit des anderen achtet. Die Freiheit wird hier von der Selbstbestimmung gesehen, aber sie wird nicht individualistisch verkürzt (z.B. Robert Spaemann, Jürgen Habermas, Hans Jonas). Das Freiheitsverständnis, das sich an der Menschenwürde orientiert, führt nicht zu einer "Freisetzung des Individualismus, sondern zur Respektierung der Unverfügbarkeit des anderen". Dieses philosophische Verständnis lässt sich mit der christlichen Überzeugung verbinden: Die Menschenwürde ist nicht in einer Eigenschaft oder Fähigkeit, sondern in der Gottesbeziehung begründet. In dieser Zugehörigkeit des Menschen zu Gott, in dieser Gemeinschaft des Vertrauens hat auch die Freiheit ihren Grund. Aus ihr erwächst die Bereitschaft, den anderen in seiner Würde als Person und sein Leben als unverfügbares Geheimnis zu achten. Aus dieser Begründung der Menschenwürde und Freiheit in der Gottesbeziehung folgt eine "Ethik der universalen Lebenszusage" (G. Altner).

 

3.4 Kultur der Freiheit

Der im Glauben erfahrenen Freiheit entspricht eine Atmosphäre der Freiheit, die die verschiedenen Formen menschlicher Gemeinschaft bestimmen will – Familien und Freundeskreise, christliche Gemeinden und Schulklassen. Ich möchte hier von einer "Kultur der Freiheit" sprechen, die sich aus dem christlichen Glauben ergibt. Sie unterscheidet sich von jedem ideologischen Zwang und fundamentalistischen Fanatismus sowie von jeder moralistischen Enge. Es geht dabei nicht um Anpassung an den Zeitgeist, sondern um etwas, was sich aus dem Wesen des Glaubens selbst ergibt: Der im christlichen Glauben erfahrenen Befreiung entspricht in der Lebensgestaltung eine "Kultur der Freiheit".

Damit verbindet sich eine neue Wahrnehmung der Welt als Schöpfung Gottes, die in der Freude am Leben zum Ausdruck kommt. Dies betont Luther, wenn er sagt: Der Satan "ist ein trauriger saurer Geist, der nicht leiden kann, dass ein Herz fröhlich sei". Gott aber ist ein Gott der Freude; "suche also die Gesellschaft, spiele Karten oder irgendetwas anderes, was dir Spaß macht". Das größte Gottesgeschenk ist die Musik; "oft hat sie mich erquickt und von schwerer Last befreit."13 Dies alles ist keine platte Genusssucht, kein Hedonismus in einer Spaßgesellschaft. Die in Christus begründete Freiheit weckt die Freude an den Gaben des Schöpfers, verbunden mit Geselligkeit, Humor, Kunst und menschlicher Gemeinschaft. Zur "Kultur der Freiheit" gehört eine Atmosphäre der Lebensfreude.

Prägnant bringt es Heinz Zahrnt zum Ausdruck: Bei Jesus und in seinem Geist herrscht eine besondere Atmosphäre. "Es ist der Luftzug der Erlösung – als gelangte man aus der Enge in einen weiten Raum. Die Freiheit hat schon begonnen."14

 

Anmerkungen

  1. Überarbeitete Fassung eines Vortrags bei der Religionspädagogischen Arbeitsgemeinschaft Lüneburg am 19. Februar 2003; ausführlicher zur Thematik jetzt: G. Kruhöffer, Glaube und Verantwortung. Theologische Grundfragen heute, Loccum 2003, S. 60-91
  2. J. Habermas, Zeit der Übergänge, Frankfurt/M. 2001, S. 182, S. 175
  3. J. Habermas, a.a.O., S. 189
  4. M. Beintker, Rechtfertigung in der neuzeitlichen Lebenswelt, Tübingen 1998, S. 74
  5. M. Luther, Ausgewählte Schriften, hg. von K. Bornkamm und G. Ebeling, 1. Band, Aufbruch zur Reformation, Frankfurt a.M. 1982, S. 239
  6. a.a.O., S. 244
  7. a.a.O., S. 255
  8. a.a.O., S. 263
  9. Ph. Melanchthon, Loci 1521, 7, 21
  10. Vgl. dazu E. Jüngel, Evangelischer Glaube und die Frage nach der Rechtfertigung der Gottlosen, in: Das Wesen des Christentums in seiner evangelischen Gestalt: Eine Vortragsreihe im Berliner Dom, Neukirchen/Vluyn 2000, S. 19f
  11. D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, München 1965, S. 18f, vgl. auch die "Stationen auf dem Wege zur Freiheit", a.a.O., S. 184f
  12. W. Huber, Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 1999, S. 179
  13. zitiert nach H. Oberman, Luther. Menschen zwischen Gott und Teufel, Berlin 1981, S. 321
  14. H. Zahrnt, Leben als ob es Gott gibt. Statt eines Katechismus, München 1992, S. 194

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2003

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