Das Theater mit der Bibel – Bibliodrama in der Gemeindearbeit

von Carsten Mork

 

1. Bibliodrama

Bibliodrama - dies ist ein inzwischen gebräuchliches Stichwort für einen bekannten Inhalt: Biblische Geschichten werden gespielt und erlebt. Doch gegenüber anderen Tradititonen wie z. B. fertige Spielstücke im religionspädagogischen Kontext oder bei verschiedenen Laienspielgruppen oder eines - alle Jahre wieder neu zugestaltenden - Weihnachtsspiels, sind mit dem Stichwort ”Bibliodrama”1 andere Schwerpunkte und Ziele verbunden. ”An einem Drehpunkt des Kreativitätsbooms zu Beginn der 70er Jahre stand die Erfahrung, dass das alte Verkündigungsspiel, von einem christlichen Autor geschrieben, in kirchlichen Lebenszusammenhängen gespielt, weitgehend tot sei. Neu zur Welt gebracht werden müsse die freie Improvisation, die persönliche Konfrontation mit einem biblischen Text, dessen Erarbeitung als Spiel - und Interaktionsprozess, nicht als Theaterprodukt”2 . Zunächst vereinzelt und unter verschiedenen Bezeichnungen wurde in den folgenden Jahren verstärkt der Versuch unternommen, die biblische Überlieferung im Bibliodrama in Beziehung zu und Begegnung mit dem ganzen Menschen in seinem seelischen, geistigen und körperlichen Dasein und seinen persönlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Einbindungen zu bringen, unter der Voraussetzung, dass der biblische Text wesentliche Orientierungen und Kritikansätze für die jeweilig gegenwärtigen, aktuellen Situationen beinhaltet. Das Bibliodrama kann somit verstanden werden als ”ein offenes Programm eines Interaktionsprozesses zwischen biblischem Material und - zumeist fünf bis zwanzig - Gruppenmitgliedern” mit dem Ziel, dass Situation/Person(en) der Bibel aus Klischees heraus in neue lebendige Bewegung kommen. Angestrebt wird die Beförderung und die Konfrontation eigener und fremder Erfahrung, die wechselseitige Auslegung von Situation und Tradition (Resymbolisierung)”3.

 

2. Das Spektrum des Bibliodramas im deutschprachigen Raum

Der Begriff ”Bibliodrama” stellt im deutschsprachigen Raum einen methodenpluralen Sammelbegriff dar. Die im Bibliodrama beabsichtigte methodenplurale Begegnung mit biblischen Texten hat dabei seelsorgerliche, therapeutische, spielpädagogische, exegetische und gottesdienstliche Dimensionen. Dieser Ansatz von Bibelarbeit ist in dem Sinne mehrdimensional, da körperbezogene, ästhetische und theologisch reflektierende Arbeit notwendige und für den ganzen Auslegungsprozess unverzichtbare Elemente des Bibliodramas sind. ”Bibliodrama arbeitet auf dem Fundament von Körperübungen und -meditationen (z. B. Eutonie, Theatertraining, Stimmeninprovisation), mit Methoden der humanistischen Psychologie (besonders Sensitivitytraining, Gestalttherapie, Psychodrama, aktive Imagination) und der Spiel- und Theaterpädagogik”4.

Ohne auf die vom Bibeltheater unterschiedenen Ansätze des Bibliodramas, die von den jeweiligen Qualifikationen und den Interessen der LeiterIn und der jeweiligen Gruppe abhängen, im Rahmen dieses Aufsatzes näher eingehen zu können, lässt sich m. E. eine Schwerpunktverschiebung von den psychodramatischen Anfängen hin zum spielpädagogischen Bereich beobachten. Von dem - im engeren Sinne ‘therapeutischen’ - Psychodrama mit einem biblischen Text unterscheidet sich das Bibliodrama dadurch, dass Ausgangs- und Bezugspunkt der biblische Text und die Situation des Teilnehmers und der Teilnehmergruppe ist, und das die Gesamtbewegung des Auslegungsprozesses immer wieder zurückgeführt und bezogen bleibt auf den biblischen Text. Somit ist der jeweilige biblische Text nicht Mittel zum Zweck der Selbsterfahrung bzw. Bearbeitung der jeweiligen individuellen Probleme, sondern immer ein gleichberechtigtes Gegenüber, das in seiner Nähe genauso wahrgenommen werden muss, wie in seiner Distanz zur gegenwärtigen Situation 5.

 

3. Bibeltheater

Im Rahmen des Bibliodramas ist der Begriff ‘Bibeltheater’ eng verbunden mit der Arbeit von Reinhard Hübner (ehemaliger Referent für Konfirmandenarbeit im Evangelischen Zentrum Rissen) und Ellen Kubitzer (Pädagogin und Bewegungslehrerin) sowie mit der Arbeit von Fritz Rohrer (Diakon und Sozialpädagoge, Referent für Spiel und Theater in der Beratungsstelle für Gestaltung von Gottesdiensten und anderen Gemeindeveranstaltungen in Frankfurt). An den Namen, Fachrichtungen und Arbeitsfeldern lässt sich veranschaulichen, wie das Bibeltheater aus dieser Zusammenarbeit von Theologie und Spiel- und Theaterpädagogik heraus sich in der Praxis entwickelt hat und für welche Zielgruppen es zunächst bestimmt war: Seit 1972 für die Arbeit mit ehrenamtlichen JugendgruppenleiterInnen in der Jugendarbeit, dann für die Erarbeitung von Spielstücken zu biblischen Texten für Gottesdienste, Kirchentage oder ähnliche Veranstaltungen mit Theatergruppen, später für die Arbeit mit KonfirmandInnen, für die Fortbildung von PastorInnen und hauptamtlichen MitarbeiterInnen sowie im Rahmen der Erwachsenenbildung. Dabei ging die Entwicklung von der Bezeichnung ‘Spielstücke selber machen’6 über ‘biblische Geschichten erleben’7 und ‘Geschichtentheater’8 hin zu dem seit 1985 gebräuchlichen Begriff ‘Bibeltheater’9.

Der Ansatz des Bibeltheaters - das als Bilder- und Bewegungstheater zu umschreiben wäre10 - gehört mit der Vorgabe eines biblischen Textes und einer eingeschränkten Gruppendynamik in den Bereich des spielpädagogischen Bibliodramas. Das Bibeltheater ist gleichberechtigt prozess- und pro-duktorientiert. Im Vordergrund steht die eigene Gestaltungsarbeit, für die die Körperarbeit von besonderer Bedeutung ist. Bei der Gestaltung von Spielszenen wird dabei eine Klarheit und Deutlichkeit der eigenen Aussage und eine Verkündigung durch Bewegung, lebendige Bilder und kreative Medien (Ton, Tücher, Masken u. a.) angestrebt. Mit der ermöglichten unmittelbaren Annäherung an einen biblischen Text ist in dem Prozess - für den einzelnen, wie für die Gruppe - darum immer wieder auch eine, von den eigenen Erlebnissen, Bildern und Gestaltungen genauso wie von dem jeweiligen Text distanzierende Reflexion verbunden. Das Bibeltheater lebt von gespielten Bildern, die immer neue Interpretationsphasen durchlaufen: Der biblische Text löst beim einzelnen Bilder aus, die in Kleingruppen besprochen und gestaltet werden und zu einem neuen Bild der Kleingruppe führen, das dann dem Plenum vorgestellt wird. Dieses wird wiederum durch ein Feed back und Assoziationen der Gesamtgruppe erweitert und zu einer erneuerten Spielszene gestaltet. Schließlich werden die verschiedenen Spielszenen der Kleingruppen im Plenum zu einem Gesamtablauf gleichberechtigter Szenen zusammengestellt und als ganzes dem Plenum vorgespielt und gemeinsam besprochen. Als letzte Phase dieses sich immer mehr erweiternden Prozesses wird eine Aufführung mit anschließendem Gespräch mit den Zuschauern angestrebt.

 

3.1. Der Erfahrungs- und Lernprozess im Bibeltheater
Der an sich zusammenhängende Prozess im Bibeltheater v
on der ersten Begegnung mit dem biblischen Text bis zur Aufführung wird hier unterschieden in den Erfahrungs- und Lernprozess der SpielerInnen, der von der Begegnung mit dem Text bis zur reflektierten Grundidee des noch improvisierten Spielstückes reicht, und in die klare Gestaltung für eine Aufführung vor einem Publikum.

 

3.1.1. Voraussetzungen für die Arbeit im Bibeltheater
Zur Rolle des Leiters bzw. der Leiterin:
Die von der Leitung bestimmte Vorgabe eines biblischen Textes ermöglicht sowohl eine gründliche, vorherige exegetische Aufarbeitung als auch die Ausarbeitung von Arbeitsvorschlägen für die einzelnen Schritte im Prozess des Bibeltheaters. Hierbei wird noch kein fertiges Konzept für ein Spielstück entwickelt. Die Vorbereitung dient ausschließlich dem Wissen um das Gewordensein und dem Gehalt eines Textes und den vom Text ausgelösten Bildern, Assoziationen, Ängsten und Hoffnungen in dem Leitenden, um auf dem Hintergrund dieses Bewusstmachungsprozesses und für die Arbeitsvorschläge sowie Auswahl der Medien eigene Grenzen und Möglichkeiten als Leitung wahrzunehmen. Dies ist für eine bewusste Lenkung des Prozesses notwendig, damit für die TeilnehmerInnen ein offener ‘Spielraum’11 gestaltet werden kann und um einer be- und unbewussten Manipulation der SpielerInnen, die dann nur noch spielen können oder dürfen, was die Leitung will, vorzubeugen. Darüber hinaus ermöglicht diese Vorbereitung der Leitung, ihren eigenen Weg und Stil mehrdimensionaler Bibelarbeit zu entdecken und auszuweiten, um auf diese Weise Begleitung der Gruppe im Prozess des Bibeltheaters anbieten zu können. Neben der Organisation der technischen Voraussetzungen (Raum, Zeit, Medien u. a.) für das Bibeltheater gehört noch die Information - über die jeweiligen Arbeitsschritte und Methoden - und die Hilfestellung - bei Schwierigkeiten der Gestaltung und im Gruppenprozess, bei Entscheidungsfindung und Reflexion zu den Spielstücken - in der gemeinsamen Arbeit mit der Gruppe zu den wesentlichen Aufgaben in der konkreten Durchführung.

Zu den Voraussetzungen der SpielerInnen:
In Abgrenzung zu jeder Form von Imitation professionellen Theaters wird in der Arbeit und Gestaltung im Bibeltheater grundsätzlich nur von den Bildern, Assoziationen, Möglichkeiten und Fähigkeiten der teilnehmenden SpielerInnen ausgegangen. Dieser Grundansatz öffnet das Bibeltheater für unterschiedliche Gruppen im gemeindepädagogischen Arbeitsfeld und ermöglicht hier gerade KonfirmandInnen das Erleben von biblischen Geschichten. Keine angelernten oder von außen aufgenommenen Einstellungen, Gebärden oder Bewegungen sollen übernommen und einstudiert werden, sondern die SpielerInnen werden angeregt und ermutigt, ihre eigenen Bilder und Gedanken zu entdecken und zu entfalten und die für jeden einzelnen ‘stimmige’ Bewegung, Gebärde und Mimik zu entfalten und zu gestalten. Neu ist in diesem Zusammenhang nicht etwas von außen Gesetztes, sondern die Entdeckung und Erfahrung der eigenen Person und darüber hinaus eine Ausweitung und Entgrenzung bisheriger Lebens- und Bewegungsmöglichkeiten. Für die zu entwickelnden Spielstücke bishin zur Aufführung bedeutet dieser Ansatz des Bibeltheaters, dass die gestalterischen und darstellerischen Möglichkeiten begrenzt sind auf die Möglichkeiten der jeweilig Teilnehmenden. Für die Begegnung mit einem biblischen Text bedeutet dies, dass nicht fremdes Wissen über den Text angeeignet werden soll, sondern dass die eigenen Erfahrungen in der Begegnung mit dem Text für die SpielerInnen im Mittelpunkt stehen und für diese lebendige Bedeutung gewinnen können.

Zum Verhältnis von Gruppe und einzelnen:
In der Zusammenarbeit wird ein gleichberechtigtes Zusammenspiel von Interessen der Gruppe und den Interessen einzelner angestrebt. Somit sollen die möglichen Gestaltungsversuche einer Gruppe nicht von einem alleine bestimmt oder durch ein ‘Starverhalten’ bzw. einer Rivalität bei der Rollenvergabe - einer Gefahr bei jeder Theaterarbeit - eines einzelnen beeinträchtigt werden. Auf der anderen Seite soll sich aber auch der einzelne mit seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten einbringen und entfalten können, ohne sich der ‘Gruppennorm’ bedingungslos anpassen zu müssen. Der Ansatz des Bibeltheaters lebt nicht von der Übereinstimmung und Einheit aller, sondern von der Verschiedenheit und Vielfalt derjenigen, die ein gemeinsames Spielstück entwickeln. ”Die Theaterstücke, die am Ende gezeigt werden, sind niemals das Ergebnis einzelner besonderer Begabungen, sondern das vieler einzelner Begabungen, sind immer Gruppenergebnisse”.12 Diese Verhältnisbestimmung von Gruppe und Einzelnem für die Arbeit im Bibeltheater ist orientiert an dem biblischen Menschenbild: ”Dem einzelnen Individuum wird erlaubt, seine Individualität wahrzunehmen und zu entfalten, aber niemals auf Kosten anderer, sondern er wird zugleich auf die anderen Menschen aufmerksam gemacht und angehalten, genauso achtsam wie sich selber die anderen wahrzunehmen und mit ihnen zu einer gemeinsamen Gestaltung zu kommen.”13 Für die Begegnung und Auseinandersetzung mit dem biblischen Text bedeutet dies außerdem, dass die subjektiven Einfälle und Phantasien einzelner zu einem Text durch die unterschiedlichen Assoziationen in einer Gruppe ein, der Wahrnehmung des Textgehaltes angemessenes Korriktiv erfahren. So ist die unmittelbare Annäherung an einen Text immer verbunden mit einem notwendigen distanzierenden Moment. In meinen Erfahrungen mit dem Bibeltheater war damit nie eine einseitige Verfremdung, sondern immer eine Aktualisierung dieses Textes für die jeweilige Gruppe verbunden.

 

3.1.2. Körperwahrnehmung und Bewegungserfahrung
Orientiert am Ansatz des ‘Körperlernens und Bewegens’ von Katya Delakova14 ist das Kennen lernen des eigenen Körpers und die Wahrnehmung der jeweils eigenen Bewegungsmöglichkeiten ein konstitutives Element für die Bewusstwerdung der eigenen Person und damit für das Arbeiten im Bibeltheater. ”Jenseits jeden paramilitärischen Drills gibt es sehr verschiedene Wege, den Körper zu bewohnen, sich mit ihm vertraut zu machen, das Haus oder den Tempel des Körpers, in dem ich schon immer drin bin, Raum für Raum, Gang für Gang kennen zulernen und schließlich vielleicht auch verbotene Türen zu öffnen. So wird der Körper, so werde ich ‘behaust’, so lerne ich meine Wohnstätte, mein Instrument kennen.”15 ”Wie einer seinen Kopf hält, Schultern und Bauch; seine Stimme und seinen Ausdruck; seine Art zu stehen, seine Körperhaltung und sein Auftreten: dies alles beruht auf dem Bild, das er sich von sich macht. Dieses Ich-Bild kann verkleinert oder aufgeblasene Wirklichkeit sein, der Maske angepasst, nach der einer von seinesgleichen beurteilt werden möchte. Er selbst kann - aber nur mit Anstrengung - erkennen, was an seinem Äußeren vorgetäuscht, was davon echt und er selbst ist. Aber nicht jeder kann ohne weiteres sich selbst erkennen, und die Erfahrung anderer kann ihm dabei eine wertvolle Hilfe sein.”16

Die Körperwahrnehmung und Bewegungserfahrung kann somit - gegenüber einer gegenwärtig immer noch dominierenden verstandesmäßigen Wahrnehmung einer damit verbundenen einseitigen Wirklichkeit - die Mehrdimensionalität menschlicher Lebenswirklichkeit erschließen helfen und somit neue Zugänge zur biblischen Überlieferung eröffnen. Sie hilft damit - meist indirekt - in dem Prozess des Bibeltheaters, sechs Ziele zu verwirklichen:

  1. Dadurch, dass die Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper, die eigenen Bewegungen und die eigene Atmung gelenkt wird, halten die SpielerInnen inne in ihrem gewohnten, den Alltag bestimmenden Verhaltens-, Denk- und Bewegungsschemata und werden sensibel für ihre augenblickliche Befindlichkeit und Gegenwärtigkeit.
  2. Auf diese Weise können sie sich zum einen öffnen für die Beziehungen untereinander in der Gruppe, ohne sich ausschließlich an ihren alten Beziehungsmustern zu orientieren.
  3. Zum anderen sind sie so in der Lage - ohne in alte Denk- und Verarbeitungsmuster stecken zu bleiben -, sich auf den biblischen Text einzulassen in der Bereitschaft, Neuem zu begegnen.
  4. Die Körperübungen können zum einen dem Warmwerden und der Lockerung bzw. Entspannung des Körpers dienen - ein Spielen und gestalterische Arbeit ist immer nur aus der Bewegung heraus möglich -, zum anderen können sie auch Vorbereitungen für eine inhaltliche und gestalterische Arbeit sein.
  5. Durch die bewusste Wahrnehmung des eigenen Körpers und der damit verbundenen je eigenen Körpersprache, können die SpielerInnen sowohl einen freieren Umgang mit den je eigenen Bewegungsformen lernen, als auch neue Möglichkeiten - zu atmen, sich zu bewegen und mit dem je eigenen Körper umzugehen - entdecken, ausprobieren und integrieren.
  6. Dadurch können sich die SpielerInnen nicht nur bewusster - sich ihrer selbst bewusster - bewegen, sondern können auch für andere und somit auch für die Zuschauer in ihren Bewegungen deutlicher und klarer werden.

Aus den hier beschriebenen Zielen ergibt sich eine klare Abgrenzung der Übungen für die Körperwahrnehmung und die Bewegungserfahrung gegenüber den verschiedenen, über die jeweiligen Kraft- und Leistungsmöglichkeiten hinausgehenden Formen von Sportunterricht oder Gymnastik. Für die Körperarbeit im Bibeltheater wie allen anderen Ansätzen von Bibliodrama gilt grundsätzlich: ”Weil kein Teilnehmer provoziert wird, über seine gegenwärtigen Verhältnisse zu leben, d. h. seine Grundstrukturen dimensional zu überschreiten, bleibt Bibliodrama wesentlich in der Eigenregie der Teilnehmer und deren Bereitschaft oder Zurückhaltung, das Wahrnehmungs- und Interaktionsfeld zu erweitern.”17

 

3.1.3. Zur Bedeutung der Imaginationsfähigkeit
Neben der Körperwahrnehmung und Bewegungserfahrung spielt im Bibeltheater die menschliche Möglichkeit zur Imagination als einen unmittelbaren Zugang zu den eigenen Bildern und Phantasien eine wichtige Rolle. ”Wenn wir von Imagination sprechen, dann sprechen wir von der Tätigkeit unserer Vorstellungskraft, unserer Einbildungskraft, von Phantasie, von Tagträumen. Auch wenn diese Phänomene untereinander verschieden sein können, betreffen sie alle den Bereich des Imaginativen, (...). Imaginative Fähigkeiten zu haben bedeutet, dass es den Menschen gegeben ist, mehr oder weniger anschaulich, ein Bild zu haben von etwas, das nicht mehr oder noch nicht präsent ist, das vielleicht überhaupt nie präsent sein wird. Diese Vorstellungen können sehr bildhaft sein, mehr von Farben oder Formen bestimmt; sie können sich aber auch durch eine Geruchserinnerung oder einer Geruchsvorwegnahme, durch eine Berührungserinnerung oder Berührungsphantasie oder durch akustische Erinnerungen oder Erwartungen ausdrücken. Sie können auch mehr gedanklicher Art sein.”18 Die jedem Menschen gegebene Möglichkeit zur Imagination in bewusster und aktiver Weise zu gebrauchen und zu entfalten, ist ein Ziel der Arbeit im Bibeltheater. So wird die Fähigkeit, innere Bilder zu sehen und wahrzunehmen, angeregt, oder Mut gemacht, diese inneren Bilder zuzulassen, da die Fähigkeit zur Imagination das schöpferische Entwickeln und Gestalten von Spielstücken ermöglicht und wesentlich unterstützt. Ein wichtiger Schritt in dem Gebrauch der aktiven Imagination ist die Bewusstmachung und Gestaltung, z. B. durch Malen der inneren Bilder zu einem biblischen Text. Auf diese Weise wird den SpielerInnen eine Distanzierung und Verarbeitung der je eigenen Bilder ermöglicht und eine Umsetzung zur spielerischen Gestaltung unterstützt und vorbereitet.

 

3.1.4. Der Prozess im Bibeltheater
Ich will den Prozess im Bibeltheater zunächst an einer Graphik veranschaulichen und im Anschluss daran die einzelnen Schritte unter Einbeziehung der aufgezeigten Grundelemente und Voraussetzungen in den Interpretationsphasen des sich immer mehr erweiternden Prozesses darstellen.

In diesem Schaubild lassen sich die wechselseitigen und vielfältigen Begegnungs- und Beziehungsmöglichkeiten der beteiligten Personen und des jeweiligen Textes bis hin zu deren Begegnungs- und Beziehungsmöglichkeiten zu den Zuschauern aufzeigen. Darüber hinaus wird die grundsätzlich dialogische Struktur des Auslegungs- und Gruppenprozesses wie des Prozesses in der Beziehung zu den Zuschauern sichtbar.

Für den Prozess des Bibeltheaters lassen sich folgende Schritte19 unterscheiden:

  • Kennen lernen und vorbereitende Hinführung zum Text durch verbale und nonverbale Kennenlernrunden bzw. -spiele, sowie mit Körperarbeit.
  • Erste Begegnung mit dem Text durch mehrmaliges Vorlesen mit der Anregung der einzelnen zur Imagination.
  • Gestaltung der imaginierten Bilder zu einem bestimmten Wort, einem Vers oder dem ganzen Text durch z. B. Malen oder Formung von Ton in Einzelarbeit.
  • Veröffentlichung der gemalten Bilder in einer ersten ‘Auslegung’ des Textes, d. h.: während der Text im Plenum langsam vorgelesen wird, legen die Teilnehmenden zu den entsprechenden Worten und Versen ihre Bilder nacheinander auf dem Boden aus. Nach einem ersten Austausch zum Gesamteindruck der Auslegung kann dann in Paararbeit oder kleinen Gruppen über die Bilder im einzelnen gesprochen werden.
  • Ausgehend von den Bildern und der jeweiligen Betroffenheit durch den Text wird in kleinen Gruppen über das Statuenbauen (lebendige Bilder) oder Umsetzung der Bilder in Bewegung eine erste kleine Spielszene entwickelt.20
  • Veröffentlichung der Spielszene der Kleingruppe im Plenum mit anschließendem Feedback der zuschauenden SpielerInnen und ergänzenden und kommentierenden Anmerkungen der Spielgruppe. Von diesen Rückmeldungen zu Wirkung und Absicht einer Spielszene her kann an einer möglicherweise klareren bzw. deutlicheren Gestaltung dieser Szene gearbeitet werden.
  • Unter Einbeziehung der verschiedenen kleinen Spielszenen wird von der Gesamtgruppe aus diesen Elementen eine Idee für ein endgültiges Spielstück entwickelt und dieses dann gestaltet und gespielt. Hierbei ist ein Austausch in einer Reflexion darüber wichtig, aus welcher Betroffenheit durch den Text heraus die Gruppe welche bestimmte Aussage und Botschaft und welche Befindlichkeit an die Zuschauer einer Aufführung vermitteln oder in ihnen auslösen will.
  • Als möglicher Abschluss für den Prozess zwischen einzelnen, der Gruppe und dem Text kann eine Wiederholung des zweiten bis vierten Schrittes erfolgen. Auf diese Weise wird der Gruppe und jedem einzelnen der Entwicklungsweg von der ersten Begegnung mit dem Text bis zur letzten Interpretationphase bewusster. Darüber hinaus kann auf diese Weise dem einzelnen nach einem vielleicht intensiven Gruppenprozess eine neue Nähe- und

Distanzfindung ermöglicht werden.

 

3.2. Die Aufführung
Gegenüber den anderen Ansätzen des Bibliodramas, die auf die Prozesse zwischen Einzelnem, Gruppe und biblischen Text begrenzt bleiben, kann das Bibeltheater mit dem Schritt zur Veröffentlichung darüber hinausführen, indem es bewusst ‘Spielräume für andere’ mit einer Aufführung des, in der Gruppe entwickelten Spielstückes gestaltet. Dies bedeutet, ”die Sicherheit der individuellen Spielräume oder die der Gruppe verlassen, auf die Plätze und Straßen gehen, an die sogenannten ‘Hecken und Zäune’, sich einmischen, mitmischen und die Fähigkeiten, die wir alleine oder als Gruppe erworben haben und die Kräfte, die wir gesammelt haben, ins Spiel bringen!”21 So tritt neben die individuelle Dimension und den Interaktionsraum einer Gruppe auch eine soziale Dimension in dem Auslegungsprozess des Bibeltheaters. Dieser Schritt über den Spielraum einer Gruppe hinaus zur Aufführung macht daher eine Weiterarbeit an den immer noch improvisierten Spielstücken erforderlich. Mit der Aufführung eines Spielstückes des Bibeltheaters ”wird von der Gruppe eine Aufgabe für andere übernommen. Das verlangt die verantwortliche Mitarbeit der Teilnehmer und ein intensives Arbeiten an der präzisen Gestaltung des Spielstückes. Hier steht ja nicht mehr das Erleben der Gruppe im Mittelpunkt, sondern anderen soll durch die Gruppe ermöglicht werden, einen lebendigen Bezug zu dem biblischen Text zu finden. Wohl haben die Bilder und Szenen, die gezeigt werden, ihren Ursprung in den persönlichen Assoziationen einzelner. Die Bilder müssen aber so gestaltet werden, dass die Zuschauer nicht auf die Assoziationen einzelner Spieler festgelegt werden, sondern die Freiheit behalten, ihre eigenen Bilder zu finden.”22

Neben der ‘Präzision’ der Gestaltung in der Vorbereitung für eine Aufführung spielt die ‘Konzentration’ auf die bewusste Gestaltung und dem Spannungsbogen einer Spielszene eine wichtige Rolle. Nichts bleibt mehr dem Zufall oder dem Improvisationsgeschick der SpielerInnen überlassen, sondern jede Bewegung, jede Mimik und Gestik, jeder Gebrauch von Medien wird immer wieder geübt und auf das wesentliche konzentriert. Da die Zuschauer den Entwicklungsprozess verschiedener Szenen und Bilder nicht miterleben können, können neben dem Spiel einzelne, kommentierende Sätze - z. B. durch einen Sprecher oder eine Sprecherin - treten, um den Zusammenhang anzuzeigen, in dem die Spielszenen stehen. Für die Aufführung ist darüber hinaus sehr wichtig, den Anfang und das Ende, den Auftritt und den Abgang der SpielerInnen genau zu überlegen und festzulegen, da eine ‘Bühne’ oder der Platz des Spiels alleine von den SpielerInnen bestimmt und begrenzt wird. Die Konzentration auf die Spannung des Spiels vermag dann auch die Zuschauer anzuregen und mit in das Spiel einzubeziehen. Wenn dies gelingt, kann neben dem ersten Teil der Aufführung - dem Spielstück - auch der zweite Teil Raum finden: das Gespräch und der Austausch der Spie-lerInnen und der ZuschauerInnen zu dem Spielstück eines biblischen Textes.

 

4. Bibeltheater am Beispiel von zwei Spielszenen

Die beiden Darstellungen von zwei Spielszenen sind im folgenden so strukturiert, dass zunächst der Text genannt wird und im Anschluss daran eine Beschreibung der Szene erfolgt. Abschließend werden Beobachtungen und Interpretationen der Zuschauer bzw. der Spielenden aufgeführt. Ein wesentliches Defizit für die hier vorgenommene Darstellungsform ist sicherlich, dass die Dynamik und Lebendigkeit des Spiels und des Beteiligt- und Betroffenseins der Zuschauenden übertragen wird in beschreibende und damit einseitige Sprache. Was hier künstlich auseinandergenommen wird, muss durch die Vorstellungskraft der Lesenden zusammengesehen werden.

 

4.1. ‘Was mit den Jüngern geschah’ - ein Spielstück zu Apostelgeschichte 2, 1 - 4

”Als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle an einem Ort versammelt. Da kam plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Sturm und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen, wie von Feuer, die sich verteilten und sich auf jeden von ihnen setzten, und sie wurden alle mit dem heiligen Geist erfüllt und fingen an, in anderen Sprachen zu predigen, wie der Geist es ihnen eingab.”

Die Spieler und eine Spielerin sitzen zusammen mit der Gesamtgruppe in einem großen Kreis im Raum für die Gesamtgruppentreffen. Sie haben sich jeweils ein farbiges, großes Tuch um die Schultern gehängt. Es tritt Ruhe ein. Ein Spieler sagt: ”Unser Spiel beginnt!”

Langsam erheben sich die Spielenden und kommen in der Mitte des Kreises zusammen und stellen ein erstes Bild, d. h. sie hocken, setzen und stellen sich - teilweise ganz mit Tüchern verhängt - einander zugewandt zu einem dicht geschlossenen Kreis zusammen. Gesichter und Hände sind von außen nicht zu sehen. In dieser Stellung verharren sie ohne Bewegung. Dann beginnen sich einzelne in dem Kreis zu bewegen. Plötzlich löst sich der Kreis der Spielenden auf - die Tücher werden auf und nieder geschlagen und wirbeln durch die Luft. Alle springen und laufen, hüpfen und rollen durcheinander. Ganz verschiedene Bewegungen sind zu sehen: einer dreht sich um sich selber und schüttelt dabei das Tuch - einer läuft schnell durch den Raum und immer wieder zwischen die Spielgruppe hindurch - einer rollt, in sein Tuch verwickelt, auf dem Boden - eine schleudert ihr Tuch immer wieder in die Luft. Die Farbtöne der Tücher wirbeln mit den Spielenden durcheinander. In dem ganzen Raum ist die wirbelnde Luft zu spüren. Schließlich formieren sich die Spielenden zu einem Kreis, in dem sie jeweils das Ende eines fremden Tuches mit einer Hand ergreifen. Dreimal gehen sie aufeinander zu, schütteln in der Mitte die Tücher vom Boden bis hoch in die Luft und gehen wieder zurück. Dann lassen sie die fremden Tücher los, drehen sich zu den Zuschauenden um, gehen auf diese zu und wirbeln jeweils über einem Zuschauenden das Tuch und kehren rückwärts in die Mitte zurück. Nachdem sie ein drittes Mal diesen Bewegungsablauf wiederholt haben, lassen sie die Tücher - sternförmig ausgebreitet und auf einzelne Zuschauende zulaufend - auf den Boden gleiten. Dabei halten sie jeweils ihr Tuch an einem Ende fest und ergreifen, ohne rückwärts zu schauen, in der Mitte ihres Kreises die Hände der anderen Spielenden. In dieser Haltung verharren sie einen Moment. Spontan ergreifen einige Zuschauende das andere Ende des jeweils auf sie zulaufenden Tuches. Das Spiel ist zu Ende. Die Spielenden kehren zurück auf ihre Plätze im Kreis der Gesamtgruppe.

In großer Übereinstimmung mit den Spielabsichten und -aussagen der Spielgruppe standen im anschließenden Gespräch die Äußerungen und Assoziationen bzw. Deutungen der Zuschauenden. Ich gebe im folgenden den interpretierten Spannungsbogen des Spiels und die Anmerkungen der Zuschauenden zusammenhängend wieder.

So ging die Dynamik des Spiels von der starren Abgeschlossenheit nach außen, der Einsamkeit und Verlassenheit der ‘Jüngergruppe’ - 50 Tage nach Ostern wohl immer noch zwischen Zweifel und Glauben, Mutlosigkeit und Hoffnung, ohne bewegende Kraft - über den plötzlichen Aufbruch durch die ‘Offenbarung des heiligen Geistes’ - von innen oder außen, von oben oder unten? - hin zu einer kraftvollen, auch verwirrenden Vielfalt an individuellen ‘Erlebnissen der Offenbarung des heiligen Geistes’ bei den Jüngern bis zu einer pulsierenden ‘Kraftquelle des Geistes’, von der ausgehend die Jünger nun auf andere Menschen zugehen konnten, um davon weiterzugeben. Dass einige Zuschauende spontan die Tuchenden ergriffen hatten war dabei von den Spielenden nicht geplant gewesen. Die Zuschauenden waren über ihr Handeln selber überrascht und erstaunt, dass das Spiel sie ‘ergriffen’ hatte. So hatte die ‘lebendige Predigt der Jünger’ übergegriffen auf andere Menschen. Den Spielenden war es in der Vorbereitung wichtig geworden, die verschiedenen Bilder und Vorstellungen von der Wirkungsweise des heiligen Geistes in dem Spiel nicht reduzierend zu vereinheitlichen, sondern die Vielfalt in ihrem Zusammenspiel auszudrücken. Dadurch konnten sie zum einen den Zuschauenden ihre Bilder mitteilen, ohne diese auf ein bestimmtes Bild festzulegen. Zum anderen konnten auf diese Weise die Zuschauenden eigene Bilder und Assoziationen zur Vorstellung vom heiligen Geist entwickeln. Deutlich wurde allen Beteiligten, dass nicht schon bestehende Bilder und Vorstellungen in das Spiel eingetragen worden waren, sondern das gerade durch die Begegnung mit dem Text neue Vorstellungen sich entwickeln konnten. So konnten auf ’Fragen’ durch die Begegnung mit dem Text neue, den eigenen Horizont erweiternde und lebendige ‘Antworten’ gefunden werden.

 

4.2. ‘Paulus und Silas im Gefängnis’ - ein Spielstück zu Apostelgeschichte 16, 23 - 26

”Nachdem man sie hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl dem Aufseher, sie sicher zu verwahren. Als er diesen Befehl empfangen hatte, warf er sie in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Block. Um Mitternacht beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und die Gefangenen hörten ihnen zu.”

Bei dem folgenden Spielstück handelt es sich im wesentlichen um drei Standbilder, die von einer Sprecherin durch zwei Sätze aus dem Text kommentiert werden. Spielort ist der Altarraum in einer Kirche während eines Gottesdienstes für Jugendliche.

Die sechs Spieler haben sich auf der linken Seite des Altarraumes an der Wand aufgestellt. Ruhe tritt ein. Nacheinander gehen die ersten vier Spieler in zügigem Schritt die drei Altarstufen hoch und stellen sich in eine gerade, schräg in den Raum verlaufende Linie. Jeweils mit einem Körperteil berühren sie sich noch, ansonsten stehen sie steif da - einer hält seinen Kopf mit den Händen, ein anderer steht mit geneigtem Kopf, angewinkelten Armen und geballten Fäusten, ein dritter Spieler lehnt gebeugt an dem anderen, der vierte Spieler - noch halb im Gehen - steht gebeugt daneben.

Sprecherin:
‘Nachdem man Paulus und Silas geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis.’
Nun kommen die letzten beiden Spieler nacheinander - teils stolpernd, teils rückwärts fallend - vor die vier unbeweglichen Spieler und fallen, stürzen dort zu Boden. Sie liegen dort mit gesenkten Köpfen halb übereinander. In dieser Position verharren sie einige Augenblicke.

Sprecherin:
‘Um Mitternacht beteten Paulus und Silas und lobten Gott.’
Nur ein wenig heben die beiden, auf dem Boden liegenden Spieler die Köpfe und halten die Hände ineinander. Daraufhin lösen sich die anderen, dahinter stehenden Spieler aus der Starre, treten auseinander, von der Linie aus zu einem kleinen Halbkreis um die beiden auf dem Boden hockenden Spieler. Sie schauen zu diesen herab - teilweise aus der gebeugten Haltung heraus, teilweise aufgerichtet. In diesen Positionen verharren alle Spieler noch einige Augenblicke und gehen dann gemeinsam ab, zurück zur linken Seite des Altarraumes in die Ausgangsstellung. Das Spiel ist beendet.

In diesem Spielstück - von seinen Gestaltungselementen deutlich unterschieden zum ersten Spielstück - ging die Dynamik des Spiels von der starren ‘Gefängnismauer’ bzw. von erstarrten, ‘hoffnungslosen Gefangenen’ und der ‘brutalen Einkerkerung’ von Paulus und Silas - ein ‘Sturz in die Ausweglosigkeit und Hoffnungslosigkeit’ - hin zum nächtlichen, schweigenden Beten, zur vorsichtigen ‘Geste des Hoffens’. Diese kleine Veränderung bringt Bewegung in das Dunkel und Starre des Kerkers. Die ‘Mauer’ wird durchlässig, die ‘Gefangenen’ schauen - teils hoffend, teils skeptisch - auf Paulus und Silas. ‘Leben ist in der Starre des Kerkers’ - ‘Licht in der Dunkelheit’ - ‘Zuversicht in aller Trostlosigkeit’.

Der intendierte Gegensatz wurde von den Zuschauenden deutlich wahrgenommen, wobei nicht die ausladende Geste, die große Veränderung das Bild und damit auch den nachhaltigen Eindruck bei dem Publikum bestimmt hatte, sondern gerade die ganz kleine, angedeutete Veränderung trug die Szene und bewegte die Zuschauenden. Einhellig waren die Voten, dass jede überzogene und übertriebene Bewegung zu einer kitschigen Pointe der Szene geführt hätte. Nicht die ‘Glaubenshelden’ und ‘Großen im Beten’ sprachen die Zuschauenden an, sondern gerade die Verzweifelten, die in ihrem Leiden auf Gott vertrauen und sich ihm anvertrauen. Diese Eindrücke wurden darüber hinaus verstärkt durch die lange unbewegten und für alle eindrücklichen Standbilder und die starke Konzentration der Spieler auf ihr Spiel.

 

4.3. Abschließende Bemerkung
Auffallend war für beide Spielstücke, dass die von den Spielenden entwickelten Bilder und Bewegungen zu den biblischen Texten von den Zuschauenden verstanden worden waren und die Absicht der Spielgruppe mit der Wirkung auf das Publikum korrelierte. Außerdem wurden die Zuschauenden zu neuen, eigenen Bildern, Assoziationen und Deutungen für ihren Lebenszusammenhang ‘bewegt’ und ermuntert. Darüber hinaus setzte sich in den Gesprächen und Rückmeldungen zu den Spielstücken als Auslegungen von biblischen Texten die dialogische Struktur des Auslegungsprozesses im Bibeltheater weiter fort. Dass dies ohne die jeweiligen, zugrunde liegenden Texte nicht möglich gewesen wäre, wurde allen - sowohl in dem Entwicklungsprozess der Spielgruppen als auch in den Gesprächen mit den Zuschauenden - deutlich.

 

5. Das Bibeltheater in der Gemeindearbeit

Im Auslegungsprozess und durch die Aufführung eines Spielstückes des Bibeltheaters sind die Arbeitsbereiche von Religionspädagogik, Seelsorge und Verkündigung eng aufeinander bezogen. Mit dem Begriff der Religionspädagogik wird dabei darauf hingewiesen, dass ”Sozialisation und Bildungsbereich ... heute sicherlich eines der entscheidenden Felder der Verschränkung, des Konflikts und der notwendigen Synchronisation kirchlicher und gesamtgesellschaftlicher Interessen und Maßnahmen (sind), vielleicht das wichtigste Feld kirchlicher Praxis im Leben der Gesamtgesellschaft, eben darum auch ein besonders wichtiges Problem kirchlicher Selbstinterpretation und Selbstüberprüfung”23 Das zwiespältige Verhältnis zur biblischen Tradition und die für die Identitäts- und Relevanzfrage von Gemeinde und des eigenen Christseins in und für die Welt notwendige Auseinandersetzung mit der biblisch-christlichen Tradition macht sowohl Grenzen und Probleme als auch Möglichkeiten religionspädagogischer Arbeit in einer Gemeinde deutlich. Das Bibeltheater kann hier - bei Berücksichtigung der jeweiligen alters- und entwicklungsspezifischen Gegebenheiten und Fähigkeiten der Teilnehmenden - in der Arbeit mit Konfirmandengruppen, Jugendgruppen und Erwachsenen die Möglichkeit und den Spielraum anbieten für die Wahrnehmung eigener und fremder Bedürfnisse und für eine bewusste Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Fragen auf dem Hintergrund und in einer lebendigen Begegnung mit der biblischen und christlichen Tradition, um auf diesem Weg in verantwortungsbewusster Weise als Christ die Zukunft zu gestalten. Dieser weitgefasste Horizont des Bibeltheaters in der Gemeindearbeit ist notwendig und angemessen, da keine Lernergebnisse in der prozessorientierten Arbeit im Bibeltheater vorgegeben werden und damit ein möglichst großer Spielraum für die jeweiligen Gruppen eröffnet wird, um die Möglichkeiten der je eigenen Kreativität zu entdecken und zu ‘lernen’, diese - allein und im Zusammenspiel einer Gruppe - bewusst zu gestalten für das eigene Leben und für andere Menschen. Für die Teilnehmenden kann auf diese Weise ein Lernprozess für das Leben und im Glauben beginnen.

Wo der Mensch in seiner ganzen Existenz mit Leib und Seele sich entwickeln und wachsen kann und darf, da ist auch immer die seelsorgerliche Dimension einbezogen. In der Identifikation und Auseinandersetzung mit biblischen Geschichten, Gestalten oder einzelnen Bibelversen kann sich im Bibeltheater für die Teilnehmenden der Sinnhorizont gegenüber schicksalhafter Sinnlosigkeit erweitern und der einzelne kann lebendigen Trost erfahren durch die Veränderung und Erweiterung alter festgelegter Deutungen und Sinngebungen von biblischen Begriffen und Worten. Eine für die Gemeindearbeit wichtige und zu berücksichtigende Beschränkung besteht für das Bibeltheater darin, dass Selbsterfahrung zwar immer in dem Prozess der Arbeit geschehen kann, diese aber - im Unterschied zu anderen Ansätzen des Bibliodramas - nicht methodisch, d. h. durch eine bestimmte Form der Aufarbeitung individueller Probleme, beabsichtigt ist.

Mit der Aufführung eines Spielstückes des Bibeltheaters - sei dies im Rahmen eines Kinder-, Erwachsenen- oder Familiengottesdienstes - geschieht darüber hinaus nicht nur die Veröffentlichung des Spielstückes einer Gruppe, sondern ereignet sich auch immer eine lebendige Verkündigung - nicht eines einzelnen Predigers, sondern - von einer Gemeindegruppe im Gottesdienst der Gemeinde für andere und zusammen mit anderen Menschen

So bedeutet z. B. für KonfirmandInnen in einer Gemeinde die Arbeit des Bibeltheaters eine Hilfe, die biblisch-christliche Tradition kennen zulernen und für sich zu entdecken durch eine lebendige Begegnung und Erfahrung einzelner Texte. So können sie sich mit ihrer Situation, ihren Fragen und Problemen in Situationen, Fragen und Problemen in biblischen Texten wie-derentdecken, um vielleicht neue und oft erstaunliche Antworten auf ihre Fragen zu finden. Darüber hinaus werden KonfirmandInnen durch eine Aufführung in einem Gottesdienst verantwortlich beteiligt an der Gestaltung von Gemeindeleben und können sich als Mit-Glieder von Gemeinde erfahren.

In einer Situation, in der die Zugehörigkeit zur Kirche oft in passiver oder distanzierter Mitgliedschaft besteht und von der Kirche Angebote und Dienstleistungen, auf die man ggf. zurückgreifen kann, erwartet werden, trägt gerade die Gemeinde viele Merkmale der Versorgungs- und Betreuungskirche. Mit der Eröffnung und Gestaltung von ‘Spielräumen’ für Menschen übernimmt das Bibeltheater eine Aufgabe in der Gestaltung der empirischen Gemeinde. Das Bibeltheater geht mit seinem mehrdimensionalen Ansatz von Bibelarbeit bewusst über eine Kirche als ‘Dienstleistungsbetrieb’ hinaus, indem es in seinen Entwicklungsprozess die verschiedenen Bereiche von Gemeindearbeit mit einbezieht und auf diese Weise die beteiligten Menschen und Gruppen - SpielerInnen wie Zuschauende - durch Form und Inhalt des Bibeltheaters fördern und beeinflussen kann und will in Richtung auf eine Kirche als ‘Dienstgemeinschaft’. Im Bibeltheater wird dabei grundsätzlich von einer Gemeinde von Brüdern und Schwestern und somit von der Gleichberechtigung und von dem eigenverantwortlichen Denken und Handeln der verschiedenen Menschen und Gruppen ausgegangen, die ein grundsätzliches Recht darauf haben, nicht nur von Jesus Christus zu ‘wissen’, sondern auch zu ‘erfahren’ und zu ‘erleben’, wer Jesus Christus ist und welche Bedeutung dieser für sie haben kann. Im Bibeltheater werden hierarchische Leitungsstrukturen, die entmündigen und entehren, ausgeschlossen und es wird Menschen in einer Gemeinde Raum gegeben für die verschiedenen Gaben und Dienste - Raum, diese zu entdecken, zu entwickeln und zusammen mit anderen Menschen zu gestalten und für andere Menschen in einer Gemeinde einzusetzen. Auf diese Weise wird die Möglichkeit aktiver Teilnahme und bewusster Mitgliedschaft gestärkt, wobei davon ausgegangen wird, dass alle Christen mit ihren jeweiligen Möglichkeiten und Gaben berechtigt sind, vom Evangelium Zeugnis abzulegen in den verschiedenen Bereichen von Gemeindearbeit durch Reden und Handeln.

 

Anmerkungen

  1. Nach den Bibliographien von H. Petzold, Psychodrama als Instrument der Pastoraltheologie, der religiösen Selbsterfahrung und der Seelsorge, in: WzM 24, 1972, 41 - 56, hier: S. 49 u. 56 taucht der Name Bibliodrama spätestens 1967 zum ersten Mal auf, dort aber deutlich als Psychodrama mit einer biblischen Geschichte verstanden und ausgeführt. ”Der Begriff ‘biblical psychodrama’ findet sich erstmals in einer öffentlichen Diskussion im April 1962, auf dem 21. Jahrestreffen der American Society of Group Psycho-Therapy and Psychodrama in New York” (G. M. Martin, Das Bibliodrama und sein Text, in: Evangelische Theologie, 45. Jg., Heft 6, 1985, 515 - 526, hier: S. 522, Anm. 13). In beiden Zusammenhängen gilt Bibliodrama lediglich als eine Untermethode von Psychodrama, d. h. als Psychodrama mit einem bestimmten Material und für ein bestimmtes Klientel.
  2. G. M. Martin, Bibliodrama - ein Modell wird besichtigt, in: A. Kiehn u. a. (Hg.), Bibliodrama, Stuttgart 1987, 44.
  3. G. M. Martin, Bibliodrama, in: Studientagung der Arbeitsgemeinschaft Spiel (AGS) in Kooperartion mit dem Theologischen und Pädagogischen Zentrum (TPZ) des Burckhardthauses: Bibliodrama, unveröffentlichter Tagungsbericht, Gellnhausen 1984, 5.
  4. ebd.
  5. ”Eine Bibliodramaarbeit, die das historische Wissen (...) nicht übergeht, die bei aller ‘Identifikation’ mit den Gestalten und Dingen biblischer Geschichte nicht die Distanz vergißt (eine biblische Geschichte ist zunächst einmal fremd und für andere Leute erzählt) und die sich um die Rücknahme von Projektionen bemüht, nachdem sie vorher kräftig Projektionen zugelassen hat, muss den Psychologisierungsvorwurf nicht fürchten” in: (W. Teichert, Einleitung, in: A. Kien u. a. (Hg.), Bibliodrama, Stuttgart 1987, 11. Vgl. außerdem D. Schramm, Bibliodrama und Exegese, in: A. Kien u. a. (Hg.), Bibliodrama, 1987, 116 - 135 u. G. M. Martin, Text, 521 f.
  6. vgl. R. Hübner, Geschichtentheater, in: WuPKG 68. Jg. 1979, 151 - 156, hier: 152
  7. vgl. R. Hübner, Biblische Geschichten erleben: Spielversuche zu biblischen Texten, Offenbach/Freiburg 1985 4. Aufl.
  8. vgl. Hübner, Geschichtentheater.
  9. vgl. F. Rohrer, (Hg.), Bibeltheater, Materialheft Nr. 43 der Beratungsstelle für Gestaltung von Gottesdiensten und anderen Gemeindeveranstaltungen, Frankfurt 1985, vgl. außerdem R. Hübner, E. Langbein, Biblische Geschichten in der Konfirmandenarbeit - leibhaft Glauben lernen - Modelle mit Ansätzen des Bibliodramas und des Bibeltheaters, Hamburg 1997.
  10. vgl. R. Hübner, Bibeltheater in der Konfirmandenarbeit, in: H. Reiner (Hg.), Religionspädagogik und kirchliches Amt, Brecklum 1987, 382 - 393, hier: S. 383.
  11. ”Spielräume sind innere und äußere, private und gesellschaftliche Bereiche, in denen Neues, Anderes, häufig Überraschendes erfahren werden kann. (Spielräume) sind Luftblasen des Lebendigseins, in denen das erlebt werden kann, was im Alltag oft übersehen, aber doch ersehnt wird” (R. Hübner, Spielräume für Gruppen, Bd. 1, München 1985, Rückseite des Bandes)."Alle diese Spielräume sind nicht nur Übungsräume, sie sind Lebensräume, denn im Spiel können achtsames Miteinander, Aufmerksamkeit für sich selber und Lebensfreude nicht nur erprobt, sondern auch erlebt werden. Menschen brechen auf und erfahren, dass Grenzen nicht statisch sind. Innerhalb dieser Spielräume brauche ich mich nicht zu schützen. Mein Spiel wird absichtslos, ich muss nicht besser als die anderen sein und brauche meine Stärke und Kraft nicht zu verstecken. Ich habe Musse, meine schöpferischen Fähigkeiten zu entdecken und zu nutzen. Ich kann den Möglichkeiten nachgehen, die sich zwischen mir und den anderen ergeben. Und ich kann Hoffnung lernen. Nach außen müssen wir die Spielräume allerdings dort schützen, wo andere sie nicht wollen, und versuchen, sie zu erweitern, wo andere sie klein halten. Und wir müssen sie öffentlich machen” (R. Hübner, Spielräume Bd. 1, 6 f.)
  12. Rohrer, Bibeltheater, 33.
  13. ebd., 34.
  14. vgl. R. Hübner, Spielräume 1, 74, und grundsätzlich hierzu: K. Delakowa, Bewegung, München 1984,sowie ein größeres Trainings-programm eines ihrer Lehrer: M. Feldenkrais, Bewußheit durch Bewegung, Suhrkamp Taschenbücher st 429, Frankfurt 1978.
  15. G. M. Martin, Modell, 46.
  16. M. Feldenkrais, Bewusstheit, 47 f.
  17. G. M. Martin, Modell, 48.
  18. in: V. Kast, Imagination als Raum der Freiheit, Olten 1988, 14.
  19. vgl. F. Rohrer, Bibeltheater, 81 ff.; Hübner, Bibeltheater, 383 f.
  20. Grundsätzlich zu beachten ist im Gebrauch von Methoden (z. B. Statuenbauen, Bewegungen entwickeln zu Bildern) und im Einsatz von Medien (Tücher, Masken, Schminke u. a.), dass diese vor ihrem Einsatz und Gebrauch in der Gruppe bekannt und eingeübt werden.
  21. R. Hübner, Spielräume für Gruppen, Bd. 2, Rissen 1986, 4.
  22. ders., Bibeltheater, 382 f.
  23. E. Lange, Perspektiven kirchlicher Planung

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/1999

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