Ich erinnere mich an ihre strahlenden Augen, als wir nach einem Musicalbesuch nach Hause fuhren

Kirsten Rabe im Gespräch mit der Ergotherapeutin Angelika Dreier

 

Kirsten Rabe: Ich freue mich, dass du Zeit gefunden hast, ein bisschen über deine besondere Wohnsituation während der Ausbildung zu erzählen. Was genau ist so besonders daran?

Angelika Dreier: Während meiner dreijährigen Ausbildung habe ich bei einer älteren Frau gelebt, die mittlerweile 87 Jahre alt ist. In ihrem Einfamilienhaus stand die obere Etage leer und so konnte ich diese für mich nutzen. Ein großer Vorteil gegenüber einer WG waren die günstigen Kosten. Diese bestanden lediglich aus den Nebenkosten. Im Gegenzug bot ich der Dame Unterstützung in ihrem alltäglichen Leben an. Ich ging mit ihr regelmäßig spazieren, ich maß ihren Blutdruck, begleitete sie beim Einkauf und zu außerordentlichen Veranstaltungen, wie Konzerten in der Stadthalle.

Rabe: Wie bist du auf den Gedanken gekommen, gezielt bei einem älteren Menschen zu leben? Und was hat dich von diesem Konzept überzeugt?

Dreier: Zu Beginn der Ausbildung war ich auf der Suche nach einem Nebenjob, den ich mit der schulischen Ausbildung gut vereinbaren konnte. Zudem spielte ich mit dem Gedanken, näher an meine Ausbildungsstätte zu ziehen. Beides konnte durch das Programm „Wohnen für Hilfe“, welches in vielen deutschen Großstädten angeboten wird, realisiert werden. Nach einem ausführlichen Kennenlerngespräch stand die Entscheidung fest: Ich zog zu einer älteren Frau. Manch einer mag sich beim dem Gedanken nicht wohlfühlen. Durch meinen engen Kontakt zu meinen Großmüttern hatte ich jedoch keine Berührungsängste mit älteren Menschen. Stattdessen empfinde ich den Generationen übergreifenden Austausch als sehr bereichernd für mein Leben. Mir macht es Freude, die Entwicklung der Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten zu beobachten und aus Erfahrungsberichten zu lernen. Mich verwundern vor allem die Unterschiede, die innerhalb so kurzer Zeit möglich sind, ebenso wie der Einfluss der vergangenen Jahre und Generationen auf unsere heutige Zeit.

Rabe: Unterschied sich dein Alltag sehr von dem anderer Auszubildender oder Studenten? Also erst der Einkauf und die Unterstützung im Haushalt und dann die Arbeitsgruppe oder die Vorbereitung auf die Anatomieklausur?

Dreier: Da die Ausbildung schulisch war, hatten viele meiner Klassenkameraden einen Nebenjob, dem sie nachgingen. Inhaltlich gab es jedoch Unterschiede. Viele arbeiteten in einem Supermarkt mit festen Arbeitszeiten. Da ich keinen klassischen Nebenjob hatte, konnte ich die Zeiten, die ich mit der Frau verbrachte, frei absprechen. Dies entlastete mich enorm, vor allem in Prüfungsphasen. Zudem konnte ich immer wieder Verbindungen zu meiner theoretischen Ausbildung ziehen. Ergotherapie setzt am alltäglichen Leben der Klienten an und folglich konnte ich insbesondere im Bereich der Gerontologie ein tieferes Verständnis durch den engen Kontakt entwickeln und erste praktische Erfahrungen sammeln.
Rabe: Gibt es ein besonderes Erlebnis, das dir in Erinnerung geblieben ist?

Dreier: Im Allgemeinen bin ich froh über diese Erfahrungen, weil ich der Frau in dieser Zeit Gesellschaft leisten konnte. Dies war für sie wichtig, weil sie altersbedingt einige wichtige Rollen im Leben verloren hatte und nun nicht mehr in dem Maß am gesellschaftlichen Leben teilnehmen konnte, wie sie es gewohnt war. Ich erinnere mich an ihre strahlenden Augen, als wir nach einem Musicalbesuch nach Hause fuhren. Die Veranstaltung hatte ich ihr vorgeschlagen, weil viele meiner Freunde daran beteiligt waren und ich vermutete, dass es ihr gefallen würde. Für sie war es mehr als das: Sie fühlte sich in die Zeit versetzt, als sie und ihre Freunde zum ersten Mal nach dem Krieg die Möglichkeit hatten, selbst Theater zu spielen. Dies war vorher aufgrund der politischen Gegebenheiten nicht möglich. Nun hatte ich ihr große Freude bereitet, und davon erzählte sie auch noch Wochen später.

Rabe: Wenn dich andere Auszubildende oder Studierende fragen, ob du ihnen dieses Wohnkonzept empfehlen kannst, was antwortest du ihnen?

Dreier: Definitiv! Es ist eine Erfahrung, die nicht viele machen können. Ich bin der Meinung, dass man durch sein Wohnumfeld und andere Menschen viel lernen und den eigenen Horizont erweitern kann. Unsere moderne Gesellschaft unterscheidet sich von älteren Generationen vor allem darin, dass wir sehr individualistisch geprägt sind und uns dadurch weniger intensiv mit Menschen aus unserem Umfeld auseinandersetzen. Dies birgt neben einigen Vorteilen vor allem viele Nachteile. Der enge Kontakt mit Menschen anderer Kulturen und Generationen hingegen formt die eigene Persönlichkeit. Es trägt zu einer besseren Menschenkenntnis bei und erweitert die sozialen Kompetenzen. Zudem macht es sich ganz gut im Lebenslauf, wenn der Arbeitgeber das Programm „Wohnen für Hilfe“ liest.

Rabe: Ich danke dir für das Gespräch.

Das Projekt „Wohnen für Hilfe” gibt es in 35 bundesdeutschen Städten und Landkreisen. Kommunen, Seniorenbeiräte und Studentenwerke sind daran beteiligt, jungen Leuten Wohnraum zu vermitteln, für den anstelle von Mietzahlungen Hilfe z. B. für ältere Menschen geleistet wird, die ihrerseits den Wohnraum zur Verfügung stellen. In der Regel gilt: Pro Quadratmeter Wohnraum eine Stunde Hilfeleistung wöchentlich. Weitere Infos z. B. unter www.wohnenfuerhilfe.info.