Gottes Menschenwort

Von Eckart Reinmuth

 

Unterscheiden können

Im wohl ältesten Text des Neuen Testaments schreibt Paulus seinen Adressaten, dass sie seine mündliche Verkündigung nicht als Wort menschlicher Erfindung empfangen, sondern es als Gotteswort angenommen hätten (1Thess 2,13). Mit dieser Unterscheidung setzt sich der reisende Missionar von der konkurrierenden Praxis öffentlich agierender Philosophen und Lehrer ab. Er versteht seine Predigt nicht als „Menschenwort“ in dem Sinne, dass sie vielleicht aufgrund ihrer ausgefeilten Rhetorik überzeugt hätte. Warum überhaupt diese Unterscheidung? Ihr geht es nicht um eine gleichsam gegenständliche Unterscheidbarkeit von Gottes- oder Menschenwort – dann wäre der Differenzierungsversuch des Paulus überflüssig. Es geht vielmehr darum, angesichts der offenkundigen Möglichkeit, Gottes- und Menschenwort zu verwechseln, die eindeutige Urheberschaft dessen, was Paulus den Adressaten gesagt hatte, hervorzuheben. Das Neue Testament lässt von Beginn an erkennen, dass das Wort Gottes sich in mündlicher Kommunikation ereignet, und es kalkuliert die Möglichkeit ein, dass das Gottes- mit dem Menschenwort verwechselt werden kann.

Martin Luther hat vor 500 Jahren das Wort Gottes gleichsam neu entdeckt. Es ist nach seiner Auffassung in keinem anderen Wort als den Worten, die Menschen einander sagen. Es ist – in gleicher Weise, wie Gott Mensch wurde – menschliches Wort, sinnlich, stimmlich, lesbar und vor allem: ansprechend. Menschliche Kommunikation kennt keinen Sonderbereich eines „reinen“ Wortes Gottes.

Luther formulierte in einer Predigt zum ersten Petrusbrief, das Evangelium sei ein „Geschrei von der Gnad und Barmherzigkeit Gottes […] und ist eigentlich nicht das, was in Büchern steht und in Buchstaben verfasst wird, sondern mehr ein mündliche Predigt und lebendig Wort und ein Stimm, die da in die ganze Welt erschallt und öffentlich wird ausgeschrien, dass man’s überall hört.“1 In diesem Sinn ist das Gotteswort Anrede, die Antwort erwartet, Adressierung, zu der man sich verhält: Gott kommt unserem Reden als Anredender zuvor. Wir erfahren ihn als Anredenden, indem wir seine Anrede in unserem Reden identifizieren, als uns bestimmende Rede, als Unterbrechung, Einmischung, Trost, Urteil, Heilung identifizieren und begreifen. Erst so wird verständlich, in welcher Weise Luther die Bibel als Gottes Wort bezeichnen konnte.2

Schon für das frühe Christentum war das Wort Gottes mündliches Wort. Es knüpft damit an die prophetische Rede an, die einen sprechenden Gott voraussetzt (vgl. Ez 5,15 u.ö.), der Menschen zu Redenden macht, die sein Wort aussprechen (Am 3,8). Die Propheten werden zu Redenden, weil sie sich als Adressaten der sich an ihnen ereignenden Worte Gottes erleben. Das legitimiert sie dazu, sein Sprechen zu proklamieren. Als mündliches ist das Wort Gottes flüchtig und instabil. Es lässt sich nicht wie eine Formel verwenden, wohl aber erinnern und auch als Erinnertes tradieren. Daher rührt die rezeptionsgeschichtlich bedingte Tendenz, das Wort Gottes auf das erinnerte, konservierte, verschriftlichte Wort zu reduzieren. Aber mit der Tradition – das in ihr enthaltene tradere bedeutet sowohl „übergeben“ als auch „ausliefern“ – ist der Verrat verbunden, die Gefahr nämlich, das lebendige Wort Gottes nicht mehr als Wagnis zu begreifen, sondern es kodifizieren und sichern zu wollen. Die Texte des Neuen Testaments lassen uns ahnen, wie groß das Wagnis war, die Geschichte des Christus Jesus als die Geschichte des Gottes zu bezeugen, dessen Reden sich in den biblischen Schriften Israels vernehmen ließ.

Wenn der Evangelist Markus vom Wort (logos) spricht (vgl. z. B. Mk 2,2; 4,13-20; 8,32), meint er damit das mündliche Gotteswort. Er spricht wie Paulus vom „Evangelium“ nicht als einer Schriftform, sondern meint die mündliche Kommunikation der Geschichte Jesu Christi als der entscheidenden Verlautbarung Gottes (vgl. dazu die Verwendung des Begriffs „Evangelium“ Mk 1,1.14f.; 8,35; 10,29; 13,10; 14,9). Für das frühe Christentum ist das Wort Gottes mündliche Kommunikation, nicht schriftliche Form. Das gilt an vielen Stellen, sei es in den Paulusbriefen, im Hebräerbrief oder im Johannesevangelium, sogar für den Umgang mit dem schriftlich manifesten Reden Gottes in den biblischen Schriften Israels.


Verwundbar werden

Die Unterscheidung, die schon der erste Thessalonicherbrief trifft, enthält noch einen weiteren Aspekt. Paulus will seine Adressaten nicht entmündigen; ihm geht es um ihre Teilhabe am Evangelium (2,8). Sein Verdacht ist, dass gerade eine überwältigende Rhetorik zur Entmündigung führt. Er weist die Adressaten demgegenüber auf demütigende Leid- und Verfolgungserfahrungen hin, an denen sich ihre Erwählung, die sich dem Vorlauf des sie anredenden Wortes verdankt, unmissverständlich zeige. Paulus tritt unter ihnen als Misshandelter auf (2,2) und findet gerade so Gehör (vgl. 1Kor 2,3-5; 2Kor 10,10).

Das Wort Gottes wird gern als Machtwort erwartet. Es fällt dann schwer, es in seiner augenscheinlichen Machtlosigkeit wahrzunehmen. Im Galaterbrief erinnert Paulus auf berührende Weise an sein erstes Auftreten mit der Christusbotschaft (Gal 4,13f.): Ihr wisst doch, dass ich euch zuvor in Schwachheit des Leibes das Evangelium gepredigt habe. Und obwohl meine leibliche Schwäche euch eine Anfechtung war, habt ihr mich nicht verachtet oder vor mir ausgespuckt, sondern mich wie einen Engel Gottes aufgenommen, ja wie Christus Jesus. (Luther 2017) Sieht man den Text in seiner griechischen Fassung an, so zeigt sich, dass die körperliche Kraftlosigkeit, von der Paulus spricht, geradezu der Modus seiner Verkündigung war – „durch sie“ hat er bei seinem mündlichen Auftreten gesprochen (Gal 4,13). Genau darin bestand die Herausforderung („Anfechtung“ Gal 4,14) für die Adressaten: Erwartbar wäre gewesen, dass sie einen solchen Redner, der nichts hermacht, verachtet und sogar angespuckt hätten. Stattdessen nahmen sie ihn an (vgl. dazu Röm 14,3; 15,7), als ob er ein Bote Gottes, ja Christus Jesus selber wäre. Paulus macht auf diese Weise den Adressaten seines Briefes deutlich, dass sie sein augenscheinlich verachtenswertes Auftreten als authentische Gestalt des Wortes Gottes erfahren durften. Für Paulus wurzelt das Wort Gottes in seiner todüberwindenden Schöpferkraft. Das bewirkende Wort ist immer auch das gefährdete Wort. Es kann ungehört bleiben, zurückgewiesen werden, seine Adressaten verfehlen, kein Vertrauen finden. Es liefert sich aus, kann beleidigt, verhöhnt, verwundet werden. Es kann zurückgewiesen, unter Strafe gestellt, verboten, unhörbar gemacht werden.

Darum gehört es mit Kreuz, Schande, Verlust und Versagen zusammen. Darum stößt es auf Widerrede, Verächtlichmachung, Unverständnis und Häme (vgl. z. B. Hebr 12,3). Seine Gestalt ist angefochten, ungeschützt, anstößig. Sie entspricht dem Zug Gottes in die Tiefe. Es gibt keine himmlische Garantie, keine offenbarungsbegründete Metakommunikation, die dem nur-Menschlichen dieser Rezeption entzogen wäre.


Sprechen lernen

Wovon reden wir, wenn wir die Wendung „Wort Gottes“ im Munde führen? Dem Wort Gottes geht es wie anderen biblischen Metaphern, z. B. dem „Sohn Gottes“. Sie wurden zu Begriffen transzendenter Wirklichkeit. Eine sich auf Plato berufende philosophische Tradition vermeint die Reinform des Logos jenseits seiner Materialität zu finden. Das, was kommuniziert wird, bedarf als eigentlich reiner Geist nur notgedrungen seiner körperlichen Kommunikationsmittel. Je reiner, gesäuberter von aller irdischen Störung der Begriff, desto klarer die letztlich metaphysisch gedachte Wahrheit. Oft wird im Gefolge solcher Entwicklungen einem transzendent verstandenen Gotteswort menschliche Rede gegenübergestellt und in einen nur schwer zu überwindenden Gegensatz gebracht. Auch das hat seine biblischen Wurzeln, ist aber kaum in dem Sinne zu verstehen, als vermittle sich Gottes Reden nicht im Menschenwort. Rudolf Bultmann hatte – damals bahnbrechend – festgestellt, dass im Neuen Testament „der Begriff des Wortes Gottes […] so gut wie ausschließlich dadurch charakterisiert“ ist, „dass es in menschlicher Rede an den Menschen ergeht.“3 In dieser Perspektive klingt die oft gebrauchte Formulierung plausibel: „Gottes Wort im Menschenwort“. Und dennoch – meinen wir wirklich, dass wir Gottes Wort als eigene Größe irgendwie destillieren und objektivieren könnten?

Verstehen wir die Wendung „Wort Gottes“ als Metapher, so ist auch der verwendete Singular zu beachten. Er zielt auf die Einheitlichkeit und Widerspruchsfreiheit des Gotteswortes ab. Darin bildet sich ein Sicherungsbedarf, gar ein Festschreibungsprozess ab, der aus „den Worten“, also dem als vielfältig verstandenen Reden Gottes, „das Wort“ als eine ontisch verstandene theologische Größe werden ließ.4 Metaphern beziehen sich auf die Erfahrbarkeit dessen, was nur metaphorisch kommuniziert werden kann. Deshalb bleibt ihnen jeder Versuch, das Gemeinte begrifflich abstrahieren zu wollen, fremd.

Unter den Motiven, die mit dem begrifflichen Gebrauch dieser Metapher verbunden sind, steht von Beginn an die Autorisierung und Autoritätssicherung, der Machtanspruch an erster Stelle. Wird in einer theologisch nicht zu rechtfertigenden Weise Gottes- und Menschenwort voneinander getrennt, liegt ein biblizistisches Missverständnis nahe. Das bedeutet, das Wort Gottes mit dem Bibeltext zu identifizieren und diesem eine Autorität zuzuschreiben, die zu unmenschlichen Konsequenzen führt. Es bedeutet, dem Bibeltext um jeden Preis in letzter Instanz Recht zu geben. Oft geht es jedoch darum, der eigenen Position Recht zu geben, indem sie biblisch autorisiert wird.


Mensch werden

Das Wort Gottes, von dem wir reden können, ist nicht das Wort irgendeines Gottes. Es ist das Wort des Gottes Israels und aller Welt, der den Menschen in der Geschichte Jesu Christi ungeschuldet und bedingungslos nahe gekommen ist. Wenn Menschen seine Geschichte als die Geschichte dieses Gottes begreifen, schließen sie sich der lebendigen Tradition an, die das Reden und Handeln Jesu als Gottes schöpferisches Wort versteht. Wie die Praxis Jesu sich darauf verstand, Gott beim Wort zu nehmen, gilt das auch für diejenigen, die dieser Geschichte vertrauen und sie zu ihrer Geschichte werden lassen. Deshalb ist christliche Rede vom Wort Gottes unverwechselbar durch die Geschichte Jesu Christi bestimmt.

In der bei Matthäus und Lukas erzählten Versuchungsepisode nimmt auch der Versucher Gott beim Wort. Er zitiert ihn jedoch lediglich mit einem formalen Autoritätsanspruch. Auf der Ebene der Bibelzitate bleibt die Geschichte unentschieden: Argument steht gegen Argument, Zitat gegen Zitat. Die drei Entscheidungen Jesu, die den Versucher schließlich kapitulieren lassen, werden als Handlungen nicht einmal ausdrücklich erzählt, sondern durch die Zitate im Mund Jesu lediglich kommentiert. Hier, in der Gehorsamsverweigerung Jesu, realisiert sich das Gesagte, hier wird das Gotteswort unumkehrbar konkret. Es bleibt inhaltlich bestimmt durch die Geschichte Jesu Christi.5 Diese inhaltliche Bindung gilt für alle neutestamentlichen Schriften und damit für das christliche Verständnis des Wortes Gottes.

Exemplarisch betont das Johannesevangelium diese inhaltliche Bestimmtheit des Wortes Gottes. Sagt Joh 1,14 eindringlich, dass das Wort Gottes Fleisch, also wirklicher Mensch geworden ist, so unterstreichen andere Stellen, dass man Jesu Eltern und Brüder kennt (vgl. 1,45; 2,3; 6,42; 7,10 u.ö.): Dieser ganz und gar irdische Mensch soll Gott seinen Vater nennen dürfen? Dieser Anspruch muss als Lästerung Gottes zurückgewiesen werden (vgl. 5,18; 10,33) – und eben dieser Anspruch wird durch die erzählerische Gestaltung des Johannesevangeliums fortlaufend bestätigt.

Er ist mein Vater, sagt Jesus – und genau diese Behauptung führt zum Protest, weil man seine Herkunft kennt (vgl. 7,27). Die Antwort, die Jesus in 7,28 auf die in V. 27 geäußerte Empörung gibt, zeigt die entscheidende Richtung johanneischen Denkens: Ihr kennt mich und wisst, woher ich bin. Aber nicht von mir selbst aus bin ich gekommen, sondern es ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt. Jesus bestreitet also nicht seine irdische Herkunft, spricht aber zugleich von seiner himmlischen Abkunft. Das bedeutet: Diese himmlische Abkunft realisiert sich in der irdischen – das bleibende Ärgernis der irdischen Niedrigkeit des Mensch Gewordenen eingeschlossen. Das entspricht dem Denkmodell der Inkarnation, wie sie im Prolog formuliert wird. Die Skeptiker im Johannesevangelium haben also recht, soweit sie auf die irdische, jüdische Abstammung Jesu hinweisen – aber dieser Jesus bleibt ihnen als der Christus Gottes unbekannt, weil sie den Gedanken ablehnen, dass Gott sich in diesem Menschen zeigt. So, in dieser menschlichen Weise, ist er jedoch das Wort Gottes, wie der Prolog zu verstehen gibt (vgl. auch 1 Joh 1,1-4). In gleicher Weise werden die Menschen, die dieses Wort „aufnehmen“ (Joh 1,11), zu „Kindern Gottes“ (1,12) – sie werden zu Geschöpfen dieses Wortes (vgl. auch 2Kor 5,17; Gal 6,15; Eph 2,15).

Die biblische Überzeugung, dass Menschsein sich handelnd bestimmt,6 wird damit aufgenommen; sie ist hochaktuell: Wir sprechen handelnd, wir sprechen nicht unkörperlich, wir sprechen handelnd als Körper. Martin Luther hat in seiner Römerbrief-Vorlesung von 1515/16 eine denkwürdige Formulierung getroffen: quia verbum caro factum est ut nos verbum efficiamur – darum ist das Wort Fleisch geworden, damit wir zum Wort würden.

Er bringt damit auf den Punkt, wohin die biblische und christliche Metapher des Wortes Gottes zielt. Sie zielt auf das menschgewordene Wort Gottes, das uns selber zu diesem Wort werden lässt. Sie zielt darauf, Gott beim Wort zu nehmen, sich von ihm anreden und verändern zu lassen, ihm bis ins Sterben zu trauen und sich auf eine Lebensbeziehung mit diesem Wort einzulassen, die Menschen hören und reden lässt.

 

Anmerkungen

  1. WA 12, 259.
  2. Vgl. dazu Beutel, Albrecht, Erfahrene Bibel. Verständnis und Gebrauch des verbum dei scriptum bei Luther, in: ders., Pro-testantische Konkretionen. Studien zur Kirchengeschichte, Tübingen 1998, 66-103, 71: „Die Bibel ist Gottes Wort: Beides gehört unauflöslich zusammen, begegnet sehr oft als ein Hendiadyoin und wird nicht selten synonym gebraucht. Daraus resultiert nun allerdings die terminologische Schwierigkeit, dass sich nicht immer eindeutig entscheiden lässt, ob Luther mit ‚Wort Gottes’ das biblische Buch, die biblische Lehre, die biblische Mitte, die biblische Predigt oder die äußere und innere Erfahrung der biblischen Wahrheit bezeichnet.“ Beutel verweist anschließend (73f.) auf die wesentliche Mündlichkeit des Evangeliums bei Luther und stellt fest: „Die Kategorie der Mündlichkeit ist für Luthers Verständnis des Evangeliums schlechthin konstitutiv. Nur in mündlicher Gestalt vermag das Evangelium im strengen Sinn als Wort Gottes laut zu werden..“ (74).
  3. Bultmann, Rudolf, Der Begriff des Wortes Gottes im Neuen Testament, GV 1, Tübingen 1964, 268-293, 280.
  4. Vgl. Kelber, Werner H., Die Fleischwerdung des Wortes in der Körperlichkeit des Textes, in: Gumbrecht, H.-U., Pfeiffer, K. L. (Hg.): Materialität der Kommunikation, stw 750, Frankfurt a.M. 1988, 31-42.
  5. Für das Matthäusevangelium vgl. Reinmuth, Eckart: Subjekt werden. Zur Konstruktion narrativer Identität bei Paulus, Jo-hannes und Matthäus, in: ders., Neues Testament, Theologie und Gesellschaft. Hermeneutische und diskurstheoretische Reflexionen, Stuttgart 2012, 331-358, 352ff.
  6. Reinmuth, Eckart, Anthropologie im Neuen Testament, UTB 2768, Tübingen 2006, 155ff. u.ö.