Psychogene Essstörungen auf dem Weg ins Erwachsenwerden

Von Sylvia Baeck

 

Binge-Eating-Disorder, Magersucht und Bulimie sind psychogene Essstörungen mit Suchtcharakter. Sie treten häufig in Übergangsphasen des Lebens auf, so auch in der Pubertät. Mehr weibliche als männliche Jugendliche sind davon betroffen. Warum das so ist, ist nicht eindeutig zu erklären. Es heißt, Mädchen entwickeln eher sozial unauffällige Suchtverhalten, während Jungen eher zu Alkohol oder Drogen greifen. Auch die Wichtigkeit des Aussehens und des Körperbildes mag eine Rolle spielen. Zunehmend ist dies auch bei Jungen der Fall. Die Sucht nach Muskeln (Biggerexie) und eine häufig damit verbundene Einnahme von leistungssteigernden Medikamenten machen zunehmend Probleme.

In der Pubertät stellen sich Frage nach der Identität besonders deutlich: Wer bin ich, wer möchte ich sein, wer möchte mich wie haben, was will ich und was erwarten andere von mir, was gefällt mir, wie kleide ich mich, wie schaffe ich es, jemanden zu gefallen? Erwachsene Vorbilder, die Gleichaltrigengruppe, aber auch Modediktate und die Medien sind richtungsweisend.

Anhand der folgenden drei Fallbeispiele wird die Funktion der psychogenen Essstörung deutlich. Die Beschäftigung mit den Themen Essen, Nahrung und dem Körper wird wichtiger als alles andere. Sie bestimmt das Denken und Handeln und vermittelt ein Gefühl von Kontrolle und Macht. Zudem bringt sie Aufmerksamkeit und hält andere Probleme, wie zum Beispiel die Ablösung vom Elternhaus und die eventuell damit verbundene Enttäuschung, die bei Eltern ausgelöst wird, oder bedrohliche Gefühle wie Trauer oder Wut in Schach. Zu essen bzw. zu hungern statt zu fühlen, scheint hilfreich zu sein.


Die Nette

Nein die kleine nette Dicke will ich nicht mehr sein. Ich habe genug davon, gehänselt zu werden. Ich will endlich dazu gehören und nicht mehr mitleidig belächelt werden. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Eigentlich weiß ich doch wie es geht. Ich müsste mich einfach beherrschen. Dann ein wenig Sport und die Pfunde würden purzeln. Warum schaffe ich das nicht? Ich kämpfe jeden Tag. Ewig neue Pläne: keine Süßigkeiten mehr, kein Fett, nach 18 Uhr nichts mehr essen … Für einige Tage geht das gut, doch irgendwann kommt der Punkt, da geht nichts mehr. Ich schlinge alles in mich rein und ärgere mich danach fürchterlich. Ich habe das mal beobachtet: Meistens passiert mir das ,wenn ich Langeweile habe oder traurig bin. Ganz schlimm ist es, wenn ich Stress mit meinen Freundinnen habe oder Ärger mit meinen Eltern. Dann ziehe ich mich zurück und esse.

Ich versuche immer nett zu sein und möglichst wenig aufzufallen. Am liebsten würde ich es allen recht machen. Dann würden mich alle mögen. Ich bin freundlich, aber auch dick. Meine Eltern sind damit unzufrieden. Ich könnte doch ein wenig abnehmen, meint meine Mutter. Ich soll langsamer essen und nicht so viel naschen. Dabei weiß sie gar nicht, wieviel ich wirklich nasche. Heimlich kaufe ich mir von meinem Taschengeld Süßigkeiten. Mein Vater versucht, mich zum Joggen zu überreden. Doch ich schäme mich für meine Figur und erfinde immer wieder Ausreden.

Jetzt bin ich 15 Jahre. Seit ich denken kann, bin ich ein Pummelchen. Seit dem 13. Lebensjahr ist es richtig schlimm geworden. Meine beste Freundin ist weit weg gezogen, und ich fühle mich sehr allein. Ich hab mich oft mit dem Essen getröstet.

Viele meiner Mitschülerinnen haben schon einen Freund. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich ein Junge für mich interessiert. Wenn ich allein bin, bin ich oft sehr traurig. –

Binge-Eating-Disorder (BED) gibt es auch bei Jugendlichen. Die Kriterien dafür sind: heimliches, meist schlingendes Essen von großen Portionen, Schuldgefühle nach dem Essen, depressive Verstimmungen (auch wegen der Figur), das Gefühl, das Essen nicht kontrollieren zu können. Das Essen dient der Stimmungsregulierung. Bewegungsvermeidung.


Die Unnahbare

Ich bin ehrgeizig. Mir gelingt fast alles. Obwohl ich nie recht zufrieden bin, ich könnte noch besser sein. Viele bewundern mich, wie ich das alles so schaffe: Schule, Klavierunterricht, Ballett … mein Terminkalender ist gut gefüllt. Vor einigen Monaten hatte ich einen Magen/Darminfekt und konnte nichts bei mir behalten. So habe ich schnell einige Kilos abgenommen. Irgendwie hat mir das gefallen, obwohl alle sagten, dass ich immer eine tollte Figur hatte. Meine Mutter redete auf mich ein, ich solle doch wenigstens frühstücken. Sie kochte meine Lieblingsgerichte und bemühte sich, aber mir war mein Appetit abhanden gekommen. Dafür habe ich dieses wunderbare Gefühl von Kontrolle.

Ach, es ist so gut, dieses Hungern. Ich kann mich beherrschen. Ich brauche nichts. Diese gierigen Menschen um mich, die immer essen müssen. Wenn ich schon meinen Vater essen sehe … es ist ekelig. Ich denke immer an das Essen, vor allem wie ich Wege finde, es zu vermeiden.

Meine beste Freundin ist magersüchtig, sie hat mich schon angesprochen, ob ich etwa auch damit zu tun habe. Aber ich finde das überhaupt nicht. Ich bin ja schließlich noch viel dicker als sie, und ich habe keine Diät gemacht wie sie. Sie hat erst ganz gesund gegessen und ohne Fleisch, dann immer weniger. Irgendwann ist sie einfach mal umgefallen. Sie musste ins Krankenhaus. Geheilt ist sie aber trotz Krankenhaus und Psychotherapie noch nicht, sie hat immer noch Angst vor dem Zunehmen.

Das habe ich auch, noch mehr Angst habe ich davor, die Kontrolle zu verlieren. Meine Regel ist schon ausgeblieben, aber das stört mich nicht. Meine Eltern machen immer mehr Druck, dass ich wenigstens mal zum Arzt gehen soll. Verstehe ich nicht, ich fühle mich doch super. Ich schaffe alles. Manchmal kann ich schlecht schlafen oder mir ist ein wenig schwindelig. Aber das haben alle mal. Deswegen ist man doch nicht magersüchtig. Die Streitereien mit meinen Eltern gehen mir auf die Nerven. Sie sollen mich einfach in Ruhe lassen. Mein Vater interessiert sich nur für meine Zensuren und ist eher zu beruhigen. Meine Mutter dagegen versucht mich ständig zu beobachten und zum Essen zu überreden.

Ich bin jetzt 16 Jahre, Jungs interessieren mich im Gegensatz zu meinen Schulfreundinnen überhaupt nicht. Auch viele meiner Freundinnen sind mir einfach zu oberflächlich. Ich kann mit ihnen nicht mehr viel anfangen. –

Anorexia Nervosa oder Magersucht geht mit fehlender Krankheitseinsicht, einem starken Gewichtsverlust innerhalb kurzer Zeit (ca. 20 Prozent), einer gestörten Körperwahrnehmung für den eigenen Körper (sich – egal wie dünn er ist – immer dick zu fühlen …), erhöhtem Bewegungsdrang, Perfektionismus und extremer Angst vor Gewichtszunahme einher. Die körperlichen Folgen einer permanenten Unterernährung werden nach und nach deutlich: Der Hormonhaushalt gerät durcheinander, Kreislaufprobleme, Konzentrationsstörungen sind nur einige Folgen.


Die Chaotin

Ich finde alles zum Kotzen. Mein wohlgehütetes Geheimnis. Jede Nacht zelebriere ich meine Essanfälle. Das ist ein teures Vergnügen. Und wenn ich alles wieder erbreche, ist das für mich eine Erlösung. Inzwischen geht das fast von allein. Was würden wohl die anderen denken, wenn sie wüssten, dass meine Superfigur das Ergebnis dieser selbstzerstörerischen Anfälle ist? Ich kann das nicht mehr kontrollieren. Die Bulimie hat sich eingeschlichen, zuerst als Freundin, die mir alles so einfach machte: Ich konnte essen, was ich wollte, und wurde nicht dicker. Anspannung – Entspannung. Ich dachte, ich könnte damit aufhören, wenn ich mit meinem Gewicht zufrieden bin. Aber die Rechnung ging nicht auf. Die Bulimie bestimmt mein Leben. Niemand sieht mir an, wie es mir wirklich geht. Ich gehe zur Uni, sehe immer perfekt aus. Meine Stimmungsschwankungen bekommen nur wenige mit, meine Freundschaften sind meist oberflächlich; es soll niemand merken, was mit mir los ist. Ich bin jetzt 19 Jahre alt und quäle mich seit drei Jahren. Ich brauche Hilfe. –

Die Bulimie als heimlichste Essstörung ist schwer für Außenstehende zu erkennen. Sie ist verbunden mit häufig ritualisierten Essanfällen und dem danach Ungeschehenmachen über Erbrechen, exzessiven Sport, Abführmittelmissbrauch. Schamgefühle und ein ausgeprägtes Fassadenverhalten gehören ebenso dazu wie soziale Folgen (z.B. Verschuldung).

Alle Essstörungen sind selbstschädigend und zeugen von Kriegszuständen mit dem eigenen Körper und der Seele. Sie führen zu Beziehungsstörungen und sozialem Rückzug. Sie entstehen auf dem Hintergrund eines seelischen Konfliktes. Daher ist die Behandlung die Psychotherapie. Eine medizinische Begleitung ist unumgänglich.