Der Zeiger an der Weltenuhr - Apokalyptik in Kirchen und Gemeinschaften der Neuzeit – Ein Überblick

von Hansjörg Hemminger

 

Die Welt ging schon oft unter

Ab 1826 predigte in England der anglikanische Geistliche Edward Irving (1792-1834) die baldige Wiederkehr Christi. Um ihn entstand eine Anhängerschaft, die „Irvingianer“. Durch Propheten wurden zwölf Apostel gewählt, zu deren Lebzeiten Christus wiederkehren sollte. 1836 wurden die „geistlichen und weltlichen Häupter der Christenheit“ aufgefordert, sich in der angebrochenen Endzeit der Führung dieser Apostel zu unterstellen – mit dem vorhersehbaren, nämlich keinem, Ergebnis. 1855 starben drei der zwölf Apostel, die Erwartung der „katholisch-apostolischen Bewegung“ war gescheitert. Über viele Spaltungen und Lehränderungen ging daraus die Neuapostolische Kirche hervor, die heute mit rund 400.000 Mitgliedern nach den beiden großen Kirchen die größte christliche Gemeinschaft in Deutschland ist.

Die „Second Adventists“ in den USA glaubten, dass Jesus Christus 1874 sichtbar wiederkommen und die 6000 Jahre währende Menschheitsgeschichte beenden würde. Als dieses Datum verstrich, behauptete Nelson H. Barbour, Jesus Christus sei 1874 unsichtbar wiedergekommen. Mit Charles Taze Russell verkündigte er nun, erst 1914 werde das Königreich Gottes sichtbar kommen. Letzterer wurde zum Gründer der Zeugen Jehovas, die sich zuerst „ernste Bibelforscher“ nannten. 1914 deuteten die Bibelforscher den Ausbruch des Ersten Weltkriegs als Erfüllung ihrer Prophezeiung. Doch die Wiederkunft Jesu blieb aus. Die Geschichte wiederholte sich, der neue Präsident Joseph Rutherford lehrte, dass die Herrschaft Christi 1914 unsichtbar im Himmel begonnen habe. Bis heute erwarten Jehovas Zeugen, die in Deutschland rund 250.000 Mitglieder haben, dass die Endzeitschlacht „Armageddon“ bald alle Menschen außer den Zeugen vernichten wird.

1914 wurde Oskar Ernst Bernhardt, ein beruflich gescheiterter deutscher Kaufmann, in England vom Ersten Weltkrieg überrascht. Während der Internierung beschäftigte er sich mit religiösen Fragen. Unter dem Namen Abd-ru-shin (arab.-pers. für „Diener-des-Lichts“) verkündigte er später, er sei der verheißene „Lichtträger“, der „Gralskönig“, der „Besieger Luzifers“ und der „Geist der Wahrheit“. Er habe der Welt die „Gralsbotschaft“ zu verkündigen und das Werk Jesu, an dem dieser gescheitert sei, zu vollenden. Das Ende der Welt sei nahe, aber es bedeute kein Vergehen, sondern eine Reinigung. In absehbarer Zeit werde dadurch ein „neues Geschlecht“ erstehen. Um ihn und seine Familie bildete sich die esoterisch ausgerichtete „Internationale Gralsbewegung“, die bis heute existiert.

In Fátima (Portugal) soll 1917 drei Kindern die Jungfrau Maria erschienen sein. Die Erscheinungen gipfelten in einem Wunder: Die Sonne drehte sich wie ein feuriges Rad und konnte ohne Schaden betrachtet werden. Jahrzehnte später wurden die „drei Geheimnisse Fatimas“ aufgeschrieben. Der Inhalt ist apokalyptisch in dem eingeschränkten Sinn, dass Maria schreckliche Strafen Gottes für die unbußfertige Welt ankündigt, nicht aber das endgültige Weltgericht. Einem ähnlichen Muster folgen andere katholische Privatoffenbarungen. Derzeit wird „Die Warnung Gottes“ einer Marienseherin offensiv über das Internet verbreitet.

Das protestantisch-fundamentalistische Missionswerk „Mitternachtsruf“ mit Sitz in der Schweiz sagte das angeblich in den apokalyptischen Schriften der Bibel beschriebene Weltende mehrfach für Daten zwischen 1968 und 1990 voraus. Das Werk wurde 1956 von Wim Malgo (1922-1992) gegründet, der sich bei seinen Endzeitberechnungen vor allem an der modernen Geschichte Israels orientierte. Israel war für ihn „der Zeiger an der Weltenuhr“. Das mehrfache Scheitern beirrte das Werk nicht. Bis heute werden aktuelle, politische Ereignisse als Zeichen der Endzeit gedeutet.

Am 21. Dezember 2012 endete ein Zyklus (der 13. Baktun) im Langzeit-Kalender der mittelamerikanischen Maya-Kultur, aber nicht die Zählung als ganze. Für die Maya war der Weltenlauf ein Zyklus aus Zerstörung und Neubeginn, wie für fast alle antiken Kulturen außerhalb der biblischen Tradition. Westliche Esoteriker machten daraus ein apokalyptisches Datum: Der Planet Nibiru werde mit der Erde kollidieren. Es blieb großenteils bei einem Medienereignis, obwohl Ende 2012 zehntausende Touristen zu den Ruinen der Maya-Tempel strömten, und viele Esoteriker sich im südfranzösischen Bugarach sammelten, das angeblich Zuflucht vor dem Weltende bot.



Was ist Apokalyptik?

Unnötig zu sagen, dass sich die obigen Beispiele nahezu beliebig vermehren ließen. Apokalypsen dienen „auch und gerade unter den Bedingungen der Moderne zur Auslegung von Spannungs- und Krisenerfahrungen“. (Nagel 2007, 261). Historiker zählten aus Anlass des Nicht-Untergangs 2012 die dokumentierten Fälle zusammen und kamen zu dem Ergebnis, dass seit dem Ende des Römischen Reiches (476 n. Chr.) 183 mal das Weltende erwartet worden sei. Im Judentum und im Islam gibt es dazu Entsprechungen, da diese im unterschiedlichen Ausmaß an der biblischen Eschatologie teilhaben, in anderen Kulturen und Religionen jedoch nicht. [1] Auch die moderne, esoterische Apokalyptik ist als eine säkularisierte Form der christlichen zu betrachten. In anderer Weise säkular ist allerdings auch der Umgang der erwähnten Sondergruppen mit der biblischen Eschatologie, ebenso wie jener der wissenschaftlichen Theologie. Dazu unten mehr. Die Merkmale der von der neuzeitlichen Säkularität geprägten Bewegungen lassen sich in Grundzügen so beschreiben:

  • Die Weltgeschichte verläuft zwischen einem Beginn (Schöpfung) und einem Ziel (Transformation, Reinigung, Neuschöpfung). Die Geschichte wird vom Ende her gelesen, ihr Sinn erschließt sich vom Ziel her.
  • Die Weltgeschichte ist eingebettet in eine unsichtbare Wirklichkeit und nur von daher verstehbar. Bibelforscher und Visionäre decken deren verborgene Bedeutung einschließlich eines Zeitplans für die Geschichte auf.
  • Am Ende wird die unsichtbare Welt für alle Menschen sichtbar. Ihre Bedeutung wird enthüllt. Gut und Böse werden geschieden, alle Zwischentöne verschwinden. (Apokalypse bedeutet „Enthüllung“, „Entschleierung“.)
  • Das Weltende ist als Äonenwechsel, als göttliches Endgericht, als Erneuerung oder Neuschöpfung zu verstehen. Daher kann sowohl die Drohung mit der Vernichtung als auch die Hoffnung auf Erneuerung im Mittelpunkt stehen.
  • Bei exklusiven Gruppen wird die Hoffnung auf Erlösung den Mitgliedern zugesagt, die Drohung gilt den Außenstehenden. Die Gemeinschaft dient als „Rettungsarche“ und hilft zur Abwehr von Lebensängsten. Ihre Leiter erhalten Macht über die Anhängerschaft.
  • In der biblischen Tradition stehende Bewegungen konzentrieren sich auf die Wiederkunft Jesu als Teil der christlichen Soteriologie. Dazu gehört oft die Proklamation einer endzeitlichen Sammlung der Gläubigen, einer Wiederherstellung der wahren Kirche.
  • In den biblizistischen und fundamentalistischen Bewegungen (Adventismus, Darbysmus, teilweise auch Pietismus) ist die Bibel die prophetische Quelle, die den Weltenfahrplan enthüllt. Sie wird nicht durch besondere Berufung, sondern durch „ernste Bibelforschung“ (siehe Charles Taze Russell) enträtselt.



Die Bibel und die Bibeldeuter

Apokalyptische Bewegungen werden durch historische Vorgänge angestoßen, so zum Beispiel die eingangs erwähnte katholisch-apostolische Bewegung durch die gesellschaftlichen Umwälzungen der Industrialisierung in England. Ebenso werden historische Ereignisse im Rahmen des apokalyptischen „Fahrplans“ gedeutet. So erklärte der „Mitternachtsruf“ den Jom-Kippur-Krieg von 1973 zur gottgewollten Erweiterung der Grenzen Israels und Vorbereitung auf die Endzeitschlacht um Jerusalem (Gog und Magog nach Offenbarung 20,8). Oft – wenn auch nicht immer – liefert ein Dispensationalismus die Struktur der Geschichtstheorie. Das bedeutet, dass die Heilsgeschichte als Abfolge von „Haushaltungen“ oder Epochen verstanden wird. Jede Epoche kommt durch das Versagen des Menschen an ihr Ende, während ein Rest treu bleibt. Am Schluss steht das Millennium, die tausendjährige Herrschaft Jesu Christi nach Offenbarung 20,1-10. [2] Ihm geht eine Zeit der Drangsal oder der großen Trübsal voraus, in der ein Antichrist die Herrschaft gewinnt. Man beruft sich dabei auf die Endzeitreden Jesu im Matthäus- und Markusevangelium. Der „treue Rest“ der Gläubigen wird je nach Auslegung vor, während oder nach der großen Drangsal, auf jeden Fall aber vor dem Millennium, als „Brautgemeinde“ in den Himmel entrückt. Nach tausend Jahren folgt das Endgericht, in dem sich das doppelte Schicksal aller Menschen zwischen Rettung und Verdammung erfüllt. Auch das Verhältnis von Judentum und Christentum wird dispensationalistisch verstanden: Die Gemeinde Christi löst Israel als irdisches Volk Gottes ab. Die Verheißung für Israel bleibt jedoch insofern bestehen, als sich in der Endzeit die Juden zu Christus bekehren werden.

Konfessionsgeschichtlich wichtig ist der Unterschied zwischen Prämillenaristen und Postmillenaristen. Erstere glauben, dass Christus bereits nach der Trübsal und vor dem Millennium sichtbar wiederkehren wird, während letztere annehmen, Christus herrsche tausend Jahre lang im Geist und komme erst danach sichtbar wieder. Im Pietismus war ein Postmillenarismus weit verbreitet, meist jedoch ohne die Vorstellung einer großen Trübsal und Entrückung. Die Hoffnung, dass der Geist Gottes am Ende der Geschichte noch einmal mächtig wirken werde, überwog die Angst vor dem Untergang.

Im protestantischen Fundamentalismus setzte sich dagegen der Prämillenarismus durch, der auf John Nelson Darby (1800 bis 1882) und die Bewegung der Plymouth Brethren zurückgeht. Nach ihm werden die wahren Christen vor dem Millennium entrückt, und Christus herrscht über die laue und ungläubige Menschheit bis zum Weltgericht. Auch die Neuapostolische Kirche, deren Bibelverständnis nicht fundamentalistisch ist, vertritt diese Vorstellung. In den früheren apokalyptischen Bewegungen spielte sie dagegen kaum eine Rolle. Vor Darby wurde die große Trübsal eher als vergangen betrachtet und mit der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. verbunden, so auch von den Reformatoren. Man kann sich fragen, welche soziale und seelische Funktion die Idee einer Entrückung (englisch „rapture“) heute für die protestantisch-fundamentalistisch geprägten Christen in den USA erfüllt? Wie wichtig sie ist, zeigt der Erfolg der Romanserie „Left Behind“ von Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins zwischen 1995 und 2007. Sie schildert im Stil populärer Fantasy-Literatur die prämillenaristische Apokalyptik: Menschen verschwinden ohne Spur, die Zurückbleibenden werden zur Bekehrung aufgerufen. Die Drangsal (englisch „tribulation“) besteht aus allerlei Weltkatastrophen, und der Antichrist greift nach der Macht. Die 13 Romane mit Vor- und Nachfolgebänden (insgesamt 16) erreichten eine Auflage von ca. 65 Millionen Exemplaren, mehrere Titel standen auf Platz 1 der nationalen Bestseller-Listen. Inzwischen gibt es vier Verfilmungen von Einzelbänden und ein PC-Rollenspiel, sowie einige kick-off Serien. In Deutschland erschien eine Übersetzung, die aber wenig beachtet wurde, auch nicht in der evangelikalen Bewegung.



Ratlos vor der Apokalyptik

Seit der Aufklärung wurden apokalyptische Vorstellungen aus der Hauptkultur verbannt. In einem „wissenschaftlichen Weltbild“ gab es für sie keinen Raum mehr. Daran wirkte auch die Theologie mit. Ernst Troeltsch meinte Anfang des 20. Jahrhunderts: „Das eschatologische Bureau hat heute zumeist geschlossen.“ Man verstand die Eschatologie in verschiedener Weise als geschichtsimmanent bzw. präsentisch, und verwarf die geschichtstranszendente bzw. futurische Perspektive früherer Zeiten. Dies wurde theologisch zwar immer kritisiert (s. Böttigheimer u. a. 2013), aber aus der kirchlichen Verkündigung verschwand die Eschatologie weitgehend. Das gleichzeitige Wuchern der apokalyptischen Rand- und Sondergruppen ist zumindest teilweise darauf zurückzuführen. Denn durch ihre Ächtung gewann die Apokalyptik Protestpotential und wurde in Gemeinschaften zum Thema, denen an der Abgrenzung gegenüber Modernisierungsprozessen lag. Deshalb lesen Biblizisten die Texte der Bibel immer so, als seien sie für die eigene Zeit verfasst. Ginge es nach den Plymouth Brethren und dem „Mitternachtsruf“, wäre die Bildersprache der Johannesoffenbarung den Christen viele Jahrhunderte lang verschlossen gewesen, und wäre erst durch Wim Malgo oder John Darby entschlüsselt worden.

So temporär und rationalistisch kann die biblische Eschatologie unmöglich verstanden werden. Aber wie dann? Diese Frage wird in anderen Beiträgen verhandelt werden, hier sei lediglich darauf hingewiesen, dass es sich auch um ein seelsorgerliches Thema handelt. Denn für Christen erschließt sich ihre eigene Lebensgeschichte ebenso vom Ziel her wie die Weltgeschichte. „Die Welt ist wie ein Bild, auf Goldgrund gemalt; und wir sind die Figuren des Bildes. Solange du die Bildebene nicht verlässt … vermagst du das Gold nicht zu sehen.“ (C.S. Lewis 1954, 176). Warum, erklärt Kierkegaard (1923, 203):

„Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, dass das Leben rückwärts verstanden werden muss. Aber darüber vergisst man den andern Satz, dass vorwärts gelebt werden muss.“ Die Geschichte Gottes mit uns, die Geschichte Gottes mit der Welt, können nicht „vorwärts“ rational entschlüsselt werden. Man kommt, eingebettet in das zeitliche Dasein, nicht über die Sprache des Symbols und der Bilder hinaus. Deshalb muss die eigene Geschichte mit Gott immer neu erzählt werden, so wie sie sich im Vollzug entfaltet. Ebenso muss die biblische Apokalyptik immer wieder neu erzählt werden, so wie sich uns der Weltenlauf darstellt. Das widerstrebt dem neuzeitlichen Verlangen nach verlässlichem Wissen, mit dem man über sein Leben und die Welt verfügen will. Der biblizistische Bibeldeuter macht sich deshalb (scheinbar) Gottes Geheimnis zum Besitz, Glaube wird für ihn zum Wissen. Und manche Theologien lassen deshalb die Geschichte Gottes in der Geschichte aufgehen, die wir zu verstehen meinen. Das eine ist seelsorgerlich so unfruchtbar wie das andere. Das „Buch mit sieben Siegeln“ (Offenbarung 5,1-2) tun nicht wir auf, Gott sei Dank. Denn unsere Geschichte ist viel mehr, als wir uns vorstellen, die Weltgeschichte ebenso.



Anmerkungen

  1. Die „Götterdämmerung“ der nordischen Mythologie ist eine bemerkenswerte Ausnahme. Sie ist jedoch vermutlich unter dem Einfluss christlicher Vorstellungen entstanden.
  2. Die Fachbegriffe Millenarismus und Chiliasmus sind grob gleichbedeutend, werden manchmal aber unterschieden.



Literatur

  • Böttigheimer, Christoph / Dziewas, Ralf / Hailer, Martin (Hg.): Eschatologie in ökumenischer Verantwortung, Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 94, 2013
  • Gasper, Hans / Valentin, Friederike (Hg.): Endzeitfieber – Apokalyptiker, Untergangspropheten, Endzeitsekten, Freiburg i. Brsg. 1997
  • Kierkegaard, Sören: Die Tagebücher, Innsbruck 1923
  • Lewis, Clive S.: Über den Schmerz, München 1954
  • Nagel, Alexander-Kenneth: Siehe, ich mache alles neu?, in: Schipper, Bernd U. / Nagel, Alexander-Kenneth / Schipper, Bernd U. / Weymann, Ansgar (Hg.): Apokalypse – zur Soziologie und Geschichte religiöser Krisenrhetorik, Frankfurt/M. 2008
  • VELKD (Hg.): Handbuch religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen, Gütersloh 2006 (Neuausgabe im Druck 2015)
  • Schipper, Bernd U. / Plasger, Georg (Hg.): Apokalyptik und kein Ende?, Göttingen 2007