Im März 2009 ist die Konvention über die Rechte von   Menschen mit Behinderungen (BRK) in Deutschland in Kraft getreten. Die   Niedersächsische Landesregierung stellt sich der Aufgabe der Umsetzung   vor allem im schulischen Bereich. Die dem Art. 24 der BRK entsprechenden   schulgesetzlichen Regelungen werden gegenwärtig im Landtag beraten.      
 
 Bedeutsam ist dabei, die Voraussetzungen dafür zu schaffen,  dass die  Eltern eines Kindes mit einer Behinderung die Möglichkeit  erhalten, den  Lernort für ihr Kind zu wählen. Sie sollen zwischen  Allgemeiner Schule  und Förderschule im Sinne ihres Kindes wählen  können. Das Kindeswohl  muss über allen organisatorischen Überlegungen  stehen.  Eltern von Kindern mit Behinderungen sollen ab dem Schuljahr ab  1.  August 2013 in Niedersachsen frei wählen können, welche Schule ihr  Kind  besucht. Alle Regelschulen der Primarstufe und der Sekundarstufe 1   (Klasse 1 bis 10) sollen dann für Kinder mit sonderpädagogischem   Unterstützungsbedarf offen sein. Die Inklusion an allen   niedersächsischen Schulen soll aufsteigend ab der Klasse 1 bzw. Klasse 5   beginnen.  
 
 Freiwillig können Grundschulen nach dem  Gesetzesentwurf schon am 1.  August 2012 mit dem gemeinsamen Unterricht  von Kindern mit und ohne  Behinderung beginnen. Ab 1. August 2013 soll  es in jeder Kommune  mindestens eine inklusive Grundschule und eine  inklusive Schule im  Sekundarbereich I geben (sogenannte Schwerpunkt-  schulen).  
 
 Förderschulen bleiben bestehen – mit Ausnahme der  Klassen 1 bis 4  (Primarstufe) der Förderschule Lernen. An den  Förderschulen Lernen  sollen ab dem 1. August 2013 keine neuen 1.  Klassen mehr gebildet  werden. Der Gesetzesentwurf sichert somit den  Bestand der Förderschulen,  ausgenommen sind nur die ersten vier Klassen  der Förderschule für  Kinder mit dem Förderschwerpunkt Lernen. 
 
 Ab 1. August 2013 werden keine neuen Integrationsklassen mehr   eingerichtet, da dann grundsätzlich in allen Schulformen eine inklusive   Beschulung möglich ist. Die bestehenden Integrationsklassen können   fortgeführt werden, bis die Schüler die Schule abgeschlossen haben.  In  dem Gesetzesentwurf sind keine besonderen Regelungen für den   Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ vorgesehen. Die Existenz der   Förderschule mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ wird durch   den Gesetzesentwurf nicht infrage gestellt.  
 
 Sprachliche,  kulturelle und soziale Heterogenität ist inzwischen  Normalität geworden  in Niedersachsen. Sie stellt ein Potenzial dar, das  erfolgreiche  Schulen für die Qualitätsentwicklung nutzen. Sie gestalten  ein Modell  von Schule, das Verschiedenheit für die Gestaltung  pädagogischer  Prozesse und Ergebnisse nutzt. Dabei entwickelt jede  Schule in ihrer  Eigenverantwortlichkeit ihren ganz eigenen Weg. 
 
 Das Ziel der  Niedersächsischen Landesregierung ist es, den noch immer zu  engen  Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg zu  verringern und  jedem Kind, unabhängig von seiner sozialen, kulturellen  oder  sprachlichen Herkunft, eine erfolgreiche Bildungsbiographie zu   ermöglichen.  
 
 Die Förderschulen werden im Sinne des  Gesetzentwurfes  „Sonderpädagogisches Förderzentrum“ und sollen bei der  schulischen  Inklusion eine entscheidende Rolle einnehmen. Sie werden  als  Kompetenzzentren die Regelschulen beraten und unterstützen (§ 14  Abs.  3). Alle Regelschulen erhalten ab Schuljahr 2013/2014 eine   Grundversorgung an Förderschullehrerstunden für den Bereich Lernen (je   Klasse zwei Stunden pro Woche) und individuell eine gestaffelte   Zusatzversorgung mit Förderlehrerstunden, für jedes Kind mit   sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf (z.?B. drei Stunden pro Woche   im Bereich „Sehen und Hören“, fünf Stunden im Förderschwerpunkt   „Geistige Entwicklung“).
 
 Sönke von Stemm
Das schriftliche Interview im Wortlaut
Sie haben einen Gesetzentwurf zur Inklusion an niedersächsischen Schulen eingebracht. Was soll sich an den Schulen ändern?
Der Gesetzesentwurf begründet eine schrittweise Einführung der inklusiven Schule in Niedersachsen. Dies bedeutet, dass Schülerinnen und Schüler mit einer Behinderung einen barrierefreien und gleichberechtigten Zugang zu allen allgemeinen Schulen erhalten sollen. Sie haben auch die Möglichkeit, eine Förderschule zu besuchen.
Der Begriff Inklusion lässt sich sehr weit fassen. Welche Grundgedanken waren für Sie leitend?
Im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention bedeutet Inklusion, dass allen Menschen von Anfang an in allen gesellschaftlichen Bereichen eine selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe möglich ist. Inklusion ist ein Leitbegriff und eine Orientierung für die langfristige Ausgestaltung aller Schulen. Grundsatz ist, dass dem spezifischen Bedarf eines Kindes oder Jugendlichen bestmöglich entsprochen wird. Pädagogische Angebote sind im Sinne des Kindeswohls vorzuhalten! Inklusion heißt nicht, dass sämtliche Förderschulen aufgelöst werden.
Welche Unterstützung und welche finanzielle Ausstattung können die Schulen erwarten, um sich auf diesen Weg zur Inklusiven Schule zu machen?
Die Unterstützung der Schülerinnen und Schüler mit einem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung und deren Lehrkräfte in den allgemeinen Schulen wird geregelt werden, wenn die Novellierung des Schulgesetzes erfolgt ist. Die Schulen können erwarten, dass die für die einzelnen Förderschwerpunkte verfügbaren Ressourcen auch künftig in diesem Umfang vorgehalten werden. Der Gesetzentwurf sieht Mehrausgaben von 44 Millionen Euro bis 2018 vor.
Wäre nicht jetzt die Chance, den Inklusionsgedanken noch viel weitgehender in unserem Schulsystem zu verankern? Zeigt ein Blick insbesondere in die skandinavischen Länder nicht, wie erfolgreich dort inklusiv gearbeitet werden kann?
Jeder Staat und jedes Bundesland muss an den vorhandenen Strukturen und Konzepten anknüpfen. Selbstverständlich hilft der Blick in die anderen Länder, dabei sind aber auch immer die teilweise sehr unterschiedlichen Voraussetzungen in den Blick zu nehmen. Wir können sagen, dass wir in Niedersachsen auf einer gesicherten Grundlage mit vielfältigen Erfahrungen im Bereich der sonderpädagogischen Förderung in der allgemeinen Schule den Weg hin zu den inklusiven Schulen gehen.
In Templin ist eine Förderschule erfolgreich zu einer inklusiven Schule umgewandelt worden. Wäre das nicht ein grundsätzlich besserer Weg auch für Niedersachsen?
Ich bin davon überzeugt, dass die Umwandlung oder Umgestaltung der allgemeinen Schulen zu inklusiven Schulen der Weg ist, der sorgfältig vorbereitet werden sollte. Wir dürfen auch unsere Schulen und unsere Lehrkräfte nicht überfordern. Die Regel wird langfristig die Aufnahme in den allgemeinen Schulen sein. Aber: Nicht alles wird sofort machbar sein. Das Beispiel der Förderschule in Templin will ich damit nicht in Abrede stellen. Für mich ist durchaus vorstellbar, dass sich einzelne Förderschulen in Niedersachsen auch für Kinder und Jugendliche ohne einen Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung öffnen. Ich gehe davon aus, dass dies auf der Grundlage unseres Schulgesetzes möglich sein wird.
 
Wie beurteilen Sie in der aktuellen Debatte die Interessen der Lehrkräfte und welche Argumente überzeugen Sie am meisten?
Die   Lehrkräfte vertreten in der aktuellen Debatte um  die Umsetzung des  Artikels 24  der Behindertenrechtskonvention auch die  breite Palette  der Meinungen, wie sie  in der öffentlichen Diskussion  festzustellen  ist. Ich entnehme den Beiträgen  der Lehrkräfte insgesamt  eine große  Aufgeschlossenheit für die Aufgabe. Ich  nehme das besondere  Interesse  einiger Lehrkräfte an besonders weitgehenden  Veränderungen  zur  Kenntnis, ich weiß aber auch um Bedenken und Skepsis wiederum   anderer  Lehrkräfte. Diese beziehen sich darauf, ob die notwendigen  Ressourcen   bereitgestellt werden können, ob die angemessenen  Bedingungen in den  Schulen  hergestellt werden und ob ihre fachliche  Qualifikationen  hinreichend sind, um  den unterschiedlichsten  Anforderungen und  Bedarfen der Schülerinnen und Schüler  zu entsprechen.  Mich überzeugt  eine Vielzahl von Argumenten, wir nehmen  grundsätzlich  alles zur  Kenntnis und versuchen, förderliche  Gestaltungsbedingungen  bei der  Umsetzung der Inklusion in Niedersachsen  herzustellen. 
 
 Am  meisten  überzeugen mich natürlich die Argumente, die sich am   Kindeswohl orientieren,  die also dafür eintreten, dass die vorrangige   Verpflichtung darin besteht, den  Kindern und Jugendlichen angemessene   Bedingungen für den bestmöglichen  individuellen Bildungsgang zu   gewährleisten.
„Eine Schule für alle!“, ist eine Forderung, die zum Teil massiv von Eltern vorgebracht wird. Wie schätzen Sie die Bedürfnisse und Erwartungen der Eltern von Kindern mit Behinderungen ein?
Grundsätzlich  dürfen wir den Eltern unterstellen, dass sie die bestmöglichen 
 Entwicklungsbedingungen  in der Schule für ihr Kind einfordern. Sie   erwarten von allen Schulen, dass  ihre Kinder so angenommen werden, wie   sie sind und dass sie auf ihren Lernwegen  und auf ihrem Bildungsgang   begleitet werden. Die Eltern werden grundsätzlich  die Wahl zwischen der   allgemeinen Schule und der Förderschule haben. Wir können  davon   ausgehen, dass die Eltern in der Regel die richtige Wahl für ihr Kind    treffen. Es ist aber auch vorstellbar, dass die Eltern sich zumindest   mit  Alternativen für ihre Wahl auseinandersetzen sollten. Wir werden   diesbezüglich  Möglichkeiten prüfen, dies im Rahmen des Verfahrens zur   Feststellung eines  Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung   sicherzustellen.
Die evangelischen Landeskirchen in Niedersachsen verstehen sich als Anwältinnen für einen behutsamen Wandel hin zu einer inklusiven Gesellschaft. Was wünschen Sie sich von Kirche als Institution und welche Rolle spielt für Ihre Argumentation beispielsweise das christliche Menschenbild?
In den zurückliegenden Monaten bis zur Einbringung des Gesetzentwurfs der Regierungsfraktionen von CDU und FDP habe ich mich dafür eingesetzt, dass wir verantwortungsvoll die Umsetzung des Artikel 24 der Behindertenrechtskonvention umsetzen. Ich habe stets davon gesprochen, dass „Sorgfalt vor Eile“ kommt. In diesem Sinne begrüße ich, dass auch die evangelischen Landeskirchen in Niedersachsen sich als Anwälte für einen behutsamen Wandel hin zu einer inklusiven Gesellschaft einsetzen. Die Veränderung von Traditionen und Strukturen setzt viel Information und Bereitschaft voraus. Eine umfassende Barrierefreiheit, die auch die Überwindung von Barrieren in den Köpfen einbezieht, braucht Zeit. Ich wünsche mir von der evangelischen Kirche eine Unterstützung aller Schulen, aller Lehrkräfte und insbesondere Schülerinnen und Schüler, auf der Grundlage des ausdrücklich von mir bejahten christlichen Menschenbilds, alle allgemeinen Schulen so weiter zu entwickeln und dass alle Kinder willkommen sind, dass das Anderssein aller Kinder anerkannt wird, dass alle Kinder und Jugendlichen die Wertschätzung erfahren, auf die sie einen Anspruch haben.