"Was ist das für ein Mann, dass ihm Wind und Meer gehorsam sind?" (Mt 8,27) - Christologische Konzepte von Grundschulkindern

von Gerhard Büttner

 

Die Geschichte von der Stillung des Sturmes gehört zweifellos zu den bekanntesten Geschichten der Bibel. Keine Kinderbibel lässt sie aus. Gerade deshalb lässt sich an dieser Stelle aufzeigen, welche Kontroversen die religionspädagogische Diskussion der letzten Jahrzehnte bestimmt haben. Im Zentrum dieser Auseinandersetzungen steht zwangsläufig der, "dem Wind und Wellen gehorsam sind", also Jesus Christus. Wir können dabei davon ausgehen, dass die Religionspädagogen, die sich zu dieser Frage äußerten, von dem Gedanken getrieben waren, die biblischen Inhalte in bestmöglicher Weise den Kindern zu vermitteln. Dabei – so lautet meine Hauptthese – haben sie, aus heutiger Sicht, gravierende Fehlschlüsse gezogen, weil sie einem bestimmten Bild vom Kinde folgten. Sie entnahmen es zwar der entwicklungspsychologischen oder pädagogischen Literatur. Aber sie versäumten es, wie auch ihr großes Vorbild, die neutestamentliche Exegese, die Frage realer Rezeption wirklich in den Blick zu nehmen.

Ich werde deshalb in einem ersten Schritt knapp den Weg nachzeichnen, den die Religionspädagogik der Nachkriegszeit in ihrem Bemühen um die rechte Vermittlung neutestamentlicher Christologie gegangen ist. Dabei sind die Optionen im Grundschulbereich zwangsläufig am deutlichsten erkennbar.

In einem zweiten Schritt wird anhand eines Unterrichtsverlaufs verdeutlicht, wie Schülerinnen und Schüler einer dritten Klasse mit der Thematik der titelgebenden Wundergeschichte umgegangen sind, und so anhand empirischer Befunde geklärt, wie angemessen bzw. nicht angemessen viele didaktische Schlüsse sind, die sich immerhin bis in Lehrpläne und Schulbücher durchgesetzt haben. Abschließend werden einige Unterrichtsideen für die Behandlung dieser Perikope im RU der Grundschule formuliert.



Im Banne der Exegese – problematische Schlussfolgerungen des Hermeneutischen Religionsunterrichts

Helmuth Kittel hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg vehement für einen Bibelgebrauch eingesetzt, der auf das Historisieren, Theoretisieren und Moralisieren verzichten solle.1 Statt eines distanzierten Umgangs wird eine Vermittlung aus dem eigenen Betroffensein heraus postuliert, deren bevorzugte Methode das Erzählen ist. "Erzählen z.B. biblischer Stoffe bedeutet […] nicht über das Kerygma des betr. Textes belehren, sondern in den Vollzug dieses Kerygmas eintreten."2 Dahinter steht das Plädoyer für die Unmittelbarkeit des Erzählens im Religionsunterricht, das sich aus der eigenen Beschäftigung und dem eigenen Angesprochensein der Lehrperson speist.

Betrachten wir einen Unterrichtsvorschlag, der sich aus einer solchen Haltung herleitet. Eine weit verbreitete Präparation der Evangelischen Unterweisung bietet für unsere Perikope die folgenden Stichworte:
"Müde von aller Arbeit (Predigt, Heilungen) verschafft sich der Herr Ruhe. Jeder Mensch braucht Ruhe, um wieder arbeiten zu können. Der Herr Jesus, ein Mensch wie wir, brauchte sie auch. […] Jesus schläft im Vertrauen auf die schirmende Hand des Vaters.

[…] Der See zwischen Bergen in einem tiefen Kessel, ist plötzlichen Stürmen ausgesetzt. […] Todesangst der Jünger. Ruf an den noch schlafenden Herrn.

[…] Jesus erwacht ohne Schrecken. Tadel des Herrn: ‚Ihr Kleingläubigen.‘ Das Vertrauen der Jünger klein, sonst hätten sie gewusst: Wo der Herr Jesus ist, da ist auch immer Gott der Vater und bewahrt seine Kinder. Drei Worte bringen alles zur Ruhe: ‚Schweig und verstumme.‘ […] Alle Mächte der Erde müssen ihm gehorchen. Denn Gott hat ihm die Macht dazu gegeben. […] Er ist der Himmelskönig, der Herr über die ganze Welt."3

Für die Darstellung an der Tafel schlägt das Buch die folgenden drei Bilder vor.4 Die beiden ersten Bilder charakterisieren die Situationen "Sturm" und "Stille", im dritten wird durch die aufgesetzte Krone der Begriff "Himmelskönig" erläutert. Dieses ist auch am schlüssigsten, wohingegen die Skizze mit dem Kreuz als Segelsymbol im Sturm und gleichermaßen in der Stille nach meinem Empfinden nicht bis ins Letzte stimmig ist.

Will man den Ansatz der Autoren würdigen, dann fällt auf, dass der Erzählentwurf die Geschichte gleichsam inszeniert. Zumindest für die Zuhörerinnen und Zuhörer mag die Entfaltung der Geschichte voraussetzungslos wirken. Beim genaueren Hinschauen können wir jedoch erkennen, dass sehr wohl ein ausgefeiltes theologisches Programm dahinter steht. Sehr deutlich wird einmal der menschliche Jesus entfaltet, der nach der Arbeit (wie wir) seine Ruhe braucht. Dahinter offenbart sich dann allerdings der Christus als göttlicher Himmelskönig. Die Einsichten von Chalzedon sind also sehr gelungen umgesetzt.

Das voraussetzungslose (scheinbar naive) Inszenieren der Geschichte hat – aus heutiger Sicht – deutliche Parallelen zur Methode des Bibliodramas, wo es auch darum geht, die Geschichten von innen heraus zu entfalten und nicht diskursiv zu zerlegen.

Daneben steht eine, im obigen Zitat ausgelassene, mehrfache Bezugnahme auf andere Bibelstellen. So soll der Schlaf auf "harten Brettern" auf die Krippe verweisen, das Schweigegebot an den Sturm an eine Parallele im Ps 33. Damit wird die Geschichte innerbiblisch "intertextuell" verortet, eine Vorgehensweise die neuerdings zunehmend Zuspruch findet.5

Wir können demnach festhalten, dass der Ansatz der Evangelischen Unterweisung in unserem Falle trotz einzelner Formulierungen insgesamt durchaus "moderne" Züge trägt. Dies gilt es zu bedenken angesichts der Kritik der Folgejahre.

Umso interessanter ist es zu sehen, wie die Kritik argumentiert, die über Jahrzehnte einen Ansatz wie den oben dargestellten desavouierte. Ich folge dabei exemplarisch der Argumentation von Klaus Wegenast. Mit ihm gebe ich einem exemplarischen Vertreter der deutschsprachigen Religionspädagogik das Wort, der zudem nicht bei dieser Position stehen geblieben ist, sondern wichtige Plädoyers für einen RU von den Schülerinnen und Schüler her formuliert hat.6 Wegenast sieht mit dem Pathos der neutestamentlichen Wissenschaft seiner Zeit (1965) die grundsätzliche Aufgabe, angesichts des modernen Weltbildes die Notwendigkeit der Auslegung, "die einerseits zwischen dem in der Sprache der Antike und deren Vorstellungen Gesagte und dem im Grunde Gemeinten zu unterscheiden trachtet[.], andererseits aber eben dieses Gemeinte heute in Sprache zu bringen suchen muss […]"7. Mit dieser Grundregel wird einerseits ein unmittelbares Verstehen der meisten biblischen Texte per se ausgeschlossen. Dies hat entsprechende Konsequenzen für die Alterszuordnung. Immer wieder wird darauf verwiesen, dass ein rechtes Verständnis z.B. von Wundergeschichten frühestens am Ende der Volksschule zu erwarten sei, am besten aber in der Oberstufe des Gymnasiums. Der richtigen Beobachtung der Ev. Unterweisung, dass die lebendige Erzählung die Bilder erzeuge, aus denen sich ein Leben lang Glaube konstituiert, wird nun die Frage nach der "Richtigkeit" entgegengehalten: "Mag diese Aussage durchaus psychologischen Erkenntnissen entsprechen, so ist es doch mehr als zweifelhaft, ob diese ‚lebensvollen Bilder’ auch dazu imstande sind, heute wie zur Zeit des ersten Jahrhunderts das vom Evangelisten im Grunde Gemeinte zu veranschaulichen."8

Der Geltungsanspruch wissenschaftlich korrekten Verstehens wird auf zwei Ebenen greifbar. Nur das wissenschaftlich korrekte Verstehen der biblischen Texte kann angesichts der Moderne bestehen. Individuell realisiert sich dieser Anspruch darin, dass das Kind spätestens im Pubertätsalter dieses wissenschaftliche Weltverständnis gegenüber den biblischen Geschichten einklagt. "Hat ein Kind in der Grundschule beispielsweise die Geschichte von der Stillung des Sturms realistisch erzählt bekommen, so wird ihm diese spätestens jetzt suspekt. Alles erscheint ihm unwahrscheinlich, ja es empfindet die Tatsache, dass ihm im Religionsunterricht diese Geschichte wie ein Geschichtsbericht erzählt worden ist, als eine Unredlichkeit des Lehrers ihm gegenüber."9 Diese Aussage trifft natürlich zu allererst die neutestamentlichen Wundergeschichten. Gegen Ende der Volksschulzeit (9. Klasse) könnte dann auch die Seesturmgeschichte in Blick genommen werden.10 Hier geht es dann um die Umsetzung der Bornkamm’schen exegetischen Einsicht, "dass der Evangelist Matthäus diese Wundergeschichte als Aufruf zum Mut in den Verfolgungen und Anfechtungen, in denen seine Gemeinde stand, verstanden wissen wollte". Konkret schlägt Wegenast vor:

"Ich erarbeite im Gruppenunterricht oder im Unterricht mit der ganzen Klasse deren [= der Schülerinnen und Schüler] Vorverständnis von Angst, von Mut und Vertrauen und versuche dabei, Gründe für die Angst und den Mut von Menschen von den Schülern in Erfahrung zu bringen. In einer zweiten Stunde erarbeite ich anhand von Texten wie Mt 5,10f.; 16,23ff. und anderen die Situation der matthäischen Gemeinde. Was in ihrer Situation Angst, Anfechtung, aber auch Mut und Glaubensgewissheit heißt, muss in einer dritten Stunde deutlich werden, in der ich die Geschichte von der Stillung des Seesturmes als Predigt für die Situation der Verfolgung einführe."11

Wegenasts Plan hat eine große Plausibilität. Die von ihm skizzierte Vorgehensweise einer gelungenen Didaktisierung exegetischer Befunde fand nicht zuletzt ihren Niederschlag in dem 1975 erstmals erschienenen "Erzählbuch zur Bibel" von Walter Neidhart und Hans Eggenberger. Dort wurde bekanntlich versucht die bewährten Erzählelemente zu verbinden mit den form- und redaktionsgeschichtlichen Einsichten der historisch-kritischen Exegese.

Drei Anfragen wird man an diese Vorgehensweise stellen müssen. Sie verkennt erstens die Notwendigkeit, einen Grundstock an biblischem Wissen gerade in der Grundschulzeit zu vermitteln, was im Übrigen gegen Wegenasts Vermutungen in der Regel sehr positiv erinnert wird. So resümiert Dietlind Fischer den Rückblick von Abiturienten auf ihre Religionserfahrungen:

"In der Mehrheit der kontrastierenden Vergleiche [Grundschule – Gymnasium] […] wird der RU in der Grundschule als anders oder auch besser als der am Gymnasium charakterisiert. ‚In der Grundschule war Religion mein Lieblingsfach.’ Zu diesem positiven Bild trägt vor allem die Erinnerung an vielfältige biblische Geschichten und an reichhaltige Methoden der Aneignung durch Malen, Spielen, Erkunden oder Inszenieren bei."12

Zweitens vermutet Martin Stallmann wie Klaus Wegenast zwar, dass das exegeseorientierte Vorgehen durchaus die Schülerinnen und Schüler auch persönlich mit dem Text affizieren könne: "Die Angst, dass solcher Umgang mit der christlichen Tradition den Schüler in eine neutrale, unbeteiligte Zuschauerhaltung versetze, übersieht, dass die Begegnung mit Überlieferung und deren Interpretation nicht ohne existentielle Betroffenheit vor sich geht."13

Doch es bestehen berechtigte Zweifel an dieser Annahme. So hat etwa Ingo Baldermann gegenüber den Versuchen von Neidhart/Eggenberger die exegetischen Befunde durch historisierende Rahmenerzählungen wieder narrativ vermittelbar zu machen, mit Recht eingewandt, dass gerade der fiktive Charakter dieser Geschichten die existenzielle Dimension herausnehme. Ohne die Hereinnahme des Betroffenseins von der jeweiligen biblischen Geschichte z.B. im Erzählvorgang wird wohl ein unmittelbares Angesprochenwerden auch bei den Schülerinnen und Schüler nur selten vorkommen.

Als dritten Punkt möchte ich an dieser Stelle die empirischen Befunde zum Verständnis der Christologie von Kindern ausführen. Ich referiere dazu hauptsächlich die Untersuchungen von Ronald Goldmanns Pionierstudie "Religious thinking in childhood and adolescence". Dieser hatte den Grundschulkindern die Frage gestellt: "Wodurch unterscheidet sich Jesus von allen anderen Menschen?" Für die Zeit bis zum zehnten Lebensjahr hält Goldmann als bestimmende Antwort fest: "Jesus als guter, hilfreicher und frommer Mensch".14 Dies scheint in der Tat auf eine Christologie hinzudeuten, die den historischen Jesus in den Mittelpunkt stellt. Die Kinder geben dazu allerdings überraschend konkrete Interpretationen: "Er trug einen großen Turban auf seinem Kopf. Er hatte andere Schuhe und andere Haare." "Ja er trug lange kurze Hosen und ein kleines Hemd darüber." "Ja er hatte einen Bart und die anderen Männer nicht." wie Antworten der sechs- oder siebenjährigen Kinder lauten. Diese Hinweise werden dann ergänzt oder ersetzt durch Aussagen zum Charakter Jesu: "Er trug unterschiedlich gefärbte Kleider. […] Er war ein guter Mann. Er dachte, er sollte ein guter Mensch sein und den Leuten helfen." Goldmann resümiert: "Die zahlreichsten Antworten auf dieser […] Stufe zeigen Jesus nicht nur als freundlich und gut, sondern als netter, frömmer und viel hilfreicher und moralischer als die anderen Menschen. Er ist noch ein Mensch, aber er unterscheidet sich von den anderen, indem er die genannten Eigenschaften in einem ganz besonderen Maße hat." Entscheidend scheint hier die Antwort des fast neunjährigen Desmond: "Man könnte den Unterschied nicht erkennen. Der Unterschied liegt in ihm drin. Er ist freundlicher und er liebt die Menschen." Es spricht also vieles dafür, dass auch die konkreten, sich auf Äußerlichkeiten beziehenden Aussagen der Kinder durchaus etwas von der Bedeutsamkeit Jesu ausdrücken sollen. Offensichtlich vermag der konkret-operatorisch arbeitende Verstand der Kinder hierfür nur Dinge wie Kleidung oder Haartracht zu benennen. Sie reden damit – freilich auf ihre Weise – ebenso gleichnishaft über das Besondere, Göttliche wie ältere.

Allerdings ist das Repertoire für Vergleichspunkte noch sehr beschränkt. Ältere Kinder finden dann die Komparative freundlicher, hilfsbereiter etc. Es sind ebenfalls, wie bei der Kleidung, menschliche Attribute, diese besitzt Jesus aber in einem größeren Maße. In diesem Kontext wird dann auch von den Kindern der Titel "Sohn Gottes" gebraucht. Dessen Bedeutung ist den Kindern allerdings wohl nur schemenhaft geläufig, zumindest müssen sie bei der Gegenfrage passen, ob wir denn nicht alle Gottes Kinder seien. Wahrscheinlich würden viele Kinder gleichwie Alfred den Titel mit der Erklärung deuten, dass Jesus heilig war. Es stellt sich die Frage, ob die von Goldmann für das Ende der Grundschulzeit bis zum 13. Lebensjahr andauernde zweite Phase, die die Wunderkraft Jesu in den Vordergrund stellt, dann nicht nur etwas explizit macht, was in den zitierten Antworten der frühen Grundschulzeit bereits implizit mitgemeint ist. Auch hier wird wieder das Besondere als Steigerung des Allgemeinen gesehen. Im Gegensatz etwa zu den Ärzten heilt Jesus schneller, an allen Tagen (sogar am Sabbat) und auch Krankheiten, bei denen die Ärzte scheitern. Diese Aussagen sammelt Goldmann besonders bei den Kindern gegen Ende des Grundschulalters.

Die Ergebnisse Goldmanns ließen und lassen sich verschieden interpretieren. Für die einen ergaben sich religionspädagogische Konsequenzen wie sie Goldmann und in der Tendenz Wegenast zogen. Weil die Äußerungen der Kinder den theologischen Standards, die sie als kritische Exegeten formulierten, nicht entsprechen, plädierten sie, wie oben erwähnt, für einen weitgehenden Verzicht auf viele biblische Geschichten, vor allem die Wundergeschichten Jesu. Betrachtet man aber die Beiträge der Kinder unter dem Aspekt eigenständigen Theologisierens15, dann wird man diese Beiträge danach beurteilen, wie die Kinder damit ihre eigenen Fragen artikulieren, welche Lösungsmodelle sie dabei ausprobieren und nicht zuletzt wird zu prüfen sein, wieweit die Kinder sich dabei sogar auf Topoi traditioneller Theologie zubewegen.



Ein empirischer Zugang zur Christologie der Grundschulkinder

Mein eigener Zugang folgt dem zweiten Weg. Ich habe dazu die Thematik der Sturmstillungsgeschichte aufgenommen, sie aber vor allem in der Weise verändert, dass ich den bekannten Schluss wegließ und den Duktus damit einer Dilemmastruktur annäherte. Ich skizziere im Folgenden die Geschichte und gebe anschließend das Unterrichtsgespräch einer vierten Klasse kommentiert wieder.16

In der Geschichte spielen vier Kinder abends am Ufer des Sees Genezareth, wo sie das Boot mit den Jüngern sehen. Besorgt beobachten sie, wie ein Sturm aufzieht, weil sie wissen, wie gefährlich das werden kann. Als der Sturm anschwillt und die Kinder noch verzweifelt überlegen, wie man den Jüngern helfen könnte, kommt Jesus auf sie zu. Während ein Mädchen ruft: "Jesus, tu was, es sind deine Freunde!" meint ein anderes: "Du kannst auch nichts mehr machen, sie sind alle verloren." An diese Erzählung schließt sich (hier leicht gekürzte) das Rundgespräch in der Klasse an.17

L: Die Kinder schauen alle gespannt auf Jesus. Was wird er jetzt sagen oder tun? (Finella!)
Finella: Also er geht ins Dorf und holt zehn Männer und ein Schiff, dass sie sie retten.

L: Mhm. Julia!

Julia: Er sagt vielleicht: Verliert die Hoffnung nicht!

L: Mhm, und was wird er tun, also außer das sagen? Was denkst du dir?

Julia: Ja, vielleicht auch ins Dorf gehen.

L: Mhm. Ihr habt sicher noch mehr Ideen. Jana!

Jana: Er wird mit seiner Kraft die Wellen stillen, dass das Wasser flach ist, dass es ruhig ist.

L: Mhm. Wie wird er das mit seiner Kraft machen, wie denkst du dir das?

Jana: Er wird beten.

L: Mhm. Ina, was hast du für ‘ne Idee?

Ina: Das gleiche, wie die Jana gesagt hat.

L: Dass er die Wellen bezwingen wird. [Ina: Ja] Mhm. Oh, ich bin mir sicher, ihr habt noch viel mehr Ideen. Ihr braucht heute nicht so schüchtern zu sein. ((Schülerinnen und Schüler lachen)). Finella!

Finella: Er wird beten, und Gott wird vielleicht die Wolken wieder verschwinden [lassen].

L: Die Wolken. Mhm.

Jennifer: Vielleicht sagt Jesus: Gott hat des so bestimmt.

L: Was meinst du damit?

Jennifer: Also, dass sie auf’m See sind und dass es regnet und der Sturm aufkommt.

L: Mhm. Und was hat er damit bestimmt? [Schülerin zuckt mit den Schultern]. Was denkst du dir? [Schülerin zuckt mit den Schultern] Dass sie dann umkommen oder gerettet werden, oder wie denkst du dir das?

Jennifer: Dass sie halt dann gerettet werden, also dass Jesus auch in die Stadt geht, dass er ins Dorf geht und jemanden holt.

L: Dass er jemanden holt. [Jennifer: Ja.] Mhm. Nectanus!

Nectanus: Vielleicht wollte das Gott, dass es halt passiert. Dass die an ihn beten.

L: Mhm. Und wer soll zu ihm beten?

Nectanus: Halt die Jungs, (die kleinen).

L: Die Kinder am Stand.

Nectanus: Ja.

L: Mhm. Pia, was hast denn du noch für ‘ne Idee, außer mit deinen Bändern zu spielen heut’?

Pia: Auch, dass er betet.

L. Jesus?

Pia: Ja. L: Mhm. Wie könnte denn das Gebet aussehen, wenn er betet? Finella!

Finella: Das Vaterunser.

L: Das Vaterunser.

Sandra: [Ich denke auch, dass er] das Vaterunser betet.

L: Mhm, Susanne. Hast du noch ‘ne andere Idee?

Susanne: Nein.

L: Julia!

Julia : Dass er vielleicht gerade was betet, was ihm gerade dazu einfällt.

L: Und wie könnte das heißen, zum Beispiel? Also, was würde dir einfallen in so ‘ner Situation?

Julia: Was weiß ich, vielleicht: "Gott, hilf den beiden!“, oder so ähnlich.

L: Christel, du hast dich auch noch gemeldet eben.

Christel: Ja. Dass er sich dazu hinsetzt so. Und das Vaterunser betet.

L: Mhm.

Nectanus: Eine Frage: Hat’s früher auch Kirchen gehabt? [L: Was hat’s gehabt?] Kirchen!

L: Kirchen? [Nectanus: Ja] Es hat nicht die Kirchen gehabt wie heute, sondern (sie gingen in die) Synagogen zum Beten.

Nectanus: Oder dass er in die Kirche geht und dann betet und dann wartet auf die zwei halt, die rausgefahren sind.

L: Mhm. Habt ihr den Vorschlag vom Nectanus gerade gehört? ((Schülerinnen und Schüler: Ja.)) Dass er also nicht in die Kirche, sondern in die Synagoge geht und dort betet. Jetzt sind die ja aber in so großer Not. Wenn er zurückgeht zum Dorf und in die Synagoge geht. Felix!

Felix: Dauert viel zu lange.

L: Dauert ziemlich lange. Dann müsste ja das Boot noch lange auf ’m Wasser bleiben.

(Störung in der Aufnahme)

Tim: Ja übers Wasser geht er und hilft den Leuten.

L: Dass er übers Wasser geht [Schülerinnen und Schüler : So wie bei (Mose )]. Mhm. [Tim: Der kann ja so fliegen. Kann alles] Kann fliegen, sagst du. [Tim: Ja, so schweben].

Nectanus: Der kann sogar auf’m Wasser laufen. [L: Mhm] Wir haben so etwas wie ein Poster halt, wie jetzt da oben, wo Gott halt läuft, wo so’n Mensch da ist, ich glaub’ das ist es, wo daneben so’n Boot sinkt oder so was. Und dann Gott ist beim Wasser. Und irgendwas hat er dann gesagt. (Kann mich nicht mehr erinnern).

L: Ist da Gott beim Wasser, oder ist da Jesus beim Wasser?

Nectanus: Äh, Jesus halt. Aber (nur, dass) so ein alter Mann (drinnen im Wasser ist und zu den Männern, da hat er gesagt:) Wie machst du das halt? Die haben nicht gewusst,dass es Jesus ist. Wie machst du des, dass du auf dem Wasser laufen kannst? Hat er gesagt: Das kannst du auch machen. Du brauchst nur den Mut, (dann kannst du des machen).L: Mhm. Mhm. Ja.

Mareike: Also, dass der Jesus sich in ein Boot setzt und auch rausfährt und die dann rettet ( )

L: Und wie denkst du, dass er das macht? Also einfach nur rausrudert, oder wie?

Mareike: Ja, einfach (rausrudert), und ihm passiert nichts.

L: Mhm. Was glaubst du, warum ihm nichts passiert? Wenn’s so stürmisch ist?

Mareike: Weil er das vorher zu Gott gebetet hatte, dass er sie retten kann.

L: Mhm. Jennifer! Julia!

Julia : Weil er daran glaubt.

Kevin: Weil er Gottes Sohn ist und Gott ihn beschützt.

[…]


Auswertung und Ausblick

Für die Auswertung ergeben sich drei interessante Themenfelder:

  • die Artifizialismusthematik,
  • die Rolle des Gebets,
  • die Bedeutung verwandter Texte.


Jean Piaget und seine Nachfolger konnten deutlich machen, dass es zum Entwicklungsverlauf gehört, dass Kinder anfänglich fast alle Gegenstände als "gemacht" ansehen, von Gott oder zunehmend von Handwerkern o.ä. "Natürliches" Entstehen von Dingen wird erst allmählich als Regel wahrgenommen. So gesehen bedeutet die Vorstellung vom wunderhaftes Eingreifen Gottes oder Jesu eine Variante des Artifizialismuskonzeptes.18 Die Kinder am Ende der Grundschulzeit bieten alle drei Varianten dieses Modells. Wo sie in Anlehnung an die Seewandelperikope Jesus gewissermaßen als Zauberer (kann fliegen) verstehen liegt noch ein ungebrochener Artifizialismus vor. Wo sie Jesus als denjenigen sehen, der in das Wettergeschehen eingreift, finden wir eine gemilderte Variante, weil hier in der Regel die Hilfe im Einklang mit den Naturgesetzen erwartet wird. Die Variante mit dem Boot enthält solche Elemente, bildet aber gleichzeitig bereits den Übergang zur realistischen Phase. Es lässt sich gut beobachten, dass dieselben Kinder (z.B. Finella) oft Antworten auf mehreren Stufen geben. Erwähnenswert ist Jennifers Konzept von Gottes Plan, der hinter dem ganzen Unternehmen steht. Dies könnte ein Hinweis auf ein Denken auf Stufe 1 im Sinne Osers sein, weil hier gewissermaßen alles Geschehen wie von der unsichtbaren Hand Gottes gesteuert wirkt. Dem Gebet kommt eine Schlüsselfunktion in diesem Zusammenhang zu. Wir sehen hier, wie konkret die Kinder dabei denken, wenn sie bemerken, dass Jesus sich hinsetzt (Christel), dass man dabei in die Kirche oder Synagoge geht (Nectanus).19 Die Kinder kennen Jesus als den Beter des Vaterunser-Gebets, sind aber auch mit eigenen Gebetsschöpfungen vertraut. Auf der Basis vergleichbarerer Klassengespräche kann man mit Recht den betenden Jesus als christologisch bedeutsame theologische Figur bezeichnen. Finella deutet in ihrem anfänglichen Beitrag an, dass als Folge von Jesu Gebet Gott die Wolken verschwinden lassen wird. Die Kinder sehen zwar Jesus im Sinne ihnen vertrauter Gebetspraxis handeln. Doch es wird deutlich, dass die Kinder die Beziehung zwischen Jesus und Gott-Vater doch als etwas Besonderes ansehen. Interessanterweise generieren die Kinder das Bild von Jesus, der vor der Wundertat betet, selbst. Die neutestamentlichen Perikopen, die so etwas berichten, sind in aller Regel im RU der Grundschule nicht behandelt.20 Ich denke, dass dieses Beten Jesu ein guter Gesprächsanlass für die Frage des Verhältnisses Jesu Christi zu Gott-Vater sein kann. Dies impliziert einmal die unterrichtliche Aufnahme der markinischen Heilungsgeschichte (7,31ff) vom Taubstummen21, zum anderen die Einbeziehung der trinitarischen Perspektive22.

Interessant ist die Rekursnahme auf bekannte biblische Geschichten. Die Mosegeschichte und der Seewandel werden erinnert und z.T. rekonstruiert. Damit wird ein wichtiger Mechanismus deutlich, mit dem biblisches Wissen aufgenommen und gespeichert wird. Die hier sichtbar werdenden Mechanismen der Vernetzung sind bislang wohl religionspädagogisch unterschätzt worden. Nur soweit Kinder Ansätze eines kohärenten Wissens aufweisen, sind sie in der Lage zum eigenständigen Theologisieren.

Meine Argumentation ist von dem Gedanken bestimmt, dass Geschichten wie die hier zugrunde gelegte Sturmstillungsgeschichte einen guten Gesprächsanlass darstellen, in dem die Schüler und Schülerinnen klärend ihre christologischen Vorstellungen entfalten können. Der Rahmen des Gesprächs wird sich dabei vermutlich im Rahmen der theologischen Prämissen bewegen, die sich beispielhaft in den didaktischen Überlegungen der Ev. Unterweisung erkennen ließen. Diese inhaltliche Nähe wird sich aus den Denkstrukturen der Kinder ergeben. Deren Überlegungen bedürfen der unterstützenden Nachfrage. Diese soll bewusst auch darauf achten, Fixierungen zu vermeiden und alternative Deutungen zu hören. Es sollte aber nicht um eine besserwisserische Intervention gehen, wie sie sich aus der Kenntnis historisch-kritischer Ergebnisse nicht selten ergaben oder wie sie z.T. auch didaktisch empfohlen wurden. Die exegetischen Kenntnisse der Lehrpersonen sind gewiss sinnvoll und hilfreich.

Konkret ergeben sich aus dem Gesagten folgende unterrichtliche Konsequenzen.

  1. Es ist sinnvoll den Erzählplot so zu gestalten, dass er einerseits Identifikationen bietet, andererseits auch noch offene Stellen enthält. Von daher ist zu überlegen, ob man nicht den Schluss weglässt, um die Schülerinnen und Schüler erst einmal zum eigenen Nachdenken und Spekulieren einzuladen.
  2. Gestalterisch haben sich Vorgehensweisen bewährt, die die Umrisse eines Bootes auf einem Plakat präsentieren. Die Schülerinnen und Schüler können dann sich selbst malen und (als Jünger) ins Bild einkleben. Sinnvollerweise klebt man dann auch ein Jesusbild (das vorher vielleicht unter verschiedenen Bildangeboten ausgewählt werden kann) ins Plakat.23
  3. Denkbar sind dann auch Gespräche darüber, ob und wie damalige (und heutige!) Jünger sich in ihrer Not an Jesus wenden können und inwieweit das dann Hilfe bringen kann bzw. wird.24

 

Anmerkungen

  1. Kittel, Helmuth: Vom Religionsunterricht zur Evangelischen Unterweisung (1949), in: Gloy, Horst: Evangelischer Religionsunterricht in einer säkularen Gesellschaft, Göttingen 1969, S. 27f.
  2. Kittel, Helmuth: Evangelische Religionspädagogik, Berlin 1970, S. 360.
  3. Frör, Kurt/Bach, Artur/Grimme, Gertrud: Die Evangelische Unterweisung an der Volksschule. 1./2. Jahrgang, Dortmund/ München 1955, S. 88f.
  4. A.a.O., S. 89.
  5. Vgl. dazu Büttner, Gerhard/Reis, Oliver: Wie werden Kinder zu (biblischen) Theologen – oder wie entsteht ein kohärentes Bibelwissen, in: Religionspädagogische Beiträge 47/2001, S. 43-54.
  6. Wegenast, Klaus: Hermeneutik und Didaktik. Vorläufige Bemerkungen zu einem nach wie vor ungelösten Problem im Hause der Theologie, in: Zilleßen, D. u.a. (Hrsg.): Praktisch-theologische Hermeneutik. Ansätze – Anregungen – Aufgaben, Rheinbach-Merzbach, 1991, S. 23-43; und Wegenast, Klaus/Wegenast, Philipp: Biblische Geschichten dürfen auch "unrichtig" verstanden werden. Zum Erzählen und Verstehen neutestamentlicher Wundergeschichten, in: Bell, D. u.a. (Hrsg.): Menschen suchen – Zugänge finden. FS Ch. Reents, Wuppertal 1999, S. 246-263.
  7. Wegenast, Klaus: Der biblische Unterricht zwischen Theologie und Didaktik. Gütersloh, 2. Aufl. 1966, S. 55 (Hervorhebungen von mir)
  8. A.a.O., S. 61
  9. A.a.O., S. 73
  10. Für die Grundschule blieben nach Wegenast gutes außerbiblisches Erzählgut, die Josefgeschichte, "Verlorener Sohn" und "Barmherziger Samariter" und nicht näher bezeichnete novellistische Abschnitte der Evangelien. (a.a.O., S. 67).
  11. A.a.O., S. 78
  12. Fischer, Dietlind: "mehrheitlich von positiven Eindrücken geprägt" – Rückblicke auf Religionsunterricht in der Grundschule, in: Kliemann P./Rupp, H. (Hrsg.): 1000 Stunden Religion. Wie junge Erwachsene den Religionsunterricht erleben, Stuttgart 2000, S. 11. Diesen Trend stützt auch Bucher, Anton: Religionsunterricht zwischen Lernfach und Lebenshilfe, Stuttgart 2000, S. 45f.
  13. Stallmann, Martin: Die biblische Geschichte im Unterricht, Göttingen, 2. Aufl. 1969, S. 102
  14. Goldmann, Ronald: Religious thinking in childhood and adolescence, 4. Aufl. 1968, S. 157. Die Zitate wurden von mir ins Deutsche übertragen. Die folgenden Zitate 157ff. Im Einzelnen vgl. dazu Büttner, Gerhard: Janines Jesusbild oder welche Christologie haben bzw. brauchen Grundschulkinder?, in: Ders./Petri, Dieter/Röhm, Eberhard: Wegstrecken. FS Jörg Thierfelder, Stuttgart 1998, S. 119-127.
  15. Büttner, Gerhard/Rupp, Hartmut: Theologisieren mit Kindern, Stuttgart u. a. 2001
  16. Die Aufnahme erfolgte im Zusammenhang eines größeren Forschungsprojektes zur Christologie von Schülerinnen. Dies ist ausführlich geschildert in Gerhard Büttner: Jesus hilft! Untersuchungen zur Christologie von Schülerinnen und Schülern, Stuttgart 2002. Das hier referierte Beispiel ist dort nicht enthalten. Für dessen Beschaffung danke ich Dieter Petri, für die Transkription Judith Brunner. Das Unterrichtsprotokoll wurde sprachlich geglättet.
  17. Der Wortlaut der Geschichte kann im Internet unter www.rpi-loccum.de/pelikan eingesehen und heruntergeladen werden, zusammen mit dem vollständigen Text das Unterrichtsgesprächs.
  18. Darauf hat besonders Bee-Schroedter, Heike: Neutestamentliche Wundergeschichten im Spiegel vergangener und gegenwärtiger Rezeption, Stuttgart 1998, S. 210ff. aufmerksam gemacht.
  19. Dies entspricht den Befunden von Rosenberg, Rina: Die Entwicklung von Gebetskonzepten. In: Bucher, Anton A./Reich, K. Helmut: Entwicklung von Religiosität, Freiburg (CH) 1989, S. 175-198.
  20. Mk 7,31ff. und Joh 11.
  21. Vgl. dazu Büttner, Gerhard/Freudenberger-Lötz, Petra: "He Vater, heil den Mann", Die Heilung des Taubstummen (Mk 7,31-37) in der Interpretation von Siebenjährigen, in: ders./Schreiner, Martin: "Man hat immer ein Stück Gott in sich". Bd. 2, Stuttgart 2006, S. 85-94.
  22. Vgl. Büttner, Gerhard: "Zwei Personen zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Stellen können nicht ein und dieselbe Person sein, das ist unmöglich." Annäherungen an das Thema Trinität im Unterrichtskontext, in: Glauben und Lernen 1/2002, S. 68-80.
  23. Maier, Jochen/Trumpfheller, Christina/Wittmann, Andreas: Keine Angst. Auch in der Schule kann man sich noch wundern, in: Religion heute 18/1994, S. 94-114.
  24. Roose, Hanna: "Wieso muss ich zu Jesus beten, wenn er neben mir steht?". Eine Kartographie zum Thema Gebet, in: Jahrbuch für Kindertheologie 5 (2006), S. 137-146.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2007

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