Kirchenraum mit Kinderaugen – Eine besondere Herausforderung für die Kirchenpädagogik

von Britta Lange-Geck

 

"Kinder fordern uns heraus."1 Seit mehr als vierzig Jahren hat dieser Satz des Individualpsychologen Rudolf Dreikurs an Gültigkeit und Bedeutung für den Umgang mit Kindern nichts eingebüßt. Kinder zu begleiten ist eine ganz besondere Aufgabe und Herausforderung auch für eine ihnen entsprechende Begegnung mit dem Kirchenraum. Kirchenpädagogik für Kinder darf deshalb nicht eine bloße "Verkleinerung" oder gar Simplifizierung einer Kirchenerkundung für Erwachsene sein. Denn Kinder haben ihre eigenen Empfindungen, ihre individuellen Zugänge und ihre von Erwachsenen zu beachtenden Grenzen, wenn sie sich in "heiligen Räumen"2 bewegen.

 

Kirchenraum und Kinderaugen

Mit einer Kindergartengruppe habe ich mich vor der Kirche verabredet. Sie toben und lärmen, sind in Rangeleien und Wortgefechte verwickelt. Meine kurze Begrüßung vor dem Portal geht im allgemeinen Durcheinander unter. Ich lotse die Kinder zur großen, schweren Tür und muss mich ein wenig dagegen stemmen, um sie zu öffnen. Unter meinem Arm, die Klinke in Brusthöhe fest im Griff, schlüpfen die Mädchen und Jungen hindurch. Auf der anderen Seite der Tür, im kühlen, lichtdurchfluteten Eingangsbereich herrscht plötzlich Stille. Fünfundzwanzig Paar Kinderaugen staunen andächtig.

Kinder entdecken in der Kirche manches Spannende, für sie Erstaunliche und auch Wissenswerte. Geschichtliche Ereignisse, Fakten und "harte Daten" sind für sie je nach Alter durchaus von Interesse. Anders als die meisten Erwachsenen nehmen sie den "heiligen Raum" nicht nur von außen wahr, als touristisch oder historisch bedeutsam. Selbst der plakative Begriff "mit allen Sinnen", von Kirchenpädagoginnen und -pädagogen gern übernommen, bewegt sich allzu oft nur an der Oberfläche des Geschehens. In der Kirche begegnen Kinder immer auch dem, was Rudolf Otto einst das "Numinose"3 nannte, weil sie in ihrer seelischen Entwicklung dem magischen Denken und mystischen Vorstellungen noch besonders verbunden sind. Und: Kinder entdecken in der Kirche immer auch sich selbst. Hierin liegt also die besondere Herausforderung an die Begleitung von Kindern im Kirchenraum: Jenseits von Eventcharakter, historischen Fakten und baulichen Besonderheiten nicht nur Konfrontation, sondern wirkliche Begegnung zwischen Kindern und Kirchenraum zu ermöglichen und behutsam zu begleiten.

 

Kirchen sind keine Museen

Ausgehend von diesen Überlegungen und Erfahrungen muss sich ein großer Teil bisher vorliegender Konzeptionen und Stundenplanungen für Kirchenbesuche im Blick auf Inhalte und Ziele kritisch befragen lassen. Die Kirchenpädagogik mit ihrer noch recht jungen Geschichte und einem Entwicklungszeitraum von kaum mehr als 20 Jahren ist erst im Begriff, sich als eigenständige pädagogische Disziplin zu etablieren. Noch fehlt es an geschlossenen Konzeptionen der bisherigen Vorreiterinnen und Vorreiter sowohl im schulischen wie auch im kulturellen oder kirchlichen Rahmen. Vielerorts bestehen auch in der aktuellen Literatur zur Unterrichtsvorbereitung keine Abgrenzungen zu verwandten Disziplinen wie der Museumspädagogik oder zur Didaktik verwandter Fächer wie Geschichte oder Musik. Hier ist eine klare Positionsbestimmung derjenigen, die mit Kindern Kirchen besuchen möchten, unabdingbar. Insbesondere fehlt es an klaren Zielformulierungen. Auch die "Thesen zur Kirchenpädagogik" des Bundesverbandes der Kirchenpädagogik enthalten nur ein Globalziel: "Kirchenpädagogik will Kirchenräume für Menschen öffnen und den Sinngehalt christlicher Kirchen mit Kopf, Herz und Hand erschließen und vermitteln, um so Inhalte des christlichen Glaubens bekannt zu machen und einen Zugang zur spirituellen Dimension zu ermöglichen." Für die konkrete Arbeit mit Kindern müssen dagegen weiter-gehende Ziele bestimmt werden, wie sie sich beispielsweise aus der Beantwortung folgender Fragen ergeben könnten: Was möchte ich in dieser Zeit ermöglichen an Erfahrungen oder Kenntnissen? Worum geht es mir bei diesem Besuch in der Kirche? Welche allgemeinpädagogischen Ziele verfolge ich? Worum könnte es den Kindern gehen? Ist der zeitliche Rahmen überhaupt geeignet, um das Gewünschte gelingen zu lassen? Wo liegen die Grenzen einer Begegnung zwischen Kindern und Kirchenraum? Werden sie hinreichend beachtet? Was folgt zeitlich oder inhaltlich auf den Kirchenbesuch? Welche Möglichkeiten gibt es, an das Erfahrene und Gelernte anzuknüpfen?

 

Hinweise für die Praxis

Wie gemeinsames Unterwegssein mit Kindern praktisch aussehen kann, sei in Form von einigen Aspekten von Raum-Erfahrungen im Kirchenraum skizziert:


Vorraum
Der Besuch einer Kirche ist zunächst ganz an den Bedürfnissen der Kinder orientiert. Sie dürfen schon im Vorfeld mit entscheiden, wenn es sich um Exkursionen von Kindergarten und Schule handelt, welche Art von Kirche sie gern kennen lernen möchten. Soll es eine kleine Kirche sein, vielleicht die in unserem Dorf? Oder wollen wir eine große, prachtvolle, aber auch mächtige Kathedrale in der Nachbarstadt besuchen?

Die Kinder bereiten selbst aktiv vor, was sie in der Kirche gemeinsam erleben möchten: Wie stelle ich mir die Kirche vor? Was kenne ich schon aus einem anderen religiösen Raum? Was interessiert mich dort? Was möchte ich mir ansehen? Was können wir in der Kirche tun? Was befürchte ich? Was möchte ich dort nicht erleben?

Solche Vorstellungen und Fragen können und sollten schon vor dem ersten gemeinsamen Erkundungsgang angesprochen und ausgesprochen werden. Das nimmt den Kindern einen Teil der Unsicherheit und schützt vor überzogenen Erwartungen, die zwangsläufig zu Enttäuschungen führen müssen.


Schutzraum

Auch erwachsene Begleitpersonen dürfen und müssen vor dem gemeinsamen Besuch in der Kirche ihre Erwartungen an die Kinder und an die Kirchenerkundung äußern, was einen gewissen Selbstklärungsprozess voraussetzt, um eigene Ziele, Vorstellungen und Befürchtungen nicht in die Wünsche der Kinder zu projizieren. Regeln für den Kirchenbesuch müssen in Ruhe vor dem Besuch der Kirche festgelegt werden und, wo nötig, auch schriftlich fixiert oder visualisiert werden, um sie im Kirchenraum für alle gut sichtbar anbringen zu können. Diese Regeln (z.B. zu Treffpunkten, Zeitvorgaben, Pausen) dienen zur Orientierung und dem Sicherheitsgefühl der Kinder im ihnen anvertrauten Raum. Die Kirche war von jeher ein Raum, in dem Menschen Schutz suchten und Zuflucht fanden. Auch die Kinder sollen sich dort geborgen fühlen. Dazu trägt bei, dass sie jederzeit Ansprechpersonen haben, und auch wissen, wie sie sie im Kirchenraum ansprechen können. Kirchenerkundungen, in denen die Begleitpersonen von Zeit zu Zeit zu Versammlungszwecken mit einem Glöckchen "bimmeln", muten im "heiligen Raum" ein wenig seltsam an und haben einen direktiven Charakter. Eine große Sanduhr, die den Kindern immer auch die noch verbleibende Zeit verdeutlicht, ist sehr viel geeigneter und dem Raum angemessener (Man denke an die Minutengläser an den Kanzeln, die die Geistlichen von allzu langen Predigten abhalten sollten!). Eine gute Ortskenntnis der Begleitpersonen und das Wissen um Grenzen und Möglichkeiten der Erkundung dieses Raumes sind wichtig und hilfreich. Sie sollten ihn im Vorfeld der Erkundung bereits einmal für sich selbst erschlossen haben, das gibt ihnen selbst und auch den Kindern Sicherheit. Dabei ergibt sich meist auch schon eine erste Gelegenheit, mit einer Aufsichtsperson der Gemeinde zu sprechen, um für das Projekt im Sinne der Kinder "zu werben".


Zeitraum

Im Kirchenraum angekommen, muss genügend Zeit vorhanden sein, um die gemeinsam gesteckten Ziele auch erreichen zu können. Andernfalls sind Frustrationen auf beiden Seiten unausweichlich und prägen nachhaltig die weiteren Einstellungen der Kinder zu Besuchen in der Kirche. Bei spontanen Aktionen, "weil da gerade mal zwei Stunden ausfallen" oder "weil übermorgen die Kirche unbesetzt ist", ist Vorsicht geboten: Sie können eine Eigendynamik entwickeln, die Kinder und Erwachsene gleichermaßen erfasst. Während für informelle und punktuelle Erkundungsabsichten auch kurze Zeiträume genügen können (die trotzdem sorgfältig im o.g. Sinne geplant werden), beanspruchen sinnliche Erfahrungen im Kirchenraum, wie z.B. dort selbst gemeinsam ein "einfaches" Labyrinth anzulegen4, einen großzügigen Zeitrahmen.
 

Praxis-Tipp: Ein "Dankeschön-Strauß"

Eine einfache, aber sehr wirkungsvolle Möglichkeit zur Annäherung der Kinder an einen Kirchenraum bietet zu Beginn der Erkundung ein Gang zu den Plätzen und Dingen in der Kirche, die die Kinder spontan ansprechend, schön oder spannend finden. An diese Plätze können die Kinder mitgebrachte Blumen oder Zweige legen. Die "blumigen Plätze" werden nacheinander aufgesucht und die Kinder erzählen sich, was sie dort anziehend finden. Im Anschluss an die Kirchenerkundung werden als Abschiedsritual alle Zweige wieder von den verschiedenen Orten zurückgeholt und als großer Strauß in eine Vase auf den Boden, oder bei Blumen auf einen Altar gestellt. So hinterlassen die Kinder auch Spuren von ihrem Besuch in der Kirche und gestalten sogar ein Stück des Kirchenraumes aktiv mit. Die Blumen können die Kinder gut selbst mitbringen zu ihrem Besuch in der Kirche. Das ist eine viel intensivere Geste als mitgebrachte Zweige der Lehrkraft oder Kirchenpädagogin. Außerdem bietet ein Satz im Einladungsschreiben wie "Mitzubringen ist bitte eine Blume (aus eurem Garten)" gleich einen Anknüpfungspunkt für Gespräche oder stellt ein Spannungsmoment des Besuches dar. "Sonst nimmt man doch gern Maßbänder oder ein Fernglas mit – warum denn heute eine Blume?"


Raum-Inhalt
Wenn die Gründe für den Kirchenbesuch nicht in der Kirche selbst, sondern von einem "Thema von außerhalb" wie einer Ausstellung oder der Besichtigung der lebensgroßen Krippenfiguren bestimmt ist, kann nicht auch noch gleichzeitig damit die Kirche im Schnellverfahren erschlossen werden. Solches Vorgehen wird den Kindern, dem Thema und der Kirche nicht gerecht.
 

Praxis Tipp: Der Korb mit den geheimnisvollen Gegenständen

Gut bewährt hat sich in der Praxis immer wieder beim Zugang zu speziell ausgewählten Fragestellungen eine sorgfältige Auswahl von entsprechenden Symbolen, Abbildungen oder einer Erzählfigur, die diesen Inhalt erschließen hilft. Für Kinder ist es spannend zu erfahren, was eine Kerze, ein Krug mit Wasser, ein Stück Seife und ein weißes Handtuch mit der Taufe zu tun haben können. Eine Besichtigung des Taufsteins in einer Kirche kann so weit über ein kurzes Sachgespräch zum Thema Taufe hinausgehen. Erinnerungen an die eigene Taufe können lebendig werden, wenn vielleicht auch Fotos von Kindertaufen, entsprechende Kleidung oder Taufurkunden zu bestaunen sind. Ähnliche Erschließungswege bieten sich für viele religionspädagogische Inhalte an, die im Kirchenraum präsent und lebendig sind.


Die Literatur zur Kirchenpädagogik mit Kindern bietet eine Fülle von Anregungen zu einer Kirchenerkundung, deren Schwerpunkt auf der Wissensvermittlung liegt. Wie sieht der Raum objektiv aus? Wie groß ist die Kirche? Wie hoch? Wie alt? Wie viele Säulen hat sie? Wie viele Menschen finden in der Kirche Platz? Dies sind klassische Fragen einer sogenannten Kirchenrallye.

Die Kinder sammeln bei dieser Art der Erkundung Informationen, ohne diese in einen inneren Zusammenhang zu bringen oder sie auf ihr eigenes Leben übertragen zu können. Gerade bei jüngeren Kindern zeigt sich immer wieder, wie bedeutungslos Zahlen für sie sind, da ihr mathematisches Denken noch nicht ausgereift ist. Der Tatsache, dass die Kirche fast 500 Jahre alt ist, messen sie keine besondere Bedeutung bei und können sie gar nicht in ihre Alltagserfahrung integrieren.

Ein "Lernen als relativ dauerhafte Verhaltensänderung aufgrund von Erfahrung" ist das Messen, Zählen und Suchen im Kirchenraum nicht.
 

Praxis-Tipp:

Wenn Kinder eine Kirche betreten, können sie den Raum für sich entdecken auch ohne Fragebogen und Skizzenblock. Sie tun dies, indem sie ihn in Ruhe wahrnehmen und auf sich wirken lassen. Man kann ihnen dazu einige wenige Impulsfragen mit auf den Weg geben: Wie ist es hier in diesem Raum für mich? Wo ist der für mich angenehmste Platz in dieser Kirche? Was macht diesen Ort für mich so angenehm – das Sonnenlicht, die Behaglichkeit einer Höhle, die bunten Glasfenster vor meinen Augen? Ob das die Menschen früher auch schon so empfunden haben und deshalb z.B. den Altar nach Osten, zur aufgehenden Sonne hin gebaut haben? Wenn jedes Kind seinen Lieblingsplatz, sein "schönstes Ding" im Raum entdeckt hat, zeigen sich die Kinder in einer Partnerübung gegenseitig diese "Schätze", die sie selbst in der Kirche entdeckt haben. An alles, wozu die Kinder Fragen haben, legen sie kleine Fragezeichen. Nachher kann man sich gemeinsam auf den Weg durch die Kirche machen, von Fragezeichen zu Fragezeichen. Auch die Lehrerin/Diakonin darf natürlich eine Frage haben, vielleicht sogar eine "echte": Wie hoch ist eigentlich dieser Kirchenraum hier? Die Höhe mit einem gasgefüllten Luftballon festzustellen ist sicher auch schon eine gute Erfahrung.5  "Was, so lange dauert es, bis der Ballon an die Decke stößt?"

Wenn die Kinder aber feststellen, dass das Band so lang ist wie fünfzehn von ihnen dicht an dicht in einer langen Schlange auf dem Boden liegend, nehmen sie sicher eine relativ dauerhafte Erfahrung mit in ihren Alltag hinein.


Freiraum

Der Besuch in einer Kirche muss jedem und jeder Einzelnen Zeit lassen, ganz eigene Erfahrungen für sich ganz persönlich zu sammeln. Die Zeit im Kirchenraum darf nicht bis zur letzten Minute gefüllt werden mit Arbeitsaufträgen, Spielen oder Gesang, auch wenn all das noch so schön ist. Die Kinder sollen die Möglichkeit haben, den Besuch zu einem für sie unverwechselbaren, ganz und gar einzigartigen Erlebnis werden zu lassen.


Erfahrungsraum

Dem Erlebten wird noch Zeit und Raum gegeben, nachzuwirken und langsam auszuklingen, bevor man sich gemeinsam wieder auf den Weg nach draußen begibt. Eine sorgfältige und liebevolle Auswertung oder Dokumentation des Besuches ist für die Kinder ganz besonders wichtig. Rasch am Ausgang eingesammelte Fragebögen, die keines Blickes gewürdigt erst mal in der Tasche der Begleitperson verschwinden, geben Aufschluss über die Bedeutung, die das Tun und Erleben der Kinder bzw. seine Dokumentation für diese Lehrkraft oder Kirchenführerin hat. Können die Kinder im Raum selbst sichtbare Spuren hinterlassen an einer Malwand oder in einem Gästebuch, spüren sie, dass das, was sie in der Kirche erlebt haben, dort gut aufgehoben ist. Und wie schön ist es, beim Wiederkommen den eigenen Namen, die eigene Zeichnung, den eigenen Handabdruck wieder zu entdecken!
 

Praxis-Tipp: Das Kinder-Gästebuch

Wenn Sie regelmäßig in einer Kirche zu tun haben, legen Sie doch selbst ein "Kinder-Gästebuch" an. Dazu bietet sich ein großformatiges Buch mit festen Seiten an, z.B. ein Fotoalbum. Wenn es die technischen Möglichkeiten gestatten und ein Pfarrbüro in unmittelbarer Nähe ist, kann man schon vor dem Kirchenportal ein Gruppen- oder Aktionsbild von den Kindern mit Hilfe einer Digitalkamera aufnehmen. Während die Kinder den Kirchenraum erleben, können Sie das Foto ausdrucken (lassen). Zum Abschluss des Besuches präsentieren Sie den Kindern die "Momentaufnahme", sie wird ins Gästebuch eingeklebt und alle Kinder können sich rund ums Bild "verewigen".

Eine einfache, aber auch sehr schöne Variante: Jedes Kind hinterlässt seinen Namen und einen Fingerabdruck (Stempelkissen) im Kindergästebuch oder den Handumriss, von Freundin oder Freund aufgezeichnet. Ausreichend Zeit ist allerdings erforderlich. Etwas schneller geht es, wenn die Hände auf Einzelblätter gezeichnet und nachträglich eingeklebt werden.


Übergangsraum

Ein Kirchenbesuch geschieht nicht im luftleeren Raum, sondern im Zusammenhang mit etwas, was davor geschah, und etwas, was ihm folgen wird. Dies ist bei der Planung von Kinderkirchenerkundungen wichtig zu bedenken. Was ging dem Kirchenbesuch inhaltlich oder gruppendynamisch voran, das die Kinder vielleicht noch beschäftigt oder ganz in Anspruch nimmt? Was wird sich anschließen? Kann es eine Fortsetzung geben, in diesem Raum oder in einem anderen religiösen Gebäude? Wie lassen sich die verschiedenen Erfahrungen miteinander verbinden? Was können die Kinder ganz konkret bei einem nächsten Besuch einbringen bzw. mitbringen, um ihre bereits vorhandenen Erfahrungen zu erweitern? Dies ist eine geeignete Schnittstelle zu methodisch-didaktisch ausgerichteten Erfahrungen in der Kirche mit Klang (Instrumente von den Kindern mitbringen lassen), mit Malerei oder mit Raumgrenzen.
 

Praxis-Tipp: Nah-Aufnahme

Kinder bringen eine Vielzahl von Vor-Erfahrungen mit, wenn sie eine Kirche besuchen. Was sie beschäftigt und bewegt, worauf ihr besonderes Augenmerk liegt, können sie ausdrücken in einer "Nah-Aufnahme". Mit Zettel und Stiften werden sie im Kirchenraum ausgesandt, um ein winziges Detail so skizzenhaft festzuhalten, dass es für die anderen gut erkennbar ist. Dann werden die Zettel untereinander ausgetauscht. Mit der Aufgabe, diese Nah-Aufnahme wiederzuerkennen, betrachten die Kinder nun den Raum mit den Augen der anderen. Es ist schön, wenn die Details von anderen entdeckt werden, und macht vertraut mit etwas, das man selbst noch gar nicht im Blick hatte.

Besonders den Blickwinkel der Erwachsenen erweitert es enorm, plötzlich scharfe Krallen von Löwen oder Adlern zu entdecken oder für Kinder rätselhafte Inschriften, ungelenk nachgezeichnet wie "Soli Deo Gloria".


Abschieds-Raum

Auch den Schlusspunkt einer Erkundungsreihe setzen Erwachsene und Kinder gemeinsam. Wenn die Entdeckerfreude der Kinder erloschen ist, wird keine noch so animierte und motivierte Veranstaltung sie noch begeistern oder auch nur interessieren können. Der Abschied von einem Raum, mit dem vielleicht für die Kinder ganz besondere Erfahrungen verknüpft sind, will auch sorgsam gestaltet werden. Möchten die Kinder gern etwas dort zurücklassen, ihre augenblicklichen Sorgen vielleicht? Oder mögen sie etwas mitnehmen, kann ihnen etwas geschenkt werden, das sie an ihre Erfahrungen im Kirchenraum erinnert? Hier eignen sich schlichte Rituale wie das Abstellen von Kerzen in einem Kreis oder Meditationen zu Erinnerungsstücken (wie z.B. Steine oder Bildkarten) besonders gut.
 

Praxis-Tipp: Festessen mit Brot und Trauben

Warum nicht eine ausgiebige Erkundung des Kirchenraums mit einem kleinen Festmahl beschließen? Warum nicht mit Brot und Trauben im Kreis vor dem Altar sitzen und diese in den Ornamenten mit Kelch, Trauben oder Ähren auf dem Parament wiederentdecken? Vielleicht gehört manchmal eine Portion Mut der Unterrichtenden dazu, dieses zu tun. Sicher aber eröffnet solch gemeinsames Tun und Reden neue Erfahrungen der Kinder mit einer ganz besonderen Weise, miteinander ein Mahl zu feiern. Ohne Achtsamkeit und Kompetenz der Begleitpersonen ist natürlich auch diese Anregung nicht verantwortungsvoll umzusetzen.


Raum zum Leben
Kirchenerkundungen dieser Art können in jedem religiös geprägten Raum geschehen. Sie sind unabhängig von Sehenswürdigkeiten und Attraktionen in renommierten Kirchenbauten überall dort möglich, wo der Glaube von Menschen Spuren hinterlassen hat und für sie bis heute bedeutsam ist. Jedes noch so schlichte Gemeindehaus im Siebziger-Jahre-Flair vermittelt Stimmungen und Bedeutungen eines christlichen Lebensraumes, die kein noch so multi-medial gestalteter Vortrag in Unterrichtsräumen zeigen und ersetzen kann. Auch in einem kühlen Stahlbetonbau kann durch einfühlsame und angemessene Impulse ein Funke auf die Kinder überspringen, unerwartet, durch einen vielleicht nicht einmal erkennbaren Anknüpfungspunkt.

Religionspädagogisch verantwortliche Kirchenerkundung im veränderten Miteinander von Erwachsenen und Kindern im Kirchenraum endet nicht auf der Schwelle zurück in den Alltag. Sie ist keine Dienstleistung an Kindern, die nach dem gemeinsamen Tun beendet ist. Sie begleitet die Kinder auch noch darüber hinaus.

 

Anmerkungen

  1. Rudolf Dreikurs: Kinder fordern uns heraus. Stuttgart, 12. Aufl. 2004 (1. Aufl. 1966).
  2. Ich beziehe mich hier auf Manfred Josuttis: Religion als Handwerk. Zur Handlungslogik spiritueller Methoden, Gütersloh 2002. Gleichwohl bleibt Richters Warnung wichtig: "Die Gefahren, die eine räumliche Festlegung mit sich bringt, dürfen nicht übersehen werden. Zu leicht entsteht die Vorstellung, dass er dort durch bestimmte Riten in den Griff zu bekommen sei" (Klemens Richter, Kirchenräume und Kirchenträume, Freiburg i.Br. 2. Aufl. 1998, S. 43).
  3. Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau, 5Aufl. 1920
  4. Auch in diesem Zusammenhang sollte sich von selbst verstehen, dass man nicht mit Kindern ein Labyrinth anlegt, einfach weil es so schön ist oder so aufregend. Die Kinder sind auf Zugänge angewiesen, die ihnen auch die Möglichkeit zu solchem Tun eröffnen. Vorbereitendes Tun am Tisch in Schule oder Gemeindehaus (z.B. das Nachfahren eines "Fingerlabyrinthes" auf einem Blatt Papier) ist ein wichtiger Bestandteil eines gelingenden Erschließungsprozesses.
  5. vgl. Ute Nicolai: Von Elfen, Klaftern und quirligen Baumeistern. In: Grundschule religion: 35. Jahrgang, Heft 3/2003, Braunschweig 2003, S. 13, und Thomas Klie: Der Religion Raum geben, Praxishilfe, S. 71

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2005

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