Naturwissenschaft und Glaube - Immer noch ein feindlicher Gegensatz? - Zum Verhältnis zwischen religiöser und naturwissenschaftlicher Bildung in der Schule*

von Bernhard Dressler

 

1. Bertolt Brecht: Entstehung des Menschengeschlechts aus dem Urschleim (Buch der Wendungen)

Gi fragte Me-ti, ob er glaube, dass das Menschengeschlecht sich aus dem Urschleim entwickelt habe. Me-ti antwortete ihm, der Gedanke habe für ihn, falls die Wissenschaft ihn vertrete, nichts Unangenehmes. Gi sagte, ein wenig enttäuscht: Ich begrüße den Gedanken leidenschaftlich, weil er der Idee eines persönlichen Schöpfers Eintrag tut. Tut er das? fragte Me-ti erstaunt. Haben Sie festgestellt, dass er das tut? Kümmert sich wirklich niemand um die Schöpfung des Urschleims von jenen Leuten, die da interessiert sind? Jedenfalls ist die Sache etwas abgebremst, entgegnete Gi ärgerlich. Aber die Zukunft des Menschengeschlechts entfaltet sich auf Grund dieses Gedankens doch in ungeahnten Möglichkeiten. Ach, sagte Me-ti begreifend, im Gegensatz zu jenen, die einen Gott an den Anfang von allem stellen, postiert ihr einen Gott an das Ende! Ich bin nicht völlig begeistert, offen gestanden, Götter ohne Menschen zum Quälen und Opferdarbringen sind etwas Halbes. Und um die Änderungen durchzuführen, die das Leben auf diesem Planten menschenwürdig machten, genügten Menschen durchaus.

Dieses kleine Prosastück steht geradezu exemplarisch für unser Thema. Freilich muss man - und dar-auf beruht der Lerneffekt - hinter die Verfremdungen schauen, mit denen Brecht im „Buch der Wendungen“ arbeitet: Hinter die Chinoiserien, den archaisierenden Sprachgestus, die Namensverschlüsselungen. Aus der Brechtschen Prosa in diskursive Sprache übersetzt, lässt sich sagen, dass es hier um das Problem der Ideologisierung naturwissenschaftlicher Aussagen in Form einer verkappten Religiosität geht. Auf höchst emotionale Weise (achten Sie einmal auf die Adjektive: „enttäuscht“, „leidenschaftlich“, „erstaunt“, „ärgerlich“) redet hier der Wissenschaftler Gi, der aus der Evolutionstheorie eine ganze Weltdeutung und ein politisches Fortschrittsprogramm herausziehen will. Der weise Meti kümmert sich gar nicht um die Frage, ob die Wissenschaft Gott als Schöpfer widerlegt. Er hält die Frage offensichtlich für nicht entscheidbar - und sie ist es auch wissenschaftlich in der Tat nicht. Von ganz anderem Interesse ist die hier die Frage nach dem Menschen als dem Schöpfer von Gottesbildern. Theologisch gesprochen: Es geht um die Verwechslung von Gott mit Bildern von Gott, die sich auch durch die Christentumsgeschichte zieht und sich wirkungsvoll bis ins 20. Jahrhundert hinein in vermeintlich nichtreligiösen Weltanschauungen fortsetzt; die Nation, die Geschichte, die Evolution, der wissenschaftliche Fortschritt erhalten dann jeweils quasigöttliche Qualität zugeschrieben. Eine Pointe des Textes besteht in der Verkehrung der üblichen Verbindung von naturwissenschaftlicher Rationalität und weltanschaulicher Nüchternheit; es ist gerade der Naturwissenschaftler, der seine Weltanschauung hier mit starkem Affekt und hohem Pathos formuliert.



Genesis 1 und das Bilderverbot (Exodus 20, 2-5)

Entgegen dem Vorurteil aufgeklärtmoderner Menschen hat die jüdischchristliche Tradition mittels der Wirkungsgeschichte ihres Weltbildes naturwissenschaftliche Forschung nicht etwa bis in die Neuzeit hinein behindert, sondern allererst ermöglicht. Die Bibel hat allerdings zugleich die Naturwissenschaften auf Grenzen verwiesen: Es steht ihnen nicht zu, die Welt als ganze erklären, deuten und würdigen zu können. Dafür stehen exemplarisch die erste biblische Schöpfungsgeschichte (Gen 1) und das sog. „Bilderverbot“ im Dekalog (Ex 20, 2-5).

Zu Gen 1: Gleich in den ersten Zeilen der Bibel begegnet uns ein Programm, das uns aus dem 20. Jahrhundert unter dem Namen „Entmythologisierung“ bekannt ist: Gott ruft die Welt souverän aus dem Nichts ins Dasein. Am Anfang stehen keine Götterkämpfe wie in vielen anderen Schöpfungsmythen, so z. B. auch im Enuma-Elisch, dem babylonischen Schöpfungsmythos, aus dem Gen 1 zwar das Vorstellungsmaterial seines Weltbildes bezieht, das aber radikal umgedeutet wird. Gott ist nicht, wie in anderen Mythologien, in die Welt verstrickt und ihren Gesetzen unterworfen. Gestirne sind keine Götter, sondern Lampen - eine außerordentliche Provokation im Angesicht der babylonischen Naturfrömmigkeit! Gen 1 zieht einen klaren Trennungsstrich: Die Welt ist Welt und Gott ist Gott. Keine mythischen Mächte durchwalten die Natur; nichts wovor man sich zu fürchten hätte, das man magisch und durch Opfer zu besänftigen hätte, nichts aber auch, dessen man sich dadurch manipulativ bemächtigen könnte. Nichts Innerweltliches hat göttliche Qualität: Weder Sterne noch Könige, weder Natur noch Herrschaftssysteme, weder Völker noch Geschichte. Modern gesprochen: Genesis 1 ist, darin exemplarisch für den breiten Unterstrom der Bibel, ein Urdatum der Ideologiekritik, der Kritik an totalitären Konzepten, mit denen Menschliches sich zu Unbedingtem, zu Göttlichem aufbläht.

„Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht!“. Das biblische Bilderverbot richtet sich offenbar ursprünglich gegen Kultbilder, gegen die Verwechslung des lebendigen Gottes mit dem toten Material seiner Abbilder. Wirkungsgeschichtlich hat sich das „Bilderverbot“ aus diesem ursprünglichen Bezug herausgelöst und verallgemeinert. Es wurde verstanden als Grenzziehung gegen die Verortung, gegen die Feststellung Gottes, gegen den menschlichen Wunsch nach Verfügung über Gott. So sind sich z. B. Immanuel Kant und in diesem Jahrhundert Theodor W. Adorno und Max Horckheimer an diesem Punkt mit der christlichen Theologie einig: Das „Bilderverbot“ richtet sich nicht nur gegen Bilder, sondern auch gegen die Begriffe, mit denen wir die Welt als ganze (und darin eingeschlossen Gott) feststellbar, verfügbar, berechenbar, handhabbar zu machen versuchen.

Beide biblischen Schlüsseltexte lassen sich so resümieren: Die Welt wird als Welt dem Menschen freigegeben, er soll sie bebauen und bewahren; zugleich aber auch soll ihr letztes Geheimnis gewahrt bleiben, wodurch sie als Schöpfung Gottes qualifiziert und dem Zugriff menschlicher Totalverfügung entzogen wird.



3. Kurze Zwischenbemerkung über das „Sitzen zwischen allen Stühlen“.

Aus Gründen, die hier nicht im einzelnen erörtert werden können, boomt gegenwärtig Religion. Dieser Boom geht aber weitgehend am Christentum vorbei, er äußert sich vor allem in einem wachsenden Interesse an Esoterik, wobei häufig Naturphänomene religiös gedeutet werden. Der christliche Glaube gerät in eine Klemme, die nicht ohne Ironie beschrieben werden kann: Die Christentumskritik scheint nämlich den Spieß umzudrehen; statt als obskurer Aberglaube, als Gegner der Aufklärung, wird der christliche Glaube immer häufiger als Komplize einer abgewirtschafteten, aufgeklärten Vernunft kritisiert. Schon in den 70er Jahren gehörte z. B. das Buch von Carl Améry über „Die gnadenlosen Folgen des Christentums“ zum geläufigen Repertoire des Religionsunterrichts in der Oberstufe. Darin zieht Carl Améry eine direkte Linie zwischen dem biblischen Naturverständnis und der ökologischen Krise. Die heute übliche Kritik des westlichen Zivilisationsmodells greift immer weniger im alten konservativen Sinne auf sog. „Werte“ des sog. „christlichen Abendlandes“ zurück, sondern identifiziert umstandslos die problematischen Seiten unserer Kultur mit der christlichen Tradition. Besonders deutlich kann man diese religiös überhöhte Zivilisationskritik beispielsweise am sog. „Matriarchats-Feminismus“ erkennen, der - anders als der sog. „Egalitäts-Feminismus“ - auf archaisch weibliche Naturgottheiten rekuriert. Das Christentum gerät heute zwischen alle Stühle und kann es niemandem mehr recht machen, es droht zerrieben zu werden zwischen einem platten Rationalismus auf der einen und raunender Esoterik auf der anderen Seite.



4. Die Krise der modernen Rationalität und ihres Zivilisationsmodells.

Ich nenne nur einige wenige Stichworte - Ökologie, Atomkraft, Aids, BSE usw. -, um ein Grundthema unserer gegenwärtigen sozialkulturellen Selbstreflexion anzureißen: Unsere Naturbeherrschung hat unkalkulierbare Folgen und Risiken, sie ist offensichtlich nicht grenzenlos. Mit den Grenzen der Machbarkeit rückt zugleich die Einsicht in die Endlichkeit des Menschen in unseren Aufmerksamkeitsmittelpunkt. Das ist mehr als nur ein Problem des Naturschutzes und des sparsamen, schonenden Umgangs mit natürlichen Ressourcen. dass wir Zeitzeugen einer Krise der modernen Zivilisation und ihrer weltanschaulichen (aufklärerischen) Voraussetzungen sind, wird seit ca. 20 Jahren mit dem Begriff der „Wendezeit“ bezeichnet. Max Weber hat am Beginn unseres Jahrhunderts, übrigens nicht ohne bewussten Bezug auf das, was ich gerade am Beispiel von Gen 1 angesprochen habe, die „Entzauberung der Welt“ als die Voraussetzung für die wissenschaftlichtechnische Kultur der Neuzeit und deren weltweiten Sieg analysiert. Spätestens mit der ökologischen Krise und der atomaren Selbstvernichtungsdrohung wird nun aber die Entzauberung selbst entzaubert. Damit zugleich werden Wiederverzauberungsbedürfnisse wach. Im Extremfall führt das gegenwärtig zu einem grundsätzlichen Mißtrauen gegen alles Rationale und zu einer neuen Begeisterung für alles Mythische, Magische, Esoterische, Okkulte. Mit gewissem Recht kann man hierzu auch die erstarkenden religiösen Fundamentalismen rechnen.

Die Situation ist natürlich höchst widersprüchlich: Denn wir leben ja weiter nach den Regeln einer wissenschaftlichtechnisch geprägten Alltagswelt, auch wenn wir die Krise der ihr zugrundeliegenden Rationalität zu erkennen meinen. Diese widersprüchliche Situation spiegelt sich in der manchmal geradezu paradoxen Gleichzeitigkeit von Wissenschaftsglaube, Rationalitätskritik und neoreligiösen Suchbewegungen. Zur Charakterisierung dieser Situation reichen vielleicht ein paar Schlaglichter: So reden heute beispielsweise (fast) alle von der Schöpfung, aber kaum jemand redet vom Schöpfer. Oder denken Sie an die Dinosaurier-Faszination bei Grundschulkindern, worin sich auf merkwürdige Weise eine naive Wissenschaftlichkeit mit den Mustern von Fantasy- und Horror-Filmen verbindet.

Heute darf nicht mehr geglaubt werden, was nicht gewusst werden kann. Da aber kein Wissen voraussetzungslos ist, kein Wissen ohne ein Axiom, eine unbeweisbare Unterstellung apriori, eine Intuition, d. h. ohne eine letztlich geglaubte Annahme möglich ist, entledigt sich das Wissen ohne Glauben seiner eigenen Grundlage. Ein Blick in die Esoterik-Regale jeder Buchhandlung genügt: Wissenschaftsglaube verbindet sich heute mit einer ungeheuren Leichtgläubigkeit. Atlantiskulte, die außerirdische Herkunft der Menschheit, das Geheimwissen der Schamanen, Regentänze - jeder Irrationalismus wird geglaubt, wenn er sich nur in der Form eines (Geheim)-Wissens artikuliert. Argumentative Beglaubigung wird weitgehend überflüssig. Mancher spekulative Schwachsinn wird für wahr gehalten, während zugleich traditionelle religiöse Überlieferungen strengsten Einwänden ausgesetzt werden, die ihrerseits wiederum nicht nur in exaktwissenschaftlichem Gewande auftreten müssen, sondern wildeste Spekulationen sein dürfen (egal, ob - um wiederum nur ein paar Beispiele zu nennen - Jesus nach einer Qumran-Episode als alter Mann in Rom starb, oder ob er sich in Indien niederließ und dort Guru wurde, oder ob es ihn gar nicht gegeben hat). Ich sagte: Alles, was nicht gewusst werden kann, darf auch nicht mehr geglaubt werden. Da aber mit diesem Grundsatz bewusstes Leben unmöglich wäre, wird er einfach umgedreht: Jeder mögliche Glaube stellt sich als Wissenschaft dar.



5. Wissenschaftstheoretischer Exkurs: Welcher naturwissenschaftlicher Rationalitätstypus gerät heute an seine Grenzen?

Der Beginn der neuzeitlichen Naturwissenschaft wird markiert durch das Ende anthropomorpher Vorstellungen, die zwischen bewusstem Leben und Naturphänomenen Analogien herstellten. Ein Beispiel: Im Mittelalter wurde die Frage, warum Gegenstände im freien Raum auf kürzestem Wege nach unten fallen, mit dem „horror vacui“ erklärt; die „Angst vor der Leere“ treibt alle Gegenstände dazu, schnellstmöglich wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Um 1600 herum fragt dagegen der große Naturforscher Galileo Galilei nicht mehr nach dem Warum, sondern nur nach dem Wie, und dieses Wie soll mathematisch darstellbar sein. An die Stelle der poetischen Metapher vom „horror vacui“ setzt Galilei die Fallgesetze. Analoge Sprache wird durch digitale Sprache abgelöst. Die Welt wird bloßer berechenbarer Stoff und damit technisch beherrschbar: Sie wird als Maschine vorstellbar. Später dann kamen die französischen Enzyklopädisten konsequent auch zur Vorstellung vom Menschen als „l’homme machine“.

Galileis Bedeutung lag übrigens nicht so sehr darin, dass er das kopernikanische Weltbild bestätigt hat. Nicht zuletzt auf dieser Fehleinschätzung beruht die Legende, Galilei sei im Kampf mit der katholischen Kirche zum „Märtyrer“ der modernen Naturwissenschaft geworden. Wenn man sich die Texte der Auseinandersetzung zwischen Galilei und dem Vatikan unvoreingenommen ansieht, gelangt man zu einem differenzierteren Urteil. Es gab gebildete Renaissance-Kardinäle, wie z. B. Bellarmin, die die vergleichsweise moderne Position vertraten, Galilei dürfe durchaus behaupten, die Erde drehe sich um die Sonne, wenn er diese Behauptung nicht als bewiesene Wahrheit, sondern als Hypothese darstelle. Tatsächlich funktionierten auch die alten Berechnungsgrundlagen des ptolemäischen Weltbildes noch einige Zeit viel genauer, weil Galilei planetarische Kreisbahnen annahm, bis dann die von Kepler entdeckten elliptischen Umlaufbahnen tatsächlich zu einer vorher nicht gekannten rechnerischen Genauigkeit führten. Galileis Bedeutung ist weniger an das heliozentrische Weltbild gebunden, sondern daran, dass er als der „Erfinder“ mathematisch darstellbarer Naturgesetze gelten kann.

Auszug aus: R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften

Fragt man sich unbefangen, wie die Wissenschaft ihre heutige Gestalt bekommen hat - was an und für sich wichtig ist, da sie uns ja beherrscht und nicht einmal ein Analphabet vor ihr sicher ist, denn er lernt es, mit unzähligen gelehrt geborenen Dingen zusammen zu leben -, so erhält man schon ein anderes Bild. Nach glaubwürdigen Überlieferungen hat das im sechzehnten Jahrhundert, einem Zeitalter stärkster seelischer Bewegtheit, damit begonnen, dass man nicht länger, wie es bis dahin durch zwei Jahrtausende religiöser und philosophischer Spekulation geschehen war, in die Geheimnisse der Natur einzudringen versuchte, sondern sich in einer Weise, die nicht anders als oberflächlich genannt werden kann, mit der Erforschung ihrer Oberfläche begnügte. Der große Galileo Galilei, der dabei immer als erster genannt wird, räumte zum Beispiel mit der Frage auf, aus welchem in ihrem Wesen liegenden Grund die Natur eine Scheu vor leeren Räumen habe, so dass sie einen fallenden Körper solange Raum um Raum durchdringen und ausfüllen lasse, bis er endlich auf festem Boden anlange, und begnügte sich mit einer viel gemeineren Feststellung: er ergründete einfach, wie schnell ein solcher Körper fällt, welche Wege er zurücklegt, Zeiten verbraucht und welche Geschwindigkeitszuwüchse er erfährt. Die katholische Kirche hat einen schweren Fehler begangen, indem sie diesen Mann mit dem Tode bedrohte und zum Widerruf zwang, statt ihn ohne viel Federlesens umzubringen; denn aus seiner und seiner Geistesverwandten Art, die Dinge anzusehen, sind danach - binnen kürzester Zeit, wenn man histo-rische Zeitmaße anlegt, - die Eisenbahnfahrpläne, die Arbeitsmaschinen, die physiologische Psychologie und die moralische Verderbnis der Gegenwart entstanden, gegen die sie nicht mehr aufkommen kann. Sie hat diesen Fehler wahrscheinlich aus zu großer Klugheit begangen, denn Galilei war ja nicht nur der Entdecker des Fallgesetzes und der Erdbewegung, sondern auch ein Erfinder, für den sich, wie man heute sagen würde, das Großkapital interessierte, und außerdem war er nicht der einzige, der damals von dem neuen Geist ergriffen wurde; im Gegenteil, die historischen Berichte zeigen, dass sich die Nüchternheit, von der er beseelt war, weit und ungestüm wie eine Ansteckung ausbreitete, und so anstößig das heute klingt, jemand von Nüchternheit beseelt zu nennen, wo wir davon schon zu viel zu haben glauben, damals muss das Erwachen aus der Metaphysik zur harten Betrachtung der Dinge nach allerhand Zeugnissen geradezu ein Rausch und Feuer der Nüchternheit gewesen sein!

Man kann gleich mit der eigenartigen Vorliebe beginnen, die das wissenschaftliche Denken für mechanische, statistische, materielle Erklärungen hat, denen gleichsam das Herz ausgestochen ist. Die Güte nur für eine besondere Form des Egoismus anzusehen; Gemütsbewegungen in Zusammenhang mit inneren Ausscheidungen zu bringen; festzustellen, dass der Mensch zu acht oder neun Zehnteln aus Wasser besteht; die berühmte sittliche Freiheit des Charakters als ein automatisch entstandenes Gedankenanhängsel des Freihandels zu erklären; Schönheit auf gute Verdauung und ordentliche Fettgewebe zurückzuführen; Zeugung und Selbstmord auf Jahreskurven zu bringen, die das, was freieste Entscheidung zu sein scheint, als zwangsmäßig zeigen; Rausch und Geisteskrankheit als verwandt zu empfinden; After und Mund als das rektale und orale Ende derselben Sache einander gleichzustellen -: derartige Vorstellungen, die im Zauberkunststück der menschlichen Illusionen gewissermaßen den Trick bloßlegen, finden immer eine Art günstiger Vormeinung, um für besonders wissenschaftlich zu gelten. Es ist allerdings die Wahrheit, was man da liebt; aber rings um die blanke Liebe liegt eine Vorliebe für Desillusion, Zwang, Unerbittlichkeit, kalte Abschreckung und trockene Zurechtweisung, eine hämische Vorliebe oder wenigstens eine unfreiwillige Gefühlsausstrahlung von solcher Art.

Mit einem anderen Wort, die Stimme der Wahrheit hat ein verdächtiges Nebengeräusch, aber die am nächsten Beteiligten wollen nichts davon hören.

Ich habe diesen Text oft im Unterricht behandelt, einmal auch in einer Abiturklausur benutzt, und es war jeweils eine spannende Frage, wie die Schülerinnen und Schüler den Ernst, den Musil hier hinter der unschwer erkennbaren Ironie versteckt, einschätzten.

Zusammenfassend kann man sagen, dass das neue naturwissenschaftliche Denken bei Galilei durch folgende Merkmale charakterisiert ist:

  • Es wird nur das erfasst, was mit Hilfe mathematischer Regeln darstellbar ist; damit verbindet sich ein folgenreicher Reduktionismus. So können z. B. die Fallgesetze präzise beschreiben, mit welcher Beschleunigung schwere Körper unter bestimmten Bedingungen fallen; die Poesie fallenden Laubes, die Einzigartigkeit, mit der jedes einzelne Blatt vom Baum fällt, entzieht sich freilich dieser Darstellungsweise.
  • Die Natur antwortet nur auf Fragen, die ihr gestellt werden; hierzu wird bezeichnenderweise das Modell der „peinlichen Befragung“ in der Folter schon durch Francis Bacon herangezogen.
  • Die Utopie vollkommener Naturbeherrschung verbindet sich mit der Rigidität menschlicher Selbstbeherrschung und Triebkontrolle.
  • Mit Galilei wird - wenn auch erst seit Descartes unter dieser Bezeichnung - ein „methodischer Atheismus“ zur Grundlage empirischer Wissenschaft. Dieser methodische Atheismus hat sein Recht, weil ohne ihn naturwissenschaftlichtechnisches Denken unmöglich wäre, denn mathematisierbare Naturgesetze haben nur dann einen Sinn, wenn systematisch nicht mit dem Eingreifen Gottes gerechnet wird. Der methodische Atheismus drängt aber tendenziell immer zu einem auch weltanschaulichen Atheismus.
  • Die Natur dieses Konzeptes ist eine „präparierte“ Natur; sie wird im Experiment zugerichtet: „Rein“ gibt es sie nicht einmal im Labor. Tatsächlich wird jeder empirische Naturwissenschaftler die „Verschmutzung“ seiner Meßergebnisse kennen; jede Kurvendarstellung bewegt sich innerhalb einer Streubreite.

Dieses Konzept wird, so könnte man Musils Einwand formulieren, dann problematisch, wenn mit ihm das Ganze der Welt verstanden werden soll, d. h. wenn es reduktionistisch wird: Dann gibt es - wie die reduktionistische Standardformel lautet - „nichts anderes als“ das, was durch einen - eben mathematischen - Rationalitätstyp erfassbar ist.

Ich stelle eine kleine Zwischenfrage: Ist dieses Denkmodell abhängig von Genesis 1? Führt nicht von da eher der Weg zurück zu einer vergöttlichten („divinisierten“) Natur? Es war der große Newton, die epochale naturwissenschaftliche Gestalt, der meinte, in den Naturgesetzen unmittelbar Gottes Gedanken lesen zu können.

Seinen Höhepunkt fand der Reduktionismus im naturwissenschaftlichen Weltbild des 19. Jahrhunderts, am deutlichsten in der Popularisierung durch E. Haeckel, dessen Schriften später von Ernst Bloch wenig liebenswürdig als „Aufkläricht“ bezeichnet wurden. Dieses Weltbild war erstens szientistisch (für den Szientismus gibt es nichts als das, was wissenschaftlich feststellbar ist); es war zweitens mechanistisch (es unterstellt einen raumzeitlich geschlossenen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang; das Kausalitätsprinzip wird linear gedacht, ohne Rückkopplungen usw.; die Welt mit ihren Gesetzen existiert bewusstseinsunabhängig; es gibt sie objektiv, auch ohne uns).

Charakteristisch ist die als „Laplacescher Dämon“ bekanntgewordene Gedankenfigur: Wenn es irgendwo auf der Welt ein Wesen gäbe, das zu einem gegebenen Zeitpunkt alle Vorgänge im Universum erkennen könnte, könnte dieses Wesen sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft vollständig berechnen. Auf die Frage Napoleons, wo denn in dieser Welt Gott noch Raum behalte, gab Laplace die berühmte Antwort: „Sire, je n’ai pas besoin de cette hypothese“ („Majestät, ich benötige diese Hypothese nicht“). Es ist dieses mechanistische Weltbild, das seit vielen Jahrzehnten in unsere Alltagssprache eingesickert ist und auf diese Weise zur allgemeinen Weltanschauung geworden ist. Damit gewinnen nun religiöse Fragen ihre ganz bestimmte neue Färbung:
Bin ich gewollt und gemeint? Oder nur ein Rädchen in der großen Maschinerie des Universums?
Bin ich frei und in einem emphatischen Sinne handlungsfähig? Oder vollkommen determiniert und damit schuldunfähig?
Bin ich das, was die jüdischchristliche Tradition unter einer Person versteht? lässt sich die Unterscheidung zwischen „etwas“ und „jemand“ überhaupt noch treffen?



6. Das Christentum in der Defensive.

Das Christentum geriet gegenüber der mechanistischen Weltanschauung lange Zeit in die Defensive. Die Gründe dafür sind m. E. klar zu erkennen: Zum einen ein problematisches, supranaturalistisches Gottesbild, d. h. die analog zur menschlichen Subjektivität geformte Vorstellung eines „hinter“ der Welt steckenden, in ihre Abläufe eingreifenden Gottes; zum anderen das biblizistische „Für-wahr-halten“ der Bibel. Etwas steil könnte man es auch so ausdrücken: Die mit Luther eingeleitete Denkbewegung der protestantischen Theologie kam zu wenig zum Zuge, nämlich die Bewegung weg von statisch-metaphysischen Sachverhaltsspekulationen hin zur Verständigung in relationaldynamischen Glaubenskommunikationen. Der Versuch, sich auf die mechanistische Weltanschauung theologisch einzustellen, endete schlimmstenfalls mit der Ablehnung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse überhaupt; er endete bestenfalls bei dem von Dietrich Bonhoeffer so genannten „Lückenbüßergott“, einem Gott also, der die naturwissenschaftlich noch nicht erklärten Lücken ausfüllte, dessen Platz dabei freilich immer enger und ungemütlicher wurde.

Dann stellte sich im Laufe dieses Jahrhunderts im Verhältnis zwischen Theologie und Naturwissenschaft ein gewisser Fortschritt ein: Man entschied sich für eine schiedlichfriedliche Arbeitsteilung. Daran ist so viel richtig: Der Naturwissenschaft geht es um das Feststellbare, aber nicht um den Lebenssinn und den Sinn des Ganzen, nicht um Deutung und Würdigung der Welt, auch nicht etwa um die wichtige Dimension ästhetischer Wahrnehmung. Diese Arbeitsteilung geht einher mit dem, was Kulturhistoriker als das grundlegende Kennzeichen der „Moderne“ ausmachen: Komplexitätszuwachs und Ausdifferenzierung unterschiedlicher Rationalitätstypen und -sphären. Das Gute, das Wahre und das Schöne lassen sich nicht mehr zusammendenken und unter einen einheitlichen Maßstab stellen. Moralische, wissenschaftliche und ästhetische Fragen sind zu unterscheiden. Diese Ausdifferenzierungen muten unserem Urteils- und Unterscheidungsvermögen einiges zu, aber sie sind ein Gewinn. Man stelle sich nur einmal vor, der Papst hätte seinen Priestern nicht verboten, Aids als eine Geißel Gottes, als Strafe für die moderne Sittenverderbnis darzustellen, ähnlich, wie im Mittelalter die Pest gedeutet wurde! Mit diesen Ausdifferenzierungen verbindet sich die Unterscheidung sogenannter „Sprachspiele“ (Wittgenstein), nicht-kompatibler sprachlicher Kommunikationsformen und -bereiche. Ein Kunstwerk funktioniert nach anderen Regeln als eine Mathematikaufgabe oder ein ethisches Problem (freilich gibt es Übergänge: so kann z. B. ein mathematischer Beweis auch durch seine ästhetische Eleganz überzeugen). Übrigens wird auch das „Wahre“ noch einmal ausdifferenziert: Wir können z. B. unterscheiden zwischen „wirklich“, „richtig“ und „wahrhaftig“.

Die schiedlich-friedliche Arbeitsteilung war auf der Seite der Theologie und des Glaubens verbunden mit dem Gewinn, den Texten der Bibel auf neue Weise wieder gerecht zu werden: Sie verband sich nämlich mit der Entdeckung der metaphorischen, poetischen Sprache der Bibel. Ein Beispiel: Auf der Tatsachenebene liegen kaum zu harmonisierende Differenzen zwischen der „priesterschriftlichen“ Schöpfungsgeschichte in Genesis 1 und der vermutlich älteren Paradiesgeschichte in Genesis 2 vor; ein biblizistisches Verständnis kann sich daran die Zähne ausbeißen. Nun aber kann gesehen werden, dass es um das „sehr gut“ als Urteil über die Welt in Genesis 1 und um das „Bebauen und Bewahren“ als Auftrag an den Menschen in Genesis 2 geht, nicht um die Tatsächlichkeit der Erzählstoffe. Die „Geschichten“ sind keine „Berichte“. Ähnlich kreisen die Schöpfungspsalmen um das Lob der Schönheit der Welt, in ihnen artikulieren sich Dank und Klage, aber nicht so sehr Tatsachenerkenntnisse. Diesem Selbsteinschätzungsgewinn des christlichen Glaubens entspricht, spätestens seit der Jahrhundertwende, das wachsende methodische Grenzbewusstsein in den Naturwissenschaften selbst. Hier ist allerdings die vorhin erwähnte Ungleichzeitigkeit zu bedenken. Während nämlich das mechanistische Weltbild ins Alltagsbewusstsein einsickerte, war die moderne Physik längst darüber hinaus!



7. Das neue Grenzbewusstsein der Naturwissenschaften

Das neue Grenzbewusstsein hat wahrscheinlich am stärksten mit den Entdeckungen in der Physik seit Anfang unseres Jahrhunderts zu tun. Die Physik Newtons wird zum Spezialfall des „Mesokosmos“, also jener Naturphänomene mittlerer Größenordnung, die in der Reichweite unserer Sinne liegen. Die Gesetze dieser Physik gelten nicht im Mikro und Makrokosmos: Deren Phänomene sind völlig unanschaulich; sie entziehen sich den Mustern, mit denen unsere Sinneserfahrungen strukturiert sind. Die Vorgänge im subatomaren Bereich können wir uns ebensowenig anschaulich machen, wie das kosmische Raum-Zeit-Kontinuum. Noch wichtiger wurde vermutlich die von Heisenberg entdeckte „Unschärferelation“: Nun musste die Unanwendbarkeit des kausal-mechanistischen Naturgesetz-Begriffes auf den Mikrokosmos anerkannt werden. Sofern wir die „Gesetze“ des Mesokosmos erkennen können, funktionieren diese nur aufgrund statistischer Wahrscheinlichkeit im subatomaren Bereich, dessen Vorgänge zudem beobachtungsabhängig sind. Schließlich ist hier noch auf das sogenannte „Komplementaritäts“-Problem hinzuweisen: Das Licht kann, je nach experimenteller Beobachtungsapparatur, als Welle oder als Korpuskelstrahlung dargestellt werden. Das aber ist paradox, denn es kann nach unserem Alltagsverstand wie nach den Regeln der newtonschen Physik nicht beides zugleich sein.

Diese Erkenntnisse und Entdeckungen wurden in den 20er Jahren zugespitzt durch das Theorem des Mathematikers Goedel: Goedel wies für den Bereich naturwissenschaftlich-mathematischer Sprachsysteme nach, dass diese keinen letztgültigen AbSchluss erlauben. Das ist zwar nicht umstandslos auf nichtformale, natürliche Sprachen zu übertragen. Aber es stützt den Zweifel, ob es überhaupt eine vollständige und zugleich widerspruchsfreie Erfassung des Ganzen der Welt geben kann. Prinzipiell unterliegen alle unsere Weltbeobachtungen einer begrenzten Perspektivität. Jede Beobachtung hat einen blinden Fleck. Es ist zwar die Beobachtung einer Beobachtung einer Beobachtung ... denkbar, aber am Ende dieser unabschließbaren Reihe stünde die uns verschlossene Perspektive Gottes. Seit dem Goedelschen Theorem kann das neuzeitliche Projekt einer mathesis universalis, d. h. des Versuchs, alle Wirklichkeitsbereiche mit einem einzigen Typus von Rationalität zu erfassen, als widerlegt gelten. Die neuere Wissenschaftstheorie hat daraus den Schluss der Pluralität und Spezifität von Rationalität gezogen. Wissenschaftliche Theorien sind seither nur noch als menschliche Konstruktionen, als Modelle denkbar. Eine schöne Illustration dafür hat der Physiker Hans-Peter Dürr gefunden, indem er das experimentelle Instrumentarium des Naturwissenschaftlers mit dem Netz verglich, das ein Fischer ins dunkle Wasser wirft. Die Größe der gefangenen Fische gibt eher AufSchluss über die Maschengröße des Netzes, als dass wir daraus vollständige Aussagen über alle Lebewesen unter der Wasseroberfläche folgern dürften. Noch einmal: Die Naturwissenschaft gibt Antworten auf bestimmte Fragen - und der Bereich des Feststellbaren ist nicht die ganze Wirklichkeit.

 

Theorie und Hypothese
Wie jede umfassende Theorie, ist auch die heutige Theorie der Evolution und Genetik ein verwickeltes Netzwerk aus Tatsachenwissen, Hypothese und Deduktion. In die Kategorie gesicherter Tatsachen gehört die Evolution als solche: dass Arten sich ändern, dass sie in einer Serie von Veränderungen aus Ahnenformen erwachsen sind, und dass ihre Gesamtheit ein sich verzweigendes Familiensystem gemeinsamer Abkunft bildet, worin das Einfache dem Komplexen vorhergeht und Übergänge allmählich sind. Ebenfalls gesicherte Tatsache ist das Auftreten von Mutationen, nicht aber ihr Wesen, noch ihre Ursache. Die natürliche Zuchtwahl ist eine logische Deduktion aus den zwei Prämissen des Wettbewerbs und der Unterschiede der Wettbewerber, die ihrerseits Tatsachen sind. Der Zufallscharakter der Mutationen ist eine Hypothese: die Veranlassung mancher durch äußere Kräfte, z. B. durch Bestrahlung, ist eine Tatsache der Laboratoriumserfahrung; aber der erhobene Anspruch, dass diese repräsentativ für alle Mutationen und die ihnen zugrundeliegende Dynamik seien, ist ein bloßer Versuch mit Occams Rasiermesser; und schließlich, dass diese Art von Variabilität für das Zustandekommen der größeren taxonomischen Ordnungen ausreiche, ist vorläufig mehr eine metaphysische Behauptung (oder, nüchtern gesagt, ein methodologisches Postulat), als eine wissenschaftliche Hypothese - wenn „Hypothese“ die Konstruktion eines wenigstens gedanklich funktionierenden Modells einschließen soll. Alle diese Aspekte werfen philosophische Streitfragen auf, von denen wir einige namhaft machen wollen.

(Quelle: H. Jones, Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973)

 

Die „Objektivität“ der Naturwissenschaft
Naturwissenschaft unterscheidet sich von den Geisteswissenschaften nicht nur durch den Gegenstand, sondern vor allem auch durch die Methode, mit der sie sich ihrem Gegenstand nähert ... Die gewählte Methode legt die Forschung von vornherein auf eine bestimmte Sicht, auf einen gewissen Aspekt des Gegenstandes fest. Diese eine, der Methode allein zugängliche Seite des Gegenstandes ist das tatsächliche unmittelbare Objekt der Naturwissenschaft ...

Die Konzentration auf eine verhältnismäßig enge und besonders leicht zugängliche Seite der Wirklichkeit hat es der Naturwissenschaft ermöglicht, sehr weit vorzudringen und erstaunliche, bislang ungeahnte Gestalten, Kräfte und Zusammenhänge zu entdecken. Doch ändert auch diese eigenartige Tiefe der naturwissenschaftlichen Erkenntnis nichts an ihrer Einseitigkeit. Die Frage nach Leben, Seele, Geist, nach Schönheit, Güte, die letzten Fragen nach dem Sinn der Existenz, nach Sünde und Gerechtigkeit, bleiben unbeantwortet. Sie kommen im naturwissenschaftlichen Aspekt der Welt nicht vor. Innerhalb ihres Aspektes aber kann die Naturwissenschaft ... an keine äußere Grenze ihrer Auffassung stoßen; die durch die Methode vorgezeichnete Ebene ist bereits ihre Grenze ...

Die Menschen können sich über den physikalischen Aspekt der Dinge besonders leicht einigen. Es wäre aber ein Fehler zu meinen, nur das so Feststellbare sei real. Was sich uns im ästhetischen, ethischen oder theologischen Aspekt zeigt, ist nicht deshalb weniger wirklich, weil es stärker auf den jeweiligen Menschen Bezug nimmt. Relationen können ebenso real sein wie Prädikate oder Subjekte. Die „Objektivität“ der Naturwissenschaft ist ihre Intersubjektivität.
Sie besagt insbesondere nicht, dass die Physik die Dinge so zeigt, wie sie „an sich“ sind. Wir müssen sogar damit rechnen, dass die Gegenstände durch den Zugriff der naturwissenschaftlichen Methode verändert werden ... Die neuzeitliche Naturwissenschaft trägt in die von ihr zu erforschenden Dinge etwas Künstliches hinein, weshalb sie ihren Namen eigentlich nicht ganz zu Recht trägt.

(Quelle: G. Süßmann, Die Grenzen der physikalischen Erkenntnis, Göttingen 1970)

Den Modellcharakter naturwissenschaftlicher Theorien können wir uns schlagend klarmachen, wenn wir ihre Historizität bedenken. Dazu genügt ein kleines Gedankenexperiment: Wir fühlen uns mit mehr oder weniger Recht überlegen, wenn wir vom Niveau heutiger Naturerkenntnis auf das Mittelalter zurückschauen; wie aber mag unsere heutige Naturerkenntnis in der Rückschau aus - sagen wir - dem Jahre 2300 sich darstellen?

Der Szientismus wird heute erkennbar als ein Programm, dessen Plausibilität vom technischen Erfolg der Naturwissenschaften herrührt, das aber als Extrapolation naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auf alle Lebensphänomene selbst metaphysisch wird. Ein solcher szientistischer Metaphysiker ist Gi in der kleinen Szene am Anfang dieses Textes. So legt sich heute den Naturwissenschaften der Verzicht darauf nahe, selbst Glaube und Weltanschauung zu sein. Ein Beispiel für diese Selbstbescheidung ist der Philosoph Ludwig Wittgenstein. Im gleichen Buch (dem „tractatus logicophilosophicus“), mit dessen erstem Satz er scheinbar den Szientismus philosophisch begründet hatte („die Welt ist alles was der Fall ist“), zieht er eine scharfe Grenze: „Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort“. Und weiter: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische“. In ähnlichem Sinne sprach schon Kant von Fragen, die unsere Vernunft unablässig „belästigen“, obwohl wir doch ihre Unbeantwortbarkeit haben einsehen müssen. Für solche Fragen und Antworten haben wir, hier setze ich einen anderen Akzent als Wittgenstein, durchaus eine Sprache. Das spät oder nachmoderne Bild von Rationalität gibt dem Sprechen von Gott, einer kultischen Praxis und mythischen Erfahrungen neuen Raum. Es kommt nur alles darauf an, diese Sprache nicht mit der feststellenden Sprache der Naturwissenschaft zu verwechseln.

Die Frage nach dem Warum ist hierin hatte Galilei intuitiv recht - prinzipiell nicht wissenschaftlich beantwortbar. Dennoch hören wir nicht auf, über die Frage nach dem Warum nachzudenken und zu sprechen. Eben damit kommt Religion zu ihrem Recht.

Nehmen wir einmal an, wir würden das „allumfassende“ Gesetz der Natur finden, nach dem wir suchen, so dass wir schließlich voller Stolz versichern könnten: So und nicht anders ist die Welt aufgebaut - sofort entstünde eine neue Frage: Was steht hinter diesem Gesetz, warum ist die Welt gerade so aufgebaut? Dieses Warum führt uns über die Grenzen der Naturwissenschaft in den Bereich ... der Religion. Als Fachmann sollte ein Physiker ... antworten: Wir wissen es nicht, wir werden es niemals wissen. Andere würden sagen, dass Gott dieses Gesetz aufstellte, als er das Universum schuf. Ein Pantheist wird vielleicht sagen, dass das allumfassende Gesetz eben Gott sei. Wir werden nicht zu entscheiden versuchen, welche Antwort am meisten befriedigt; denn dieses Problem liegt außerhalb der Naturwissenschaften. Wenn seine Lösung für ein Gesamtwissen unserer Welt von Bedeutung ist - dann müssen wir antworten, dass die Naturwissenschaften nicht imstande sind, dieses Gesamtwissen zu liefern...
H. Alfvén, Nobelpreisträger für Physik, 1970)



8. Einige neuere Beispiele für das Ende des mechanistischen Weltbildes

Soweit ich es als naturwissenschaftlicher Laie überblicken kann, wird die begrenzte Reichweite mechanistischer Vorstellungen an den Schwerpunkten naturwissenschaftlichen Forschens immer deutlicher: Denken Sie z. B. an die sogenannte Neurophysik, die sich dem Rätsel (oder besser: dem Geheimnis) des Bewusstseins widmet. Wie verwandelt sich das Wasser der neuronalen Aktivität in den Wein des bewussten Erlebens? Offensichtlich ist das Bewusstsein nicht durch physiologische Beschreibungen erfassbar. Selbst wenn es uns gelänge, unsere Gehirnaktivitäten wissenschaftlich vollständig zu beschreiben, würde eine solche Außenperspektive mit dem, was wir erleben, niemals zur Deckung zu bringen sein. Der englische Philosoph Thomas Nagel ist zu dieser Schlussfolgerung in einem vielbeachteten Aufsatz gelangt, den er mit dem bezeichnenden Titel „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ überschrieben hat. Viele Hirnforscher räumen ein, dass zwischen Gehirn und Geist eine explanatorische Kluft unüberwindlich zu sein scheint. Es gibt keinen zwingenden, beschreibbaren Zusammenhang zwischen Materie und Geist, der dem Auftauchen des Bewusstseins das Überraschungsmoment nehmen würde. Die Naturgeschichtler, die nach dem Entstehen von Bewusstsein bei den Vorfahren der Spezies homo sapiens fragen, behelfen sich hier bezeichnenderweise mit der Metapher von sogenannten „Emergenzen“.

Freilich stoßen wir im Zusammenhang der Hirn-Computer-Forschung weiterhin auf zum Teil absurde Fragestellungen. So etwa, wenn vom Standpunkt eines materialistischen Monismus heute nach dem Geist des Computers gefragt wird und eine unbeseelte Maschine anthropomorph gedeutet wird. Ich vermute, dass diese Fragestellung nur möglich ist, weil zuvor der Mensch zur unbeseelten Maschinerie gemacht wurde, wenn sein Gehirn analog zum Computer verstanden werden sollte. Man stößt an die Grenzen mechanistischer Modelle, bleibt aber dem Fragezusammenhang der Machbarkeit verschrieben, und dreht so eine bemerkenswerte Pirouette auf das Glatteis der Erkenntnis: Der Mensch wird sich zwar selbst zum Anthropomorphismus, aber die Maschine wird zum Geistwesen.

Gegenwärtig finden die Konzepte der sogenannten Selbstorganisations- oder Autopoiesistheorien besondere Beachtung. Sie entziehen sich am radikalsten den mechanistischen Theorien. Populär gewordene Beispiele bietet die sog. Chaos-Forschung: Diese Forschung widmet sich nichtlinearen Dynamiken, Naturabläufen mit Rückkoppelungsschleifen. Dabei kann freilich nicht behauptet werden (wie es in den popularwissenschaftlichen Darstellungen der Chaostheorie regelmäßig geschieht), dass die Natur letztlich ein unberechenbarer Zusammenhang ist. Nicht das Chaos als solches kann inhaltlich bestimmt werden, aber die Grenzen der Berechenbarkeit werden bestimmt, innerhalb derer die Chaostheorie dann ganz präzise arbeiten kann. Kein Grund also für metaphysische Überhöhungen - aber für ein deutlicheres Bewusstsein der Begrenztheit instrumenteller Vernunft.

Die Einsichten der Chaostheorie finden mancherlei Rückhalt in unseren Alltagserfahrungen. Es ist z. B. unmittelbar einsichtig, dass die Oberflächenmuster, die entstehen, wenn ich Sahne in meinen Kaffee rühre, nicht auf der Zeitschiene wiederherstellbar sind. Der Laplacesche Dämon hat ausgedient. Wahrscheinlich haben Sie vom sog. „Schmetterlings-Effekt“ gehört: Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Japan kann einen Wirbelsturm in Los Angeles auslösen. Solche Zusammenhänge aber sind nicht nach dem Modell kausaler Determiniertheit begreifbar. Nicht nur beim Wetter sind komplexe Abläufe nicht berechenbar, weil die unendliche Genauigkeit der Anfangsbedingungen nie erreichbar ist; stellen Sie sich vor, eine Stahlkugel solle auf der Schneide einer Rasierklinge rollen! In diesem Zusammenhang wird nun wieder von offenen Systemen mit einer offenen Zukunft geredet. Bei der Berechnung solcher Systeme sind die Gleichungen im Computer streng deterministisch, es gelten die Regeln der newtonschen Physik; aber die Bewegungsabläufe sind chaotisch. Die anschaulichsten Beispiele hierfür liefert die Meteorologie. Obwohl die Ausgangsbedingungen also determiniert sind, bleibt Offenheit erhalten. Wirklich Neues, das in einem strengen deterministischen Weltbild undenkbar war, wird nun denkmöglich.

Übrigens ist auch hier der Aspekt der Zeitabhängigkeit dieser neuen theoretischen Modelle zu beachten. Möglich wird nämlich die Chaostheorie erst mit Hilfe hochleistungsfähiger Computer, durch die die der Physik bisher verschlossene Welt des unendlich Komplexen mathematisierbar wird. Es bleibt freilich beim Prinzip der Mathematisierbarkeit, das nun allerdings auf neue Weise mit ästhetischen Dimensionen verknüpft wird. Denken Sie an die Fraktale, an den eigenartigen Reiz der Geometrie des Irregulären. (Fraktal von fractus, d. h. gebrochen: Ein Stein zerbricht nicht in glatter euklidischer Ebene, sondern unregelmäßig). In dieser Unregelmäßigkeit können wir sich wiederholende Irregularität entdecken. (Beispiel: Mandelbrot-Bäumchen; Selbstähnlichkeit bei Küstenlinien). Auch das Chaos also hat Regeln.

Analog zum Schmetterlings-Effekt wird im sog. „anthropischen Prinzip“ die Bedeutung kleinster Abweichungen in den Ausgangsbedingungen eines offenen Systems nunmehr auch im kosmischen Ausmaß bedacht. Das „anthropische Prinzip“ besagt: Wir sehen das Universum so, wie es ist, weil wir nicht da wären, um es zu beobachten, wenn es anders wäre. Winzigste Abweichungen in den Ausgangsbedingungen der Entstehung des Universums hätten nämlich die Entstehung bewussten Lebens im Universum physikalisch unmöglich gemacht. Nach diesem Prinzip wären wir Menschen also der Grund dafür, dass die Welt so ist, wie wir sie wissenschaftlich erkennen können. Mit diesem Prinzip ist zwar nicht bewiesen, dass Gott die Welt und uns Menschen als Ziel dieser Welt geschaffen hat. Aber mit diesem schwindelerregenden Gedankenzirkel öffnet naturwissenschaftliches Denken den Blick über feststellbare Tatsachen hinaus: Auch Naturwissenschaftler können staunen - und ihr Staunen über die Welt verbindet sie mit den Menschen, denen wir die biblischen Schöpfungsgeschichten verdanken.




9. Einwände gegen eine „fromme“ Naturwissenschaft

Gegenüber dem atheistischen Weltanschauungsanspruch der szientistischen und mechanistischen Konzepte des 19. Jahrhunderts besteht nun heute die Gefahr der Grenzüberschreitung zur anderen Seite hin: Die Physiker werden wieder fromm - in den neuen Modellen wird Gott wieder in die Welt zurückgenommen. Gott wird wieder in der Natur selbst erkannt. Selbst der berühmte Physiker Stephen Hawking, der sich paradoxerweise selbst als Atheist bezeichnet, schreibt seine populären Bücher nicht unterhalb des Anspruches, den Gedanken Gottes auf die Schliche zu kommen. Mit den Wiederverzauberungsbedürfnissen angesichts der Krise der neuzeitlichen Rationalität mischt sich eine neue Wissenschaftsgläubigkeit, eine neue Art von Szientismus. Am deutlichsten ist dies in den Konzepten des New Age zu beobachten. Intuitives „Wissen“ spreizt sich darin auf zu neuer „Ganzheitlichkeit“ und beansprucht, das beschränkte, fragmentarische Wissen der empirischen Wissenschaften hinter sich zu lassen. So schildert etwa Fritjof Capra in seinem Bestseller „Wendezeit“ seine grundlegende Intuition: Bei der Beobachtung der Meereswellen während eines Strandspaziergangs sei ihm schlagartig klar geworden, dass die Welt der Tanz des indischen Gottes Schiwa sei. Hier stellt sich ein Glaube wieder als Wissenschaft dar. Damit aber droht die Wissenschaft hinter die Differenzierungsgewinne der Moderne zurückzufallen, mit denen sich die Wissenschaft als ein Diskursmodell ausgesondert, ausdifferenziert hat. Eben dieser Rückfall wird häufig durch die neue Rede von der „Ganzheitlichkeit“ signalisiert. Ich will nicht in Frage stellen, dass man an der zerstückelten Realität, den Ausdifferenzierungen und Formalisierungen der modernen Lebenswelt leiden kann, dass man sie als unnormal empfinden kann. Ich rede hier nur von der Gefahr, dass die Ganzheits- und Kontrollbedürfnisse des Menschen auf neue Formen von Ersatzreligionen abzielen. Indem es Grenzen nicht anerkennt, wird das Wissensbedürfnis wieder totalitär. Das Denken wird dabei wieder mythisch: Alles wird in vage Analogien miteinander gebracht, alles korrespondiert „irgendwie“ mit allem. Beobachten Sie einmal, wie häufig uns in den Alltagskommunikationen der Satz begegnet: „Das kann man doch nicht trennen“. Dagegen würde ich auf der Klugheit und Lebensdienlichkeit von Unterscheidungen bestehen.

Besonders gefährlich wird es, wenn unser Unterscheidungsvermögen durch die Annahme analoger Zusammenhänge zwischen Mensch, Natur und Gesellschaft unterlaufen wird. Es droht dann nämlich die Gefahr, den Menschen wieder den der Natur abgelauschten Gesetzen zu unterwerfen, z. B. indem moralische Normen aus Naturbeobachtungen abgeleitet werden. Damit laufen wir in die Falle des sog. naturalistischen Fehlschlusses: Wir können nicht von einem Sein auf ein Sollen schließen, weil wir dabei immer schon normative Vorannahmen machen.

Im Folgenden wird an einem Beispiel demonstriert, wie aus neuen naturwissenschaftlichen Entdeckungen unzulässige Extrapolationen herausgezogen werden. Das Beispiel zeigt den „Fortschritt“ von der „Kopenhagener Deutung zur Quantentheorie“ (Heisenberg/Bohr) über Capras „Wendezeit“ zum Buch „Die sanfte Verschwörung“ von Merilyn Ferguson, einem Kultbuch des New Age. (Das folgende Beispiel zitiere ich aus: Martin Lambeck, Physik im New Age, EZW-Texte XI/1989).

Heisenberg/Bohr:
„Die ‘Bahn’ entsteht erst dadurch, dass wir sie beobachten. ... an der scharfen Formulierung des Kausalgesetzes ‘Wenn wir die Gegenwart genau kennen, können wir die Zukunft berechnen’, ist nicht der Nachsatz, sondern die Voraussetzung falsch. Wir können die Gegenwart in allen Bestimmungsstücken prinzipiell nicht kennenlernen. Deshalb ist alles Wahrnehmen eine Auswahl aus einer Fülle von Möglichkeiten und eine Beschränkung des zukünftig Möglichen. Da nun der statistische Charakter der Quantentheorie so eng an die Ungenauigkeit aller Wahrnehmung geknüpft ist, könnte man zu der Vermutung verleitet werden, dass sich hinter der wahrgenommenen statistischen Welt noch ein ‘wirkliche’ Welt verberge, in der das Kausalgesetz gilt. Aber solche Spekulationen scheinen uns, das betonen wir ausdrücklich, unfruchtbar und sinnlos.“

Capra:
„Das entscheidende Kennzeichen der Quantentheorie ist, dass der Beobachter nicht nur notwendig ist, um die Eigenschaften eines atomaren Geschehens zu beobachten, sondern sogar notwendig, um diese Eigenschaften hervorzurufen. Meine bewusste Entscheidung, wie ich beispielsweise ein Elektron beobachten will, wird bis zu einem gewissen Maße die Eigenschaften des Elektrons bestimmen. Stelle ich ihm eine Teilchen-Frage, wird es mir eine Teilchen-Antwort geben, stelle ich ihm eine Wellen-Frage, wird es mir eine Wellen-Antwort geben. Das Elektron besitzt keine von meinem Bewusstsein unabhängigen Eigenschaften. In der Atomphysik kann die scharfe kartesianische Unterscheidung zwischen Geist und Materie, zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten, nicht länger aufrechterhalten werden.“

Heisenberg:
Durch eine Beobachtung wird die Bewegung eines Elektrons geändert  Durch eine Beobachtung werden die Eigenschaften eines Elektrons geändert.  Durch einen Beobachter werden die Eigenschaften eines Elektrons geändert.  Durch einen menschlichen Beobachter werden die Eigenschaften eines Elektrons geändert  Durch das Bewusstsein eines menschlichen Beobachters werden die Eigenschaften eines Elektrons geändert  Durch mein Bewusstsein werden die Eigenschaften eines Elektrons geändert  Capra: Alle Eigenschaften des Elektrons hängen von meinem Bewusstsein ab.

M. Ferguson:
„Die Tatsache des indirekten Sehens (das Sehen über eine große Entfernung hinweg, von altersher bekannt als Hellsehen), der Telepathie (Übermittlung von Gedanken), der Präkognition (Kenntnis von in der Zukunft liegenden Ereignissen), der Psychokinese (Interaktion von Geist und Materie) und der Synchronizität (bedeutungsvolle Übereinstimmungen, eine Mischung der anderen Phänomene) ... Es konnte nachgewiesen werden, dass der menschliche Wille über gewisse Entfernungen auf Materie einwirkt, auf die Teilchen in einer Nebelkammer, auf Teilchen eines Kristalls und auf radioaktive Zerfallsraten. Das ‘Heilen’ via Willenskraft veränderte nachweislich Enzyme, Hämoglobinwerte sowie die atomare Bindung von Wasserstoff und Sauerstoff im Wasser.“

Zu dem Buch von Ferguson hat Capra übrigens ein Vorwort geschrieben. M. Lambeck bemerkt dazu: „Angenommen, ein Historiker behaupte, Luther habe nie gelebt, sondern die Figur des Reformators sei von Philipp II. erfunden worden, um unter dem Vorwand der Gegenreformation seine Macht zu erweitern. Alle Historiker, Theologen und Germanisten würden aufschreien. Man stelle sich nun vor, ein evangelischer Theologe schreibe zu diesem Buch ein freundliches Vorwort. Ich behaupte nicht, es sei prinzipiell unmöglich, dass ein Mensch durch sein Bewusstsein radioaktive Zerfallsraten beeinflussen könne. Vielleicht wird dies einem Menschen einmal möglich sein. Ich weise nur darauf hin, dass die Behauptung, es sei bereits geschehen, für die Physik nicht die Qualität der Frage nach dem Thesenanschlag, sondern die der Frage nach der Existenz Luthers hat. Für Capra hätte es demnach zwei Möglichkeiten gegeben: Entweder hält er Fergusons Behauptungen für unwahr, dann hätte er als Physiker der Autorin raten sollen, diese Passagen zu streichen. Oder er hält die Behauptungen für wahr, dann hätte er den Meldungen nachgehen können, um die betreffende Person, die dieses Kunststück fertiggebracht haben soll, kennenzulernen und vielleicht selbst eine Erklärung für dieses lehrbuchsprengende Experiment zu finden. Es hätte dann gute Aussicht bestanden, dass diese Person oder Capra oder beide gemeinsam, den Nobelpreis erhalten hätten. Statt dessen ist offenbar beides nicht geschehen ...“.

Statt dessen heißt es im genannten Vorwort von Capra: „Das neue Paradigma ... ist von einer ganzheitlichen und ökologischen Sicht geprägt. Es umfasst neue Konzepte von Raum, Zeit und Materie aus der subatomaren Physik; die Systembegriffe des Lebens, des Geistes, des Bewusstseins und der Evolution; den entsprechenden ganzheitlichen Zugang zu Gesundheit und Heilen; die Integration westlicher und östlicher Methoden, der Psychologie und Psychotherapie; ein neues Konzept für Wirtschaft und Technologie; und eine ökologische und feministische Betrachtungsweise, die letztlich zutiefst spirituell ist“.

Ich plädiere gegenüber diesen Sachverhaltsspekulationen, die sich als neue Spiritualität ausgeben, dafür, auf der Verschiedenheit von Sprachspielen zu bestehen - aber auch das Konzept der schiedlichfriedlichen Koexistenz von Glaube und Naturwissenschaft kritisch zu befragen. Folgende Aspekte werden dabei eine Rolle spielen müssen:

Die Tendenz zur Extrapolation naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu Weltdeutungskonzepten ist ungebrochen. Das ist deutlich zu sehen in der Evolutionstheorie, die, gerade wenn sie didaktisiert wird, wissenschaftstheoretisch oft nicht genügend reflektiert wird.
Es gibt insofern keine friedliche Koexistenz zwischen Wissenschaftsgläubigkeit und religiösem Glauben, sondern immer Konkurrenz, als der Glaube immer einer Extrapolation der wissenschaftsgläubigen Sicht widerstehen muss. Diese Konkurrenz besteht so lange, wie auch eine wissenschaftstheoretisch reflektierte empirische Wissenschaft immer den Trend zur Extrapolation auf das Ganze hin aufweist, oder - das ist oft nur die Kehrseite der Medaille - in falscher Bescheidenheit dem Irrationalismus Raum gibt.
Jede Objektivierung des Menschen, auch die notwendige z. B. des Mediziners, weist die Tendenz auf, den Menschen insgesamt zu vergegenständlichen.
Der Drang zur Weltbeherrschung, der Zwang zum Machbaren bleibt: Jedes Wissen drängt auch zu technischer Umsetzung. Was gekonnt wird, wird in der Regel auch gemacht.
Stark zu machen sind also Erkenntnisgrenzen, Deutungsgrenzen und ethische Grenzen.



10. Die kritische Bildungsaufgabe des Religionsunterrichts

Zum Schluss lässt sich nun das Verhältnis von Glauben und Denken, dem religiöse Bildung verpflichtet sein müßte, neu bedenken: Der Glaube fängt nicht dort an, wo das Denken endet, sondern das Denken muss noch einmal neu beginnen, wo der Glaube anfängt. Dabei ist allerdings festzuhalten, dass es in der Tat ein Denken gibt, dem der Glaube ein Ende machen will: Der Glaube ist das Ende jenes Denkens, das die Dinge der Welt zum verfügbaren Material verkommen lässt. Und weil der Glaube das Ende eines solchen Denkens ist, kann er zugleich der Anfang eines neuen Denkens sein, das den Habitus der Nachdenklichkeit nicht vorschnell dem Drang nach Wissen opfert, das vor allem auch die dem Wissen nicht zugänglichen Aspekte der Welt, über die wir nur staunen können, nicht ausklammert und dem Feld des Irrationalen überlässt.

 

Im Erstaunen über die Welt beginnt der Glaube an ihren Schöpfer
Im Erstaunen erfassen wir noch nicht, wie die Dinge aussehen, wir erfassen aber, dass sie da sind. Wir nehmen mit Bewunderung wahr, dass sie da sind. Wir verstehen auf elementare Weise das Wunder des Daseins selbst. Wir erstaunen oft auch darüber, dass wir selbst da sind, obgleich wir nicht wissen, warum oder wozu wir da sind. Wen das ins Erstaunen versetzt, der erfährt auch, dass er wirklich da ist und nicht eine Illusion darstellt. Das heißt, durch Erstaunen erfassen wir das Dasein der Welt und unser eigenes Dasein. Das Was und Wie begreift man später. Das einfache Dasein aber begreift man nie. Es bleibt erstaunlich.

Die Begriffe schaffen Götzenbilder, allein das Erstaunen erfasst etwas, sagte der kluge Gregor von Nyssa. Menschen, die wir in ihrer Eigenart achten, bleiben für uns erstaunlich und unser Erstaunen öffnet unsrer Gemeinschaft mit ihnen die Freiheit für neue Möglichkeiten der Zukunft. Erstaunlich bleiben für uns auch die Wunder der Natur, wenn wir in unseren Geschäften innehalten können und uns in den Anblick einer Blume oder eines Baumes oder eines Sonnenunterganges versenken. Das Allererstaunlichste aber scheint mir der Grund des Daseins aller Dinge zu sein, dem wir verdanken, dass überhaupt etwas da ist und nicht vielmehr nichts.
(Jürgen Moltmann)

Mit Blick auf die biblische Schöpfungsüberlieferung wäre dem Religionsunterricht anzuraten, einen solchen staunenden Blick auf die Welt zu ermöglichen, statt - wie es leider allzu häufig geschieht - schöpfungstheologische Aussagen vorschnell zu ethisieren, d. h. sie auf Moral zu reduzieren. Wenn z. B. Genesis 1f. in erster Linie als Anleitung für Umweltschutz verstanden wird, wird die Schöpfungsüberlieferung als religiöser Text mißverstanden. Das moralische Postulat, wir hätten durch größere Bescheidenheit die Welt zu retten, bleibt dann spiegelbildlich der Hybris der Machbarkeit verbunden. Was mich motivieren kann, schonend mit meinem und dem mich umgebenden Leben umzugehen, gerät allererst in jenen Blick, der vor aller Moral zu staunen gelernt hat.

Meine Erfahrung ist nun, dass oft erst im Religionsunterricht eine wissenschaftstheoretische Reflexion des Modellcharakters naturwissenschaftlichen Wissens geleistet wird. In der Regel ist der Religionsunterricht damit überfordert, wenn ihm dazu in den naturwissenschaftlichen Fächern nicht vorgearbeitet wird. Eine spezifisch religiöse Sicht unterbleibt dann zugunsten jener Relativierungen, für die kein Religionslehrer besonders qualifiziert ist, weil sie von jedem, auch von jedem areligiösen Naturwissenschaftler zu erwarten wäre. Ganz zu schweigen von jenen nicht seltenen Fällen, in denen, womöglich im Werte- und Normen-Unterricht, private Weltanschauungen im Gewande naturwissenschaftlicher Tatsachenbehauptungen vermittelt werden, so z.. B. häufig im Bereich der Soziobiologie.

Ich habe im Unterricht oft den Eindruck gewonnen - um ein Beispiel zu geben -, dass im Biologieunterricht kaum differenziert wird zwischen der Evolution als einem heute schwer zu bestreitenden Sachverhalt, der Evolutionstheorie als der modellhaften Rekonstruktion dieses Sachverhalts und dem Evolutionismus als einer quasireligiösen Weltanschauung. Das Evolutionsparadigma wird generell überlastet: Es soll dann nicht nur helfen, bestimmte Probleme zu klären, wie die Entstehung der Arten und die Entwicklung von Umweltanpassungen, sondern Aussagen zum Ganzen der Wirklichkeit treffen, obwohl es das Ganze mit seinen Mitteln schlechterdings nicht erreichen kann. Dagegen müßte die Differenz offengehalten werden zwischen der Plausibilität der Evolutionstheorie, die ohnehin in ständiger Selbstüberprüfung sich wandelt, und dem druckvollen Übergriff dieser Plausibilität auf den normativen Horizont unserer Selbst und Weltdeutung, wodurch alles, auch z. B. meine Selbstachtung, auf den Status funktionaler Äquivalente für Überlebensvorteile reduziert wird. Überhaupt werden wissenschaftliche Modelle ja generell als Reduktionen problematisch. In der reduktionistischen Standardfloskel, bei einem Sachverhalt handele es sich um „nichts anderes als ...“, steckt der Übergriff aufs Ganze. Vernunft, Liebe: „Nichts anderes als“ z. B. physiochemische Neuronentätigkeit oder Funktionen der Drüsensekretion - so werden sie unter dem für die Menschen unwesentlichsten Aspekt erfasst.
Hier hat der Religionsunterricht in Dialog und Kritik deutlich zu machen: Die religiösen Sprachformen des Erzählens und Lobpreisens, auch der Klage, erlauben uns nicht, das Ganze im Sinne wissenschaftlicher Feststellung festzuhalten. Von Gott zu sprechen wie etwa in den Schöpfungserzählungen und Schöpfungspsalmen greift den Blick aufs Ganze in unseren Fragen nach dem Woher und Wohin, dem Dasein in einer sinnvollen Welt auf - und doch wird damit das Ganze vor dem Zugriff unserer Definitionen geschützt. Die Welt der Empirie behält dann ihren unscharfen Horizont, so dass das Erstaunen über die Welt ermöglicht wird: darüber, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts.

In religiöser Sprache bilden narrative Rede und denkerische Reflexion, mystisches Schweigen und liturgische Feier einen Zusammenhang, der das Unaussprechliche respektiert, ohne vor ihm nur zu verstummen, aber auch ohne sichere Antworten zu erwarten. Die Rede von Gott als Schöpfer und als Vollender der Welt führt über die erfahrbare Welt und über die von ihr entworfenen Theorien so hinaus, dass die Wirklichkeit insgesamt als uneinholbar anerkannt wird und der Hoffnung auf Gott Raum lässt, der einst die Welt zur Ganzheit bringen wird. So bleibt die Zukunft offen, weil sie dann nicht verstanden werden kann als eine Extrapolation der an der Vergangenheit aufweisbaren Trends. Die Konfrontation von Schöpfungserzählungen und Evolutionstheorien reißt eine Diskrepanz in die Zugangsperspektiven zur Wirklichkeit: Die Zeit des Evolutionsparadigmas ist die rekonstruierte Vergangenheit, die Zeit, auf die die biblischen Erzählungen blicken, ist die erst zu bewährende Gegenwart und die Zukunft.

Möglichkeiten des In-Frage-Stellens offen halten: In dieser Intention unterscheidet sich der Religionsunterricht zwar von Wissenschaftglaube und Ideologien, aber nicht von einem seiner Grenzen bewussten naturwissenschaftlichen Unterricht. Immerhin darf der Religionsunterricht so etwas wie eine ideologiekritische Wächterrolle beanspruchen, denn Wissenschaft, die ja ohne Objektivierungen nicht auskommt, steht ständig in der Gefahr, die Welt und den Menschen insgesamt zu vergegenständlichen.

Indem der Glaube an Gott als den Schöpfer und Vollender der Welt das Offenhalten nicht nur auf der Ebene erkenntniskritischer Skepsis fördert und stützt, sondern als lebenspraktische Haltung ermöglicht, sagen wir ruhig: als Frömmigkeit, ist er mehr als „nur“ eine methodenbewusste wissenschaftliche Bescheidenheit.

Naturwissenschaft und Glaube immer noch ein feindlicher Gegensatz? Ich überlasse die Antwort Ihrem Nachdenken über diese Ausführungen, nicht ohne Ihnen zum Schluss noch einen Text zu präsentieren, in dem sich die theologischen Sätze über das Staunen als auch philosophisch formulierbar erweisen:

Aber lassen Sie mich zuerst nochmals unser erstes Erlebnis, jenes Staunen über die Existenz der Welt, betrachten und lassen Sie mich es auf eine ein bisschen andere Art beschreiben: Wir alle wissen, was man im gewöhnlichen Leben als ein Wunder bezeichnen würde, nämlich einfach irgendein Ereignis, desgleichen wir noch nie gesehen haben. Nehmen Sie nun an, dass etwas dieser Art sich ereignete. Gesetzt, einem von Ihnen würde plötzlich ein Löwenkopf wachsen und er würde anfangen zu brüllen. Das wäre doch gewiß etwas so Ungewöhnliches, als ich es mir nur vorstellen kann. Wenn wir uns nun von unserer Überraschung erholt hätten, würde ich vorschlagen, einen Arzt zu holen und den Fall wissenschaftlich untersuchen zu lassen; und wenn die Schmerzen nicht wären, ich ließe ihn vivisezieren. Und wo bleibe dann das Wunder? Denn es ist doch klar, dass alles Wunderbare verschwindet, wenn wir es auf diese Weise betrachten: es sei denn, dass wir mit diesem Wort nur sagen sollen, dass eine Tatsache noch nicht von der Wissenschaft erklärt worden sei, was wiederum bedeuten würde, dass es uns bisher nicht gelungen sei, diese Tatsache mit anderen in ein wissenschaftliches System zu ordnen.

Daraus ist zu ersehen, dass die Behauptung „Die Wissenschaft hat bewiesen, dass es keine Wunder gibt“, absurd ist. In Wirklichkeit ist die wissenschaftliche Art, eine Tatsache zu betrachten, einfach nicht die Art, sie als ein Wunder anzusehen. Denn welche Tatsache auch immer Sie sich vorstellen mögen: keine ist an sich wunderbar im absoluten Sinn dieses Wortes. So sehen wir jetzt, dass wir das Wort „Wunder“ in einem relativen und in einem absoluten Sinn gebraucht haben. Und danach werde ich jetzt das Erlebnis des Staunens über die Existenz der Welt so beschreiben: es ist das Erlebnis, die Welt als ein Wunder zu sehen.

Ich bin versucht zu sagen, dass obwohl dies kein Satz in der Sprache ist - der richtige Ausdruck in der Sprache für das Wunder der Existenz der Welt die Existenz der Sprache selbst ist. Aber was bedeutet es dann, sich dieses Wunders manchmal bewusst zu sein und manchmal nicht? Denn alles, was ich damit gesagt habe, dass ich den Ausdruck des Wunderbaren aus einem Ausdruck mittels der Sprache in den Ausdruck durch die Existenz der Sprache verlegt habe - alles, was ich damit gesagt habe, ist wieder nur, dass wir, was wir ausdrücken möchten, nicht ausdrücken können und dass alles, was wir über das absolut Wunderbare sagen, Unsinn bleibt.
(Aus: Ludwig Wittgenstein, Rede über Ethik, 1930)

* Bei dem folgenden Text handelt es sich um die überarbeitete Fassung eines Vortrags in der Graf-Anton-Günther-Schule in Oldenburg. Der Vortragsduktus wurde, u.a. durch den Verzicht auf Fußnoten, beibehalten. Eine ausführliche Liste der zitierten Literatur kann bei der Pelikan-Redaktion angefragt werden. Ich habe Hans-Dieter Mutschler (Frankfurt) für Anregungen und einige wichtige Präzisionen zu danken.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/1999

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