Das Erlernen der Schreibschrift ist Teil ästhetischer Bildung

Von Klaus Schewczyk

 

Clemens wird bald sieben. Stolz sitzt er an seinem ersten eigenen Schreibtisch, der genau gegenüber von seinem Bett Platz gefunden hat. Mit den Hausaufgaben ist er schnell fertig gewesen. Jetzt will er seiner Patentante Agnes noch einen Brief schreiben. Tante Agnes liegt in Stuttgart im Krankenhaus. Sie ist bei Glatteis direkt vor ihrer Haustür ausgerutscht und hat sich einen komplizierten Bruch zugezogen. Das sagt jedenfalls Mama, und die hat vor zwei Tagen mit Onkel Bernd telefoniert. Bestimmt würde sich Tante Agnes über einen Brief von Clemens freuen. Auch das hat Onkel Bernd gesagt. Na gut. Also macht sich Clemens an die Arbeit. Das Schreiben fällt ihm immer noch schwer; eigentlich würde er lieber malen. Das macht ihm viel mehr Spaß. Aber er kann ja später noch ein Bild malen und das dazulegen. Oder direkt auf dem Briefbogen etwas zeichnen, zum Beispiel Bobby beim Jagen eines Balles. Bobby ist der Hund von Tante Agnes und Onkel Bernd. Immer wenn Clemens bei ihnen zu Besuch ist, darf er mit Bobby im Garten spielen. Jetzt liegt ein Lächeln in seinem Gesicht. Los geht’s.

Plötzlich verschwindet das Lächeln auf seinen Lippen. Clemens´ Blick ist konzentriert bis angestrengt. Der Kopf liegt etwas schief, sein ganzer Körper scheint in Bewegung zu sein. Papier und Stift wirken anscheinend noch bedrohlich. Seinem Freund Finn hätte er in der selben Zeit schon längst eine Nachricht mit seinem Handy geschrieben.

Das Briefpapier ist grün, seine Lieblingsfarbe. Seine Mutter hat es ihm geschenkt. Der Füller ist nicht mehr ganz neu, ab und zu kleckst er, aber eigentlich schreibt Clemens gerne mit ihm. Während Clemens überprüft, ob die Patrone gewechselt werden muss, überlegt er, was er seiner Patentante schreiben soll. Jetzt hat er eine Idee. Nun geht’s aber wirklich los, und nach einer ganzen Weile blickt er zufrieden auf sein Werk.

Auch im digitalen Zeitalter hat das Erlernen einer Schreibschrift noch seine große Berechtigung. Nicht nur, weil es sich um ein zu schützendes Kulturgut handelt, sondern auch, weil gerade der durchaus manchmal mühsame Schreibvorgang dem scheinbar immer noch zunehmenden Tempo des Informationsaustausches im digitalen Zeitalter entgegenwirkt und zum wohltuenden Prozess der Verlangsamung beiträgt. Wie die Beobachtung von Clemens gezeigt hat, ist beim Vorgang des Schreibens der ganze Körper beteiligt. Gestik, Mimik und Körperhaltung sind in Bewegung und tragen in Verbindung mit der Gestaltung des Schreibens und der Schrift maßgeblich dazu bei, dass natürlich und auch gerade deshalb von ästhetischer Bildung gesprochen werden darf. Papier ist nicht immer Papier, und Stift ist nicht immer Stift. Jede Schrift ist anders und wirkt wie ein immer neues Bild auf den Leser. Das Übermitteln eines Inhaltes geht nicht ohne eine Betrachtung der Schriftzeichen und beides geht Hand in Hand mit dem Bild, das wir uns dadurch auch vom Schreibenden machen. Egal, ob wir diesen kennen oder auch nicht, eine persönliche Handschrift, etwas mit der Hand Geschriebenes, transportiert also auch immer Ästhetik und nimmt dadurch neben der informierenden Aufgabe direkten Einfluss auf den ästhetischen Vorgang des Lesens.

Tante Agnes sitzt jetzt aufrecht in ihrem Krankenhausbett. Noch darf sie nicht aufstehen, noch das Bein nicht belastet werden. Sie liest den Brief ihres Patenkindes. In Gedanken sieht sie Clemens an seinem Schreibtisch sitzen, vor ihm das grüne Briefpapier, der Füller, den sie ihm zur Einschulung geschenkt hat, und ganz viele Buntstifte. Sie sieht eine Wiese und Blumen, und dann erkennt sie Bobby und ihre Augen leuchten.