Digitalisierung als ethische Herausforderung

Von Kerstin Gäfgen-Track

 

Chancen und Grenzen von Digitalisierung

Aus der industriellen „Revolution“ heraus haben sich die Digitalisierung und die Künstliche Intelligenz entwickelt (Industrie 4.0); vielfach wird von einem neuen Zeitalter, dem der Digitalisierung, gesprochen. Die digitalen Techniken, die Social Media und die Künstliche Intelligenz bestimmen für immer mehr Menschen bewusst und unbewusst immer weitere Bereiche des Lebens. Die smarte digitale Technologie hat das Potential, menschliches Leben weiter zu verbessern, z.B. durch enorme Fortschritte in der medizinischen Versorgung, einen besseren Umweltschutz, einen sichereren Verkehr, mehr Beweglichkeit für behinderte und alte Menschen. Beim Schreiben der Algorithmen oder beim Umgang mit Daten werden aber auch Fehler gemacht: Es ist möglich, Computerprogrammen gezielt rassistische oder sexistische Denkmuster zu unterlegen. Digitale Anwendungen werden für die Manipulation von Dieselautos genauso wie für politische Wahlen missbraucht.
 


Schule und die Frage nach der Notwendigkeit ihrer Digitalisierung

Schule soll flächendeckend durch den sogenannten „Digitalpakt von Bund und Ländern“ an die digitale Welt „angeschlossen“ werden. Mit den Bundesmitteln aus dem Digitalpakt will der niedersächsische Kultusminister Grant Hendrik Tonne die im Dezember 2016 von der KMK verabschiedete „Ziellinie 2020 […] für das schulische Lernen im digitalen Wandel erreichen“1, der im gleichen Monat das Konzept „Medienkompetenz in Niedersachsen – Ziellinie 2020“ an die Seite gestellt wurde.2  In dieser Ziellinie werden differenzierte, auch pädagogische Ziele genannt, und G.H. Tonne selbst unterstreicht immer wieder die Bedeutung einer zu entwickelnden „Medienbildung“. Die Diskussion insgesamt dreht sich politisch aber primär um die „schnelle“ Anbindung von Schule an das World Wide Web, die Beschaffung der notwendigen Hard- und Software, viel weniger um die Unterrichtsinhalte, die Pädagogik oder die Didaktik.3  Auch wird nicht zwischen den verschiedenen Schulformen unterschieden, d.h. insbesondere geprüft, ob und in welchem Umfang bereits in der Grundschule digitales Lernen angebracht ist. Vorrangiges Ziel ist es, Schülerinnen und Schüler zu befähigen, die notwendigen digitalbasierten Qualifikationen für Ausbildung und Studium, für den Beruf zu erhalten.4  Deutschland soll dadurch als Hochtechnologiestandort zukunftsfähig aufgestellt 5 werden. Überlegungen, welche Auswirkungen das digitale Lernen auf das Bildungsverständnis hat oder welche Kompetenzen – gerade ethische, soziale und emotionale – für einen angemessenen und lebensdienlichen Umgang mit Digitalität und Künstlicher Intelligenz erworben werden müssen, kommen bildungspolitisch bisher eher am Rande vor. Die ethischen Herausforderungen, die Chancen, aber auch gerade die Probleme und Gefahren der Digitalisierung werden immer deutlicher. Es ist unabdingbar, dass Schülerinnen und Schüler so gebildet werden, dass sie ein Verständnis für die Differenziertheit und Komplexität der digitalen Welt erlernen, in ihr leben und diese mitgestalten können.

Es ist nicht die Frage, ob Schule digital angeschlossen wird und digitale Kompetenzen vermittelt werden, sondern wie dies geschieht, welche digitalen Kompetenzen genau vermittelt werden und welche Auswirkungen die Digitalisierung auf die Pädagogik, die Didaktik und den Unterrichtsstoff hat.
 


Der notwendige Umdenkungsprozess

Damit hätte Schule Teil an einem bereits einsetzenden gesellschaftlichen Umdenkungsprozess, wie global die Digitalisierung ebenso wie die Künstliche Intelligenz rechtlich normiert und ethisch verantwortet genutzt werden kann: Die Ersten sprechen aufgrund dieses einsetzenden Umdenkungsprozesses schon von der „Postdigitalisierung“ (z.B. Matthias Horx). Gerade in Europa und insbesondere unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen fängt ein solcher Umdenkungsprozess an, was sich nicht nur daran zeigt, dass die Nutzung von Facebook in dieser Altersgruppe z.T. deutlich rückläufig ist. Gleichzeitig finden insbesondere auf EU-Ebene verstärkte Anstrengungen statt, rechtliche Regelungen für Digitalisierung und Künstliche Intelligenz zu entwickeln, insbesondere in den Bereichen Forschung und Entwicklung ebenso wie Datenverarbeitung und -nutzung. Dabei wird sichtbar, dass gegenwärtig erneut die Erfahrung der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ gemacht wird. Während Schülerinnen und Schüler die für das Begreifen von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz und den Umgang damit notwendigen Kompetenzen erwerben sollen, wird vielen Menschen, nicht zuletzt durch die immer neuen Datenskandale bei Facebook, aber auch Google und anderen, gegenwärtig erst bewusst, welche positiven wie negativen Potentiale Digitalisierung und Künstliche Intelligenz bieten. Eine dritte Gruppe denkt gleichzeitig schon über eine rechtlich regulierte, ethisch verantwortete und lebensdienliche Weiterentwicklung nach.
 


Digitalisierung und das Verständnis vom Menschen

Es gilt, auch an Schule die Probleme und gefährlichen Entwicklungen der Digitalisierungen in den Blick zu nehmen, wobei die Anthropologie eine zentrale Rolle spielt. Durch die Digitalisierung findet auch anthropologisch eine Neubestimmung statt: Der Mensch wird immer weniger als Individuum denn als „digitales Subjekt“ begriffen, was mit der Würde des Menschen nicht vereinbar ist.6  Er wird in diesem Paradigma immer mehr auf algorithmisch zu interpretierende biochemische Prozesse und auf eine Datenquelle reduziert.7 Bis in die politischen und auch die demokratischen Meinungsbildungsprozesse hinein wirkt sich der Einsatz von Algorithmen und Daten gravierend aus, und es verändern sich sowohl die Prozesse, auch zwischenmenschliche, als auch das Machtgefüge. Von daher ist es entscheidend, immer wieder dafür zu sorgen, dass auch unter den Bedingungen einer immer stärkeren Digitalisierung Würde und Rechte des Individuums und die Grundlagen des freiheitlich demokratischen Rechtsstaats nicht erodieren. Das christliche Menschenbild mit seiner Betonung der Geschöpflichkeit des Menschen im Gegenüber zu Gott, dem Schöpfer, der menschlichen Freiheit in Verantwortung für sich selbst und andere, der menschlichen Beziehungsfähigkeit sowie der menschlichen Suche nach Wahrheit und Orientierung kann als kritisches Korrektiv und Orientierung zugleich in den Bildungs- wie ebenso in den Digitalisierungsprozessen dienen.
 


Der Mensch als Datenquelle

Mithilfe von Algorithmen, die Big Data auswerten und Profile von einzelnen Nutzerinnen und Nutzern erstellen, werden Menschen zunehmend, oft ohne dass es ihnen bewusst ist, beeinflusst und gesteuert. Die Daten, die Menschen insbesondere beim Onlinekauf, bei der Benutzung von Internetsuchmaschinen, der Wohnungssuche im Internet oder in den sozialen Medien preisgeben, werden von überwiegend privaten Firmen gesammelt, vielfach verkauft und es wird ein „score“ ermittelt. Dabei werden Algorithmen und Daten dazu benutzt, das zukünftige Verhalten von Menschen zu „errechnen“ und dann dementsprechend zu verändern. Dies zu durchschauen wird zunehmend schwieriger. Es geschieht immer stärker durch das sogenannte „nudging“ über Onlineplattformen, nicht zuletzt der großen Onlineshops, ebenso wie über soziale Netzwerke8: winzige, oft unbemerkte „Anstöße“, etwas zu kaufen, etwas zu tun, eine bestimmte Partei zu wählen oder nicht. D.h. auch politische Macht und gesellschaftliche Steuerung finden zunehmend weniger über klassische Institutionen als über digitale Netzwerke statt. Es muss deutlich werden, ob Menschen mit Menschen kommunizieren oder Maschinen mit Menschen. „Wenn als frei, mündig und – heute muss man das ausdrücklich ergänzen – als wehrhaft gedachte Bürger zu reinen Konsumenten und Usern verkommen, nur noch Adressat von Werbebotschaften werden, sich von Anstupsoptionen einlullen und sich mit allerlei persönlichen Assistenzsystemen einpampern lassen, dann droht auch der Rahmen, in dem das gute Leben gelebt werden darf, der Staat mit seinen Institutionen, namentlich denen der rechtsstaatlichen Demokratie, irreparabel Schaden zu nehmen.“9


Der Mensch als Schöpfer des Menschen

Yuval Harari hat klar beschrieben, dass mit den Forschungen zur Künstlichen Intelligenz, mit dem Versuch, in die Keimbahnen menschlichen Lebens einzugreifen, genauso wie mit dem Transhumanismus, der Verschmelzung von Mensch und Maschine, der Mensch versucht, sich an die Stelle Gottes zu setzen.10  Mit der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz bekommt der Mensch scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten, Leben zu schaffen, zu designen, Krankheiten zu besiegen, den Tod hinauszuschieben ebenso wie menschliches Verhalten zu steuern, vorauszuberechnen und zu kontrollieren. Menschliches Leben darf in seiner Individualität und unüberschaubaren Vielfalt, in seiner Verletzlichkeit, Emotionalität und Freiheit zum Denken und Handeln und auch in seiner Sterblichkeit nicht „korrigiert“ bzw. manipuliert werden; die Risiken, der Missbrauch und die Uniformierung sind nicht zu verantworten. Noch ist die Forschung zur Künstlichen Intelligenz davon weit entfernt, aber es ist angesichts dieser Zielsetzung von Forschung danach zu fragen, ob eine solche Forschung überhaupt ethisch vertretbar ist bzw. bis zu welchem Punkt und unter welchen Fragestellungen die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz vorangetrieben werden soll. Eine ethische Selbstbeschränkung von Forschung und Entwicklung ist hier m.E. angebracht um der Würde und Freiheit des Menschen willen.
 


Digitalisierung erfordert einen transparenten Diskurs

Entscheidend in dieser Situation ist als ein erster Schritt ein offener und transparenter global-gesellschaftlicher Diskurs, an dem Schule selbstverständlich teilnehmen sollte. In diesem Diskurs sind nicht zuletzt gerade von den großen Vier, Google, Amazon, Facebook und Apple (GAFA), der jeweilige „Algorithmus“, die Kriterien und Arbeitsweise der Datenverarbeitung offenzulegen, ebenso wie von den Forscherinnen und Forschern sowie Entwicklerinnen und Entwicklern, die mithilfe von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz in Bereichen wie z.B. Medizin, Biologie, Chemie oder auch Mobilität arbeiten. In einer ethischen Selbstbindung müssen die großen Vier ihre Offenlegung so gestalten, dass jeder Verdacht, auch mit diesen Daten manipulieren zu wollen, ausgeschlossen ist.11 Ziel ist ein gesellschaftlich und politisch verantworteter Einsatz und die Weiterentwicklung von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz. Es soll dabei keinesfalls zu einer „Entdigitalisierung“ kommen, aber zu einem gesellschaftlich, rechtlich und politisch gestalteten Digitalisierungsprozess. Der Hinweis darauf, dass weder das Silicon Valley noch der chinesische Staat und andere rechtliche Regelungen und ethische Standards für Digitalisierung und Künstliche Intelligenz beachten werden, darf gerade nicht dazu führen, alles den Kräften des digitalen Marktes in Forschung und Entwicklung zu überlassen.12 Im Gegenteil sollten alle Anstrengungen darauf gerichtet sein, diesen Umdenkungsprozess in der gesamten vernetzten globalen Welt zu gestalten und rechtlich durchzusetzen. Ein wesentliches Problem dabei ist die immer größer werdende Komplexität und Differenziertheit im Rahmen der Digitalisierung, die immer schwerer zu verstehen ist, so dass sich Forscherinnen und Forscher ebenso wie Entwicklerinnen und Entwickler auf sehr kleine Bereiche fokussieren (müssen), um in diesen gezielt die komplexen Fragestellungen differenziert bearbeiten zu können.
 


Bildung in Zeiten der Digitalisierung

Diese Komplexität und Differenziertheit als solche wahrzunehmen und zu begreifen, ist die Herausforderung an die Bildung insgesamt. Eine sehr umfassende Bildung in Schule, die auch auf das Verstehen von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz ausgerichtet ist und ethische, soziale und emotionale Orientierung in diesem globalen Prozess vermittelt, ist unverzichtbar. Informatik und Digitalisierung dürfen keinesfalls die Grundlagenforschung in anderen Bereichen verdrängen und die Bildungsaufgaben in Schule verengen. Bildung kann Missbrauch und Fehlentwicklungen kritisch sichtbar machen und damit den entscheidenden Beitrag für ein verändertes Denken und Handeln leisten. Bildung im digitalen Zeitalter hat deshalb die primäre Aufgabe, Orientierungswissen zu vermitteln, für das es wiederum basalen digitalen Verfügungswissens bedarf. Gleichzeitig, und hier hat nicht zuletzt der Religionsunterricht entscheidende Potentiale, ist es notwendig, Schülerinnen und Schüler zu befähigen, Position zu beziehen. Vordringliche Aufgabe ist es gegenwärtig, Lehrkräfte entsprechend zu qualifizieren. Nicht weniger als die Vermittlung eines solchen Wissens und einer solchen Orientierung ist die Aufgabe von Schule und Hochschule im 21. Jahrhundert.
 

  
Anmerkungen:

  1. Grant Hendrik Tonne, „Lernen im digitalen Wandel – Herausforderung für Politik und Schule“. www.mk.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/pressein formationen/rede-des-niedersaechsischen-kultus ministers-grant-hendrik-tonne-auf-der-kommuna len-bildungskonferenz-lernen-im-digitalen-wandel- -herausforderung-fuer-politik-und-schule-162071.html (zuletzt aufgerufen am 17.01.2019).
  2. Vgl. www.medienkompetenz-niedersachsen.de/lan deskonzept/ (zuletzt aufgerufen am 17.01.2019).
  3. Interessant ist, dass im Jahr 2018 eine neue Abteilung im Niedersächsischen Kultusministerium geschaffen wurde, in der die Bereiche frühkindliche Bildung, Inklusion und Digitalisierung angesiedelt sind.
  4. Wie schwer diese gesamte Thematik schulisch angemessen vermittelt werden kann, zeigt ein sehr ehrlicher Satz auf der Homepage des niedersächsischen Kultusministeriums: „Und weil wir nicht genau wissen, wie die digitale Welt von morgen aussieht, besteht die Notwendigkeit, jetzt Schritte zu gehen, um die uns anvertrauten Schülerinnen und Schülern auf das Leben und Lernen im digitalen Wandel vorzubereiten und [diese, G-T] selbst mitzugestalten.“ www.mk.niedersachsen.de/startseite/schule/schuelerinnen_und_schueler_eltern/medienbildung/bildung-in-der-digitalen-welt-171565.html (zuletzt aufgerufen am 17.01.2019).
  5. Nicht nur das Land Niedersachsen muss sich fragen lassen, inwieweit es politische Vorgaben in rechtlicher und ethischer Hinsicht für die sog. Digitalisierungsprofessuren macht und damit zu einer ethisch verantworteten Freiheit in Forschung und Lehre beiträgt. Es wird entscheidend für die gesellschaftliche Zukunft sein, ob und in welchem Umfang darüber hinaus an den Universitätsstandorten die vom Land bereitgestellten Mittel für Professuren auch für Lehrstühle der Ethik der Digitalisierung genutzt werden.
  6. So auch EDPS Ethic advisory group, Towards a digital ethics. Report 2018, 11f. https://edps.europa.eu/sites/edp/files/publication/18-01-25_eag_report_en.pdf (zuletzt aufgerufen am 17.1.2019).
  7. Vgl. Yuval Harari: Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen, München 6. Aufl. 2017, insb. 524-531.
  8. Vgl. EDPS Ethic advisory group, a.a.O., 12f u.ö.
  9. Peter Dabrock: Die Würde des Menschen ist granularisierbar. Muss die Grundlage unseres Gemeinwesens neu gedacht werden?, in: epd-Dokumentation 22/2018, 11.
  10. Vgl. Harari, Homo Deus, insb. 497-537.
  11. Gegenwärtig reichen insbesondere die kartellrechtlichen Möglichkeiten bei Weitem nicht aus, um die Macht, die diese mittlerweile weltweit besitzen, zu begrenzen und zu regulieren. Hieran muss umgehend gearbeitet werden und entsprechende politische Prozesse sind dringend in Gang zu bringen.
  12. „Doch die wichtigsten Entscheidungen zwischen alternativen Netzentwürfen wurden nicht in einem demokratischen politischen Prozess getroffen, obwohl sie an ganz traditionelle politische Fragen wie Souveränität, Grenzen, Privatheit und Sicherheit rühren. Durften Sie jemals über die Gestalt des Cyperspace abstimmen? Entscheidungen, die von Webdesignern abseits des öffentlichen Rampenlichts getroffen wurden, bedeuten, dass das Internet heute eine freie und rechtlose Zone ist, die staatliche Souveränität untergräbt, Grenzen ignoriert, die Privatsphäre abschafft und vermutlich das größte globale Sicherheitsrisiko darstellt“ (Harari: Homo Deus, 506).