Abenteuer Religion – Interreligiöse Erfahrungen auf einer Konfirmandenfreizeit

Von Dirk von Jutrczenka

 

Wenn Laxmi Saha den Raum betritt, ist es mucksmäuschenstill. Über hundert Jugendliche, Konfirmanden und Konfirmandinnen, hängen an seinen Lippen, wenn der würdige alte Hindu, in ein gelbes Gewand gekleidet, in einem Deutsch-Englisch mit indischem Akzent von der Spiritualität der indischen Religionen er-zählt. Seine Kernaussage: „God is love!“ Dass dieser Satz sich wörtlich auch in der Bibel findet, ist eines der zahlreichen Aha-Erlebnisse des „Abenteuers Religion“.



Rahmenbedingungen

Die Konfirmandenarbeit der St. Remberti Gemeinde Bremen ist nicht nur als Einführung in die christliche Religion konzipiert, sondern als erlebnisorientiert gestaltete und religionstheologisch begründete Einübung in die großen Weltreligionen. Natürlich ist das Christentum evangelischer Ausprägung auch weiterhin zentraler Bezugspunkt; im Verlauf der fünfzehnmonatigen Konfirmandenzeit werden Kirche und Gottesdienst, Bibel, Taufe, Abendmahl, Schöpfung, Tod und andere Themen ausführlich behandelt. Aber die Jugendlichen, die in ihrer städtischen Lebenswirklichkeit, im Schulalltag und beim aufmerksamen Blick in die Welt mit der Vielfalt der Religionen konfrontiert sind, setzen sich auch innerhalb der Konfirmandenzeit produktiv mit dieser Realität auseinander.

Helmut Langel, Pastor in St. Remberti von 1980 bis 2011, hat dem Konfirmandenunterrichtskonzept unter dem Titel „Abenteuer Religion“ seit Beginn der 1990er Jahre diese interkulturelle und interreligiöse Ausrich-tung gegeben . [1] Seit 2009 liegt die Konfirmanden- und Jugendarbeit in St. Remberti in meiner Verantwortung. Über Jahrzehnte wurde das Modell immer wieder kritisch überarbeitet und verändert, hat aber seine Grundstruktur inhaltlich und formal weitgehend behalten.

Zu den Rahmenbedingungen, die das für Konfirmandenarbeit immer noch ungewöhnliche Konzept ermöglichen, gehört das gemeindeeigene Freizeitheim in Hohenfelde an der Ostseeküste. Dort findet eine für jeden Jahrgang verbindliche vierzehntägige Freizeit zu Beginn der Sommerferien statt, wahlweise auch noch zwei weitere Freizeiten in den Oster- und Herbstferien. Dadurch steht ein großes Zeitbudget zur Verfügung. Im Lauf der vierzehn Freizeittage werden die großen Weltreligionen vorgestellt. Dabei werden – soweit das möglich ist – Vertreterinnen und Vertreter der jeweiligen Religionen eingeladen, über ihre Religion zu berichten und auch atmosphärisch erlebbar etwas zu vermitteln.



Die vierzehn Tage der Freizeit

Es beginnt am ersten Tag mit Stammes- oder Naturreligionen. Die exemplarische Darstellung afrikanischer, australischer oder amerikanischer indigener Religionen ist immer auch ein Blick in den tiefen „Brunnen der Vergangenheit“ (Thomas Mann). Es gibt bei aller nötigen Differenzierung religionsphänomenologisch viel zu entdecken, was auch das Verständnis unserer eigenen christlichen Religion und Theologie erweitert. Die Jugendlichen begegnen einem Schamanen (der in diesem Fall allerdings von einem Jugendleiter verkörpert wird), erfahren etwas über Tabus, Initiationsriten, Opfer.

Am zweiten Tag werden die indischen Religionen vorgestellt – die Bezeichnung „Hinduismus“ wird der Vielfalt ja nur schwer gerecht. Neben der Begegnung mit einem Hindu erleben die Konfirmandinnen und Konfirmanden einen Hindutempel mit entsprechenden Klängen und Gerüchen, Riten und Bildern: Ganesha, Shiva, Vishnu. Natürlich stellt sich hier und an den anderen Tagen die Frage: Darf man das, was anderen heilig ist, spielerisch nachbauen? Die Erfahrung und auch die Bereitschaft unserer Gäste zur Mitwirkung zeigt, dass dies sehr wohl möglich und für das Erleben förderlich ist.

Das wird sehr gut deutlich auch am dritten Tag, wenn eine Gruppe von Zen-Buddhisten aus dem nahege-legenen Kiel zu Besuch ist. Nach einer grundlegenden Einführung durch die Jugendleiter sind die Konfir-mandinnen und Konfirmanden zunächst staunende Zeugen eines Zazen (Sitzmeditation) mit japanischer Rezitation. Anschließend ist reichlich Raum für Gespräch und Fragen. Besonders eindrücklich ist für die Jugendlichen aber immer die Gelegenheit, unter Anleitung selbst eine Meditationsübung zu absolvieren. 20 Minuten schweigend aufrecht auf dem Boden sitzen – das ist für die meisten eine neue Erfahrung.

Für die Auseinandersetzung mit dem Judentum gibt es zwei Tage. Es ist unabdingbar, auch die Shoa zu thematisieren, dafür steht der zweite Tag zur Verfügung. Zugleich wäre es aber nicht sachgerecht, die Darstellung des jüdischen Glaubens ausschließlich aus dieser Perspektive anzugehen. Die Einführung beginnt mit der hebräischen Bibel, einem Überblick der Geschichte des Judentums, um dann Einblicke in die religiöse Praxis zeitgenössischer deutscher Juden zu geben. Sehr hilfreich ist auch in diesem Fall, wenn Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Bremen als Gäste vor Ort sind.

Wenn in den nächsten Tagen das Christentum vorgestellt wird, ergibt sich die Wahrnehmung seiner jüdischen Wurzeln ganz organisch aus dem Verlauf der Freizeit. Manchmal waren in der Vergangenheit auch hier Gäste dabei, doch ist das nicht nötig: Pastor, diakonischer Mitarbeiter, Jugendleiterinnen und Jugendleiter agieren mit dem, was sie sagen, tun und sind, als Repräsentanten ihres Glaubens und werden von den Konfirmandinnen und Konfirmanden als solche wahrgenommen. Insofern ist die ganze Freizeit eine Einübung in christliche Lebensgemeinschaft. Zu den methodischen Gestaltungen gehören von den Jugendlichen inszenierte Stationen aus dem Leben Jesu. Jede Zimmer- oder Zeltgruppe beschäftigt sich intensiv mit einer neutestamentlichen Geschichte und spielt sie allen anderen Gruppen vor. Am Ende haben alle alles gesehen und die eigene Geschichte so oft aufgeführt, dass etliche auch Jahre später noch Details wörtlich wiedergeben können. Da mittlerweile die Hälfte der Freizeit um ist, gehört zum Erleben christlicher Spiritualität immer auch ein Tagesausflug nach Lübeck; in der Marienkirche singen 100 bis 150 Bremer Jugendliche voller Hingabe ein vorher einstudiertes gregorianisches Vaterunser – ein Highlight allemal für ihren Pastor, der jedes Jahr von neuem erstaunt und angerührt ist, dass das funktioniert.

Am Islamtag werden alle vom Muezzin geweckt. „Allahu akbar“, schallt es über das Gelände. Wenn als Gäste einige junge Erwachsene aus einer Bremer Moschee kommen, sitzen ihnen die Konfirmandinnen und Konfirmanden nicht nur getrennt gegenüber, die Mädchen haben überdies an diesem Tag ein Kopftuch angelegt. Wie fühlt sich das an? Wie wirkt es auf die anderen?

Natürlich bleiben kritische Fragen an die Gäste nicht aus. Diese berichten über die Fünf Säulen des Islam, rezitieren aus dem Koran, anschließend üben die Jugendlichen den Ablauf eines Gebetes ein.

Zum Abschluss der Auseinandersetzung mit den Religionen steht ein Tag unter dem Thema „Fundamenta-lismus“. Alle Religionen haben das Potential, absolut gesetzt und fundamentalistisch verengt verstanden zu werden. Es ist uns ein Anliegen, dass die Jugendlichen diese Möglichkeit und leider zunehmend anzutreffende Wirklichkeit von Religion nicht mit der Religion selbst verwechseln.

Nach diesen Tagen voller Eindrücke gibt es einen weitgehend ruhigen Sonntag – mit Konfirmandentaufen in der Ostsee. Der Anteil der ungetauften Konfirmandinnen und Konfirmanden liegt oft bei 20 Prozent oder mehr. Bis zu fünfzehn Jugendliche pro Jahrgang lassen sich bei dieser Gelegenheit taufen, die Übrigen meist in der Osternacht.

Die letzten Tage der Sommerfreizeit dienen der Vorbereitung und Durchführung einer Konfirmandenprüfung. Die Jugendlichen setzen sich anhand von Fragen noch einmal intensiv mit dem Erlebten und Gelernten auseinander. Und wenn sie am Ende in Dreiergruppen vor mir sitzen, feiern wir das erworbene Wissen.



Weitere Elemente der Freizeit

Soweit im Schnelldurchlauf – und naturgemäß stark verkürzt – der Ablauf einer Freizeit. Nicht erwähnt wurde bisher, dass die Tagesgestaltung über die Auseinandersetzung mit den Religionen hinaus natürlich noch viel mehr beinhaltet. Es gibt regelmäßige und einmalige Projekte (von „Vorbilder“ über „Kirchengestaltung“ bis „Liebe in der Bibel“), Sport- und Freizeitangebote, Theater und Film, gemeinsames Singen, tägliche Abendandachten und -abschlüsse und vieles mehr. Das Abenteuer Religion besteht zu einem großen Teil aus dem Erleben. Dass das möglich ist, liegt vor allem an der großen Anzahl von ehrenamtlichen Ju-gendleiterinnen und Jugendleitern, die nicht nur für Organisation und Betreuung, sondern auch in großem Maß für die inhaltliche Gestaltung zuständig sind und diese Aufgabe sehr selbständig füllen. Viele Jugend-liche fahren nach ihrer Konfirmation noch einmal freiwillig als „Ex-Konfis“ mit. Die Angebote der Jugendarbeit vor Ort in Bremen (offene Teestube, Filmprojekt TEESTUKI und anderes) sind mit der Konfirmandenarbeit vielfältig verzahnt. Über Wahlprojekte haben die Konfirmandinnen und Konfirmanden im übrigen auch die Möglichkeit, durch Besuche in Moschee und Synagoge ihre Erfahrungen zu vertiefen.

Alle diese Besonderheiten haben natürlich Einfluss auf die Gestaltung des Konzepts, aber sie sind meines Erachtens keine notwendigen Bedingungen. Die Erweiterung des traditionellen Konfirmandenlehrplans hin zu einem interkulturell-interreligiösen Lernen führt dazu, dass Jugendliche zu einer angemessenen Wahr-nehmung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Religionen befähigt und damit zu einem kritischen Dialog ermuntert werden.


Theologische Grundlage

Theologische Grundlage für eine solche Sicht ist die Entwicklung einer pluralistischen Religionstheologie, wie sie etwa Perry Schmidt-Leukel vorgelegt hat . Weder werden die vorgestellten Religionen exklusivistisch als „Irrwege“ vorgeführt noch inklusivistisch vereinnahmt. Vielmehr geht es darum, die Vielfalt der religiösen Zugänge zur transzendenten Wirklichkeit Gottes wahrzunehmen und wertzuschätzen. Am Ende der Auseinandersetzung mit den vielen Wegen steht durch Taufe und Konfirmation ein bewusstes und begründetes Bekenntnis zum eigenen christlichen Glaubensweg. In gemeinsam formulierten Glaubensbekenntnissen und einem selbst gedichteten Konfirmationslied finden die Konfirmandinnen und Konfirmanden Worte für das, was sie unter Glauben verstehen. Aber das wissen alle: Das Abenteuer Religion ist damit nicht am Ziel, das stete Suchen nach dem rechten Weg geht weiter.

 

Anmerkungen

  1. Vgl. H. Langel, Abenteuer Religion, konfer normal 82, 5/2003; W. Zager/A. Rössler (Hg.), Abenteuer Religion – Jugendliche vor der religiösen Frage, Forum Freies Christentum Heft 48, 2008.