Menschenwürde

von Arnulf von Scheliha 

 

Zur Geschichte des Begriffs  

In den ethischen Debatten der Gegenwart spielt der Begriff der Menschenwürde wegen seiner exponierten Stellung im Grundgesetz eine hervorgehobene Rolle. In Artikel 1 Abs. 1 heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Mit dieser Formulierung wird der Grundrechtsteil der Verfassung eingeleitet. Eine förmliche Definition oder Erläuterung des Begriffs wird dort aber nicht gegeben. Das Grundgesetz geht vielmehr von einer „nicht interpretierten These“ (Theodor Heuss) aus, deren Inhalt eine grundlegende Wertentscheidung enthält, nämlich den Glauben an die Sonderstellung des Menschen in der Natur, die Vorstellung des Menschen als eines geistig-sittlichen Wesens, das sich und sein Leben selbstverantwortlich und in Freiheit bestimmt. Diese Annahme ist rational nicht zu beweisen, sondern Ausdruck eines geistesgeschichtlich gewachsenen und durch historische Erfahrungen immer wieder erneuerten Bewusstseins vom absoluten Wert des menschlichen Lebens.

Die begriffsgeschichtliche Verbindung zum Christentum ist eher lose. In der christlichen Philosophie der Renaissance wird der Begriff der Menschenwürde bei Gianozzo Manetti (1396-1456) und Pico della Mirandola (1463-1494) erstmals zum anthropologischen Grundbegriff. Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde bekommen hier eine auf Weltgestaltung bezogene ethische Perspektive und werden zum Ausdruck des für die Renaissance charakteristischen Kulturbewusstseins. Diese kulturproduktive Auslegung des Menschenwürdebegriffs bekommt in der Philosophie Immanuel Kants (1724-1804) eine vernunfttheoretische Begründung. Kant sieht den Kern der Menschenwürde in der Bestimmung des Menschen zum Gebrauch der Freiheit und stellt sie unter ein unbedingtes Achtungsgebot. Über das von Karl Marx (1818-1893) und Friedrich Engels (1820-1895) verfasste „Manifest der Kommunistischen Partei“ (1848) wandert der Begriff in das weltanschauliche Repertoire der sozialistischen Arbeiterbewegung ein, die sich damals als dezidiert antichristlich versteht. Daher bevorzugt man im liberalen Protestantismus die Formel vom „unendlichen Wert der Menschenseele“, während man in der kirchlich geprägten Theologie bis weit ins 20. Jahrhundert aus theologischen Gründen die naturrechtliche Begründung der Menschenwürde ablehnt. Denn die Würde sei, so das dogmatische Argument, gerade kein natürlicher Tatbestand, sondern werde dem sündigen Menschen im Rechtfertigungsgeschehen von Gott zugesprochen. Bekannt ist die Invektive Karl Barths (1886–1968), nach dem „heillose Verwirrung und Blasphemie“ daraus folgen müsse, wenn man „dem menschlichen Ich in seinem Verhältnis zum Du […] eine „in sich begründete [...] Heiligkeit, Würde und Herrlichkeit des Menschen an sich“ (Barth 1948, S. 444f.) zumesse. Erst die Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes ermöglicht die theologische Annäherung an den Begriff, der nun biblisch mit der alttestamentlichen Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen verbunden wird. Diese Annäherung wird in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils, insbesondere in der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes (1965) und in der sog. Demokratie-Denkschrift der EKD „Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“ (1985) sichtbar, in denen die biblische „Gottebenbildlichkeit“ mit der Menschenwürde korreliert wird.

 

Zur gegenwärtigen Diskussion des Begriffs  

Die Interpretation des Begriffs der Menschenwürde ist stets in Bewegung. Unstrittig ist der Begriffsinhalt. Die Anthropologie der Verfassung legt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, von seiner Freiheit in einer auf die Gemeinschaft bezogenen Weise Gebrauch zu machen. Von besonderer Bedeutung ist, dass die Freiheitsqualität des „geistig-sittlichen Wesens“ nicht nur als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe zur Geltung gebracht wird, sondern „Selbstentfaltung“ einschließt, die wiederum grundrechtlich und gesetzlich zu ermöglichen ist. Zugleich führt die grundlegende Gemeinschaftsgebundenheit des Menschen zur grundrechtlichen und gesetzlichen Einschränkung der Freiheit. 

Diskutiert wird das Verhältnis des Satzes von der Menschenwürde zu den nachfolgenden Grundrechten. Auf der einen Seite wird der christliche Ursprung und Gehalt der Menschenwürde betont und dem Würde- und Lebensschutz ein Vorrang gegenüber den nachfolgenden Grundrechten zugemessen. Der mit Art. 1 GG verbundene Auftrag, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, teilt sich danach jedem nachfolgenden Einzelgrundrecht mit, das sich umgekehrt als Ausprägung und Präzisierung des Menschenwürdeprinzips darstellt. Dieser Vorrangstellung hat Matthias Herdegen widersprochen. Er betont den „Eigenwert der verfassungsrechtlichen Verbürgung von Freiheits- und Gleichheitsrechten“ (vgl. Maunz/Dürig 2003, Rn 19). Er lasse sich – wie in anderen Verfassungen auch – unabhängig von dem Menschenwürde-Artikel entfalten. Die christliche Vorprägung des Begriffs hat daher für die systematische Entfaltung der grundrechtlichen Freiheiten eher marginale Bedeutung. Sodann wird auf die Grundrechtskollisionen verwiesen, die bekanntlich Anlass und Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung seien. Setze man Menschenwürde und Grundrechte unterschiedslos in eins, könnten diese Kollisionen nicht erklärt werden. Anders argumentiert Christoph Enders. Für ihn begründet der Satz von der Menschenwürde ein unbedingtes „Recht auf Rechte“ (Enders 1997, S. 501). Diese Einsicht leitet auch die innere Logik des Grundgesetzes, nach der aus dem Satz von der Menschenwürde kausal das Bekenntnis zu den Menschenrechten abgeleitet wird. Der Grundrechtskatalog positiviert die vielfältigen Bedingungen, ohne die ein Leben in Würde zu führen unmöglich ist. 

Ein zweiter Diskurs betrifft ethische Grenzfragen, die sich am Lebensbeginn und am Lebensende stellen. Sie werden politisch diskutiert mit dem Ziel, dass verbindliche Regelungen getroffen werden. Hier zeigt sich, dass der Satz von der Menschenwürde Fälle von Grundrechtskollision nicht einfach lösen kann. Zutreffend hat der Verfassungsrechtler Bernhard Schlink einmal formuliert, dass die „Menschenwürdegewissheit“ nicht „auf der Abstraktionshöhe zu gewinnen [ist], auf der die Menschenwürde garantiert ist“ (Schlink 2003, S. 54), sondern dass viele Vermittlungsschritte zu gehen sind. Bei dem Schutz vorgeburtlichen menschlichen Lebens wird dies offensichtlich. Auf der einen Seite stellt das vorgeburtliche menschliche Leben ein besonderes Schutzgut dar, auf der anderen Seite hat nur das geburtliche menschliche Leben einen vollen Schutzanspruch. Zwischen diesen beiden Polen gibt es keine verfassungsrechtlichen Prädispositionen, so dass die notwendigen Entscheidungen in die Verantwortung des Gesetzgebers fallen und somit unter Berücksichtigung weiterer Grundrechte, etwa der Wissenschaftsfreiheit, ethisch diskutiert und politisch getroffen werden müssen. Ähnliches gilt für den Themenbereich der Sterbehilfe. In den diesbezüglichen Diskussionen bringt sich das in die Menschenwürde eingelagerte Prinzip der Patientenautonomie zunehmend gegen das oftmals absolut gesetzte Prinzip des Lebens- und Würdeschutzes zur Geltung. 

In einem dritten Diskurs wird die Aneignung des im Westen geprägten Verständnisses von Menschenwürde unter anderen Denkbedingungen sichtbar. Im europäischen Islam zeichnet sich seit den Bahn brechenden Studien von Abdoldjavad Falaturi (1926-1996) ab, dass aus den koranischen Schöpfungsberichten eine dem Menschen zukommende Würde abgeleitet werden kann, die er besitzt und behält, unabhängig von seiner konkreten religiösen Einstellung (vgl. Falaturi 1996, S.121-140). Damit kann nicht nur der ideale, vernünftige und freie Kern der Persönlichkeit aufgefasst und allen Menschen zugeschrieben werden (vgl. z.B. Balic 2001, S. 137-145). Zugleich enthält die Sonderstellung des Menschen in der Schöpfung eine sittliche Komponente, denn der Mensch wird als Statthalter (Kalif) bzw. Treuhänder Gottes angesehen. Damit verbindet sich der Auftrag zu einem sensiblen Umgang mit den Möglichkeiten der modernen Wissenschaft und Technik sowie zur Kultivierung eines ökologischen Bewusstseins (vgl. z.B. Golschani 2005, S. 11-19). Zugleich versucht man durch die Aneignung des Menschenwürde-Begriffs den Anschluss an die Menschenrechtstradition und den Nachweis der Demokratiefähigkeit des Islam. Der Begriff der Menschenwürde bekommt in diesen Diskursen die Funktion eines zivilreligiösen Mantelbegriffs (vgl. von Scheliha 2013, S. 193-250). Ob sich diese Interpretation allerdings mit der Freiheitsqualität der Menschenwürde zu verbinden und gegen den in den islamischen Menschenrechtserklärungen oftmals angebrachten „Scharia-Vorbehalt“ durchzusetzen vermag, wird erst die Zukunft zeigen. 

 

Die Interpretation des Menschenwürde-Begriffs als Aufgabe von religiöser Bildung und Politik  

Diese Hinweise sollen zeigen, dass sich die interpretierende Aneignung der Menschenwürde-Idee durch ihre grundgesetzliche Fixierung nicht erledigt hat. Vielmehr verbindet sich mit der situationsadäquaten Zuschreibung und Deutung ihres Gehaltes eine nie vollständig zu erledigende Aufgabe, die sich auch über die Generationenfolge hinweg vollzieht. Der Diskurs über die Menschenwürde ist daher nicht allein der Rechtswissenschaft anheimgestellt. Vielmehr verbindet sich mit ihm zunächst eine Erziehungsaufgabe. Bildung von Menschenwürdebewusstsein hat ihren Ort auch im Mikrokosmos von Familie, Kindergarten und Schule. Aus der Menschenwürde-Idee muss jeweils konkrete Menschenwürdegewissheit werden, die sich religiös bewahrheitet und sich sittlich sowie rechtlich zu bewähren hat. Diese individuelle Gewissheit von Menschenwürde markiert ihren religiösen Kern. Denn mit „Gewissheit“ wird die Ebene des Glaubens berührt, weil er es nicht mit abstrakten Rechtsansprüchen zu tun hat, sondern mit der Begründung, der Formierung und der Kommunikation von Annahmen, die das einzelne Leben tragen. Die religiöse Dimension der Menschenwürde-Idee wird also dort kenntlich, wo sie im Einzelnen mentale Realität hat. Im Blick auf die Menschenwürde formuliert: In der Religion wird die Selbstunterscheidung des Menschen von den natürlichen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen seines Daseins vom Einzelnen selbst vollzogen. Glaube ist also eine reflektierte Form der Selbstzuschreibung von Menschenwürde. Insofern ist die Religion wesentlicher Faktor, der an der sozialen Anerkennung der Menschenwürde mitwirkt, auf die eine freiheitliche Grundrechtsordnung nicht verzichten kann. Darin liegt gegenwärtig die fast schon zivilreligiös zu nennende Bedeutung der religiösen Aneignung der Menschenwürde-Idee. 

Für die christliche Gewissheit ist spezifisch, dass die Menschenwürde auch kontrafaktisch gilt. So sehr die Freiheit nach individueller, kultureller, politischer oder ökonomischer Entfaltung drängt und dabei durch das Recht geschützt, gestützt und begrenzt werden muss, so wenig zerfließt sie in diesen Sphären. Ihre innere Bestimmtheit bleibt unangetastet. Aber die Risiken und Gefährdungen des Freiheitslebens können zur Beeinträchtigung von Menschenwürdegewissheit führen, sei es, dass man selbst zum bloßen Objekt der Freiheit Anderer wird, sei es, dass mit den eigenen Freiheitsansprüchen der Selbstwert anderer verletzt wird. Der Glaube an die göttliche Rechtfertigung des Sünders zielt auf die innere Stabilisierung verletzten Würdebewusstseins. In diesem Sinne ist Glaube eine vertiefte Reflexion auf die angefochtene Menschenwürdegewissheit, denn er wird der Einsicht inne, dass die Würde des Menschen vor Gott auch in dem Fall gilt, dass sie empirisch angetastet oder nach menschlichen Maßstäben selbst verschuldet verspielt wird. Menschenwürdegewissheit ist das Bewusstsein vom unbedingten Unangetastet-Sein der Menschenwürde. 

Schließlich gilt für die christlich-religiöse Formierung der Menschenwürdegewissheit, dass sie nicht als reines „Für-Sich“ vorgestellt wird, sondern im ‚Umweg’ über den Gottesgedanken. Die Gottesidee steht für die Universalität der Selbstzuschreibung von Menschenwürde. Alle Menschen gelten als Geschöpfe und sind damit Adressaten der Zuschreibung der Menschenwürde. Diese Zuschreibung verdanken sie allerdings nicht einer menschlichen Aktivität, sondern die religiöse Aneignung der Menschenwürde wird zugleich als eine allen Menschen geltende göttliche Zuschreibung gewusst. Sie ist theonom und gilt unbedingt. 

Daraus kann nun ein ethisch in besonderer Weise qualifiziertes Verständnis von Menschenwürdegewissheit abgeleitet werden. Denn die mit der Menschenwürde verbundene Freiheit weiß sich als verantwortliche Freiheit und begrenzt sich von innen heraus an der Würde des anderen. Diese Verantwortung ist ein hohes Gut und Lösungen von Freiheitskonflikten sind vornehmlich durch selbständige Reflexion und Kommunikation zu finden. Denn es kann nicht im Sinne des Menschenwürdeschutzes sein, alle möglichen Fälle zu verrechtlichen. Beide, Autonomie und Würde, müssen von jedem Einzelnen gewagt und riskiert werden. Dort aber, wo die notwendigen rechtlichen Regelungen zum Schutz der Menschenwürde verteidigt, verändert oder neu gefunden werden müssen, gehört es zur Verantwortung, sich an den gesellschaftlichen Diskursen über die Ausgestaltung des Freiheitsrahmens und Würdeschutzes zu beteiligen. 

Zur Teilnahme am politischen Diskurs über die Regelungen, in denen die Balance zwischen Schutz- und Freiheitsqualität der Menschenwürde zu finden ist, sind alle Träger von Menschenwürdegewissheit aufgerufen. Innerhalb eines Verfassungsrahmens, der im Satz von der Menschenwürde begründetet ist, partizipieren die geordneten Verfahren von politischer Willensbildung und Entscheidung an ihr. Das entlastet den politischen Diskurs über die Lösung von Sachfragen und ethischen Problemen von essentialistischen Einseitigkeiten oder ideologischer Überhöhung einzelner Positionen. Das macht die politischen Akteure und Entscheidungsträger kompromissfähig. Für die aus der Menschenwürde abzuleitende politische Ethik ist der Kompromiss ihr adäquater Ausdruck, weil im demokratischen Verfahren auf die vollständige Durchsetzung des eigenen Willens zugunsten der Berücksichtigung der berechtigten Interessen anderer verzichtet wird (vgl. von Scheliha 2013, S. 291-315).

 

Literatur 

  • Balic, Smail: Islam für Europa. Neue Perspektiven einer alten Religion, Köln 2001, S. 137-145.
  • Barth, Karl: Die kirchliche Dogmatik I/2, Zürich 41948, S. 444f.
  • Enders, Christoph: Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung. Zur Dogmatik des Art. I GG, Tübingen 1997, S. 501.
  • Falaturi, Abdoldjavad: Sind westliche Menschenrechte mit dem Koran vereinbar?, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze, Hamburg 21996, S. 121-140.
  • Golschani, Mehdi: Werte und ethische Fragen in Wissenschaft und Technologie, in: Al-Fadschr Nr. 20, Jg. 22 (2005), S. 11-19.
  • Maunz, Theodor  /Dürig, Günter: Grundgesetz. Kommentar, Art. I Abs. 1 (Zweitbearbeitung München 2003), Rn. 19.
  • Schlink, Bernhard: Die überforderte Menschenwürde. Welche Gewissheit kann Artikel 1 des Grundgesetzes geben, in: Der Spiegel Nr. 51 vom 15.12.2003, S. 50–54, 54.
  • Von Scheliha, Arnulf: ‚Nation‘ und ‚Menschenwürde‘. Zum Wandel der legitimatorischen Bedeutung von Religion für den demokratischen Staat. – in: Religions-Politik I: Zur historischen Semantik europäischer Legitimationsdiskurse, hg. von Georg Pfleiderer und Alexander Heit, Zürich/Baden-Baden 2013, 193-250.
  • Von Scheliha, Arnulf: Protestantische Ethik des Politischen, Tübingen 2013, S. 291-315.