Kleines Plädoyer für evangelisches Pilgern

von Peter Zimmerling

 

Für das Pilgern als eine wiedergewonnene Form protestantischer Spiritualität sprechen mindestens sieben Gründe.

Grund 1: Das Pilgern bietet einen Freiraum für spirituelle Erfahrungen. In einer erfahrungsarmen Alltagswelt wächst bei vielen Menschen die Sehnsucht, etwas zu erleben. Sie wollen den Alltagstrott von Zeit zu Zeit durchbrechen. Die Sehnsucht nach Erlebnissen führt zu einer Offenheit für Neues. Diese prinzipielle Offenheit für Neues schließt häufig auch die Offenheit für Gotteserfahrungen ein. Hinzu kommt, dass die mit der Technik verbundene Entzauberung der Welt als Gegengewicht geradezu nach einer Wiederentdeckung des Heiligen drängt. Das Pilgern zeichnet sich durch starke Erlebnisorientierung und hohe “Erlebnisqualität“ aus.

Grund 2: Das Pilgern erlaubt, Leib und Seele in die evangelische Spiritualität einzubeziehen. Zum Pilgern gehört gewöhnlich eine Form von Wandern. Es ermöglicht dem Pilgernden, die eigene Körperlichkeit wahrzunehmen. Anders als die Beschleunigung des Lebens durch die modernen Verkehrsmittel, entspricht das Wandern dem natürlichen Lebensrhythmus des Menschen, nach dem Motto: “Die Seele geht zu Fuß“ Überdies lassen sich dabei die Grenzen der Belastbarkeit erfahren. Dadurch kann der Pilgernde lernen, sich in seiner Begrenztheit und Bedürftigkeit zu erkennen und eine Ahnung seines Geschaffenseins bekommen. Dem Pilgernden eröffnet sich so die Chance, heilsam bei sich selbst einzukehren.

Grund 3: Das Pilgern ermöglicht, spirituelle Erkenntnisse auf dem Weg leiblicher Erfahrung zu gewinnen. Es lässt leibhaftig erfahren, dass Leben Unterwegssein heißt. Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament spielt das Motiv des Wanderns eine herausragende Rolle. Für den christlichen Glauben gilt wie schon für das Judentum: Um zu Gott zu gelangen, müssen wir uns aufmachen, Liebgewordenes zurücklassen, uns auf Neues einlassen. Jeder spirituelle Weg in der Nachfolge Jesu beinhaltet ein Stück von dessen Kreuzweg.

Grund 4: Das Pilgern besitzt einen sozialen Aspekt. Ein früher nicht gekannter Individualismus hat in den westlichen Industriegesellschaften den Wunsch nach Erfahrungen von Gemeinschaft auf Zeit hervorgerufen. Pilgern stellt ein zeitlich begrenztes Gemeinschaftsangebot dar. Ohne längerfristige Festlegung erlaubt es, gemeinschaftlich gelebtes Christsein kennen zu lernen. Regelmäßige gemeinsame Gottesdienste, Gebets- und Meditationszeiten auf dem Pilgerweg lassen die soziale Dimension evangelischer Spiritualität erfahrbar werden. Das Miteinander während des Pilgerns wird zum Abbild für den Sinn christlicher Gemeinschaft überhaupt: Dass Menschen sich gegenseitig beistehen und unterstützen auf dem Weg der Nachfolge.

Grund 5: Das Pilgern erlaubt, die Natur als Schöpfung Gottes zu erfahren. Pilgerwege führen meist durch unverbaute bzw. unversiegelte Natur. Dadurch ermöglichen sie,  Licht und Farben, Töne, Wärme und Kälte unmittelbar wahrzunehmen. Gleichzeitig bieten sie die Chance, Gottes Schöpferkraft in der Natur zu entdecken. Die sichtbare Welt wird transparent für die Realität des Heiligen.

Grund 6: Das Pilgern hilft evangelischer Spiritualität, den kontemplativen Aspekt neu zu erschließen. Wer pilgert, gewinnt einen Freiraum von Alltagsverpflichtungen. Da durch wird er fähig, Probleme nicht länger zu verdrängen, sondern offen und angstfrei wahrzunehmen. Gleichzeitig öffnet sich dem Pilgernden ein Raum der Stille. Hier hat er die Möglichkeit, besser auf Gott zu hören als im Lärm des Alltags. Auf diese Weise kann sich ihm die spirituelle Dimension seiner persönlichen Fragen erschließen.

Grund 7: Das Pilgern erlaubt, den Moment der Übung in die evangelische Spiritualität zu reintegrieren. Pilgern eröffnet Menschen die Chance, die Bestimmung ihrer Existenz zu erkennen und bewusst einzuüben: Beim Wandern erlebt sich der Mensch Tag für Tag als einer, der auf dem Weg ist. Niemand ist in diesem Leben bei sich selbst zu Hause. Nur wer weitergeht, kann sich selbst treu bleiben. Zum Pilgern gehören gewöhnlich regelmäßige Gebets- und Meditationszeiten und Gottesdienste. Das hilft dem Pilger, – getragen von der Gemeinschaft – einen spirituell geprägten Tagesrhythmus einzuüben, der später auch seinem Alltag Struktur zu geben vermag. Beim Pilgern kann jeder einüben, dass er auf dem Weg nach Hause ist, zu Gott hin.

Weil das Pilgern viele Sehnsüchte des modernen Menschen zu beantworten vermag, ist es gegenwärtig so attraktiv – auch bei kirchlich distanzierten Zeitgenossen. Faszinierend ist, dass im Zusammenhang mit dem Pilgern die spirituelle Dimension vieler dieser modernen Sehnsüchte sichtbar wird. Gerade dadurch erweist es sich als eine zeitgemäße Form evangelischer Spiritualität.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/2007

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