Ist Diakonie lehrbar?

von Beate Hofmann

 

Um das Lernfeld Diakonie für den Religionsunterricht fruchtbar zu machen, gehe ich einen Dreischritt: Zuerst beschreibe ich das Feld Diakonie mit seiner biblischen Verankerung, seiner Geschichte und seinen heutigen Erscheinungsformen und Kernfragen. Dann untersuche ich die Zielgruppe junge Menschen und ihre Interessen am oder Widerstände zum Thema, um schließlich zu erkunden, was für Jugendliche in der Diakonie lernbar sein könnte.

 

Was ist Diakonie?
"Diakonie" ist ein schillernder Begriff und ein hochkomplexes Feld: Denn Diakonie

  • ist die soziale Arbeit der Kirche, aber auch gestalteter christlicher Glaube einzelner,
  • ist praktizierte Nächstenliebe und freier Wohlfahrtsverband in einem subsidiär organisierten Sozialstaat,
  • ist einer der größten Arbeitgeber (450.000 Beschäftigte in über 27.000 Einrichtungen)2 und Einsatzfeld für viele Ehrenamtliche (ebenfalls fast 400.000),
  • ist in ihrer Arbeit Spiegel der sozialen Situation unserer Gesellschaft und Bewährungsfeld für bioethische Fragen, weil sie mit den Grenzen unseres Lebens konfrontiert,
  • ist für die einen Leben in seiner ganzen Fülle und für die anderen als gesunde, wohlhabende, junge Menschen scheinbar irrelevant,
  • ist für die einen eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und für andere fast überflüssig.

Diakonie ist als eine Dimension kirchlichen und christlichen Handelns im christlichen Glauben verankert und hat biblische Wurzeln.

 

Diakonie biblisch
Schon in der Hebräischen Bibel ist die Fürsorge für Arme und der Schutz für Fremde ein Maßstab für den rechten Gottesglauben und Gegenstand zahlreicher Gesetze. Entsprechend scharf kritisieren die Propheten die Missachtung dieser Gesetze.3 Im Neuen Testament wird diese Linie aufgenommen und radikalisiert. In der Magna Charta der Diakonie in Mt 25, 31-46 werden nicht nur die sieben Werke der Barmherzigkeit beschrieben, sondern Jesus identifiziert Nächsten- mit Gottesliebe: "Was ihr getan habt einem von diesen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan." (Mt 25, 40). Die Mustergeschichte diakonischen Handelns, der barmherzige Samariter in Lk 10, zeigt, dass es bei Nächstenliebe nicht um feste Regeln und Prinzipien geht, sondern um eine Lebenshaltung: Nehme ich wahr, wem ich jetzt Nächster werden kann und soll? Hab ich ein offenes Auge für die Nöte meiner Mitmenschen? Auch Paulus nimmt die enge Verbindung von Gottes- und Menschenliebe auf und statuiert mit seiner Kollekte für die arme Gemeinde in Jerusalem ein Beispiel urchristlicher Solidarität (vgl. auch Gal 6,2: Einer trage des anderen Last). In der Diakoniewissenschaft hat sich in den letzten Jahren, ausgelöst durch Forschungen des australischen Theologen John Collins4, eine Diskussion über die Bedeutung des Wortes "diakonein" entwickelt. Geht es in der Apostelgeschichte bei der Einsetzung der Diakone als den ersten christlichen Amtsträgern um die organisierte Sozialarbeit in der Urgemeinde, um Essensausgaben für Witwen und Waisen, oder geht es auch um die Verkündigung der Botschaft des christlichen Glaubens? Der erste Diakon Stefanus stirbt jedenfalls nicht für seine soziale Arbeit, sondern um seiner Predigt willen.

Trotz der zentralen Stellung der Diakonie in den ersten christlichen Gemeinden führt die Diakonie in der Wahrnehmung der Theologie und der institutionalisierten Kirche lange ein Schattendasein.

 

Historische Entwicklungen5
Alltagsdiakonie, d.h. die praktische Hilfe untereinander, gab es immer in den christlichen Gemeinden. Daneben entwickelten sich im Mittelalter vor allem die Klöster als Zentren christlicher Nächstenliebe mit eigenen Spitälern und Armenspeisungen. Lange Zeit war Wohltätigkeit eine Aufgabe der Reichen zur Gewährleistung sozialen Friedens. Als Lehnsherr oder auch als reiche Patrizier sorgten sie für eine Grundversorgung der ärmeren Bevölkerung und vermieden so soziale Unruhe.6 Dieser soziale Pakt zerbrach spätestens in der Industrialisierung des frühen 19. Jahrhunderts, weil die persönliche Bindung zwischen Gutsherr und Tagelöhner, zwischen Patrizier und Dienstpersonal verloren ging und die soziale Not durch die Landflucht explosionsartig wuchs. Zugleich förderte die Emanzipation des Bürgertums die Institutionalisierung von Hilfe: Es wurden zahlreiche Vereine gegründet, die sich die Hilfe für Arme, Kranke, verwaiste Kinder, Prostituierte, sozial gefährdete Jugendliche etc. zur Aufgabe machten. Durch die Gründung des Centralausschusses für Innere Mission durch Johann Hinrich Wichern 1848 wurde die soziale Arbeit dieser Vereine gebündelt und koordiniert. Doch sie stand neben den offiziellen Landeskirchen, die als Staatskirche Teil der staatlichen Hierarchie und Bürokratie waren und sich nicht als Anwalt sozialer Missstände verstanden.

Die große Errungenschaft des 20. Jahrhunderts, die Etablierung eines Sozialstaates mit Versicherungen gegen die soziale Not und einer umfangreichen Sozialgesetzgebung, veränderte auch den Charakter des diakonischen Engagements: Aus den Werken der Barmherzigkeit wurde eine soziale Dienstleistung, auf die im Bedarfsfall ein rechtlicher Anspruch besteht. Das führte dazu, dass Hilfe in sozialer Not zunehmend verwaltet und bürokratisiert wurde. Zugleich sorgte die Professionalisierung und die Etablierung einer Vielzahl sozialer Berufe (Krankenpflege, Altenpflege, Heilserziehungspflege, Heilpädagogik, Sozialarbeiter, Erzieher etc.) für eine Verdrängung ehrenamtlicher, spontaner Hilfeleistung. Dafür gab es jetzt Fachleute und geregelte Finanzierungen. In der Zeit von 1960 bis 1980 wuchsen diakonische Einrichtungen stark in ihren Angeboten und ihrer Zahl an hauptamtlich Mitarbeitenden. Gleichzeitig wuchs nach einer Phase der Annäherung in Folge des Zweiten Weltkriegs und der Nazidiktatur7 die Distanz zwischen verfasster Kirche und Gemeinden einerseits und Diakonie mit ihren Werken und Einrichtungen andererseits. Verstärkt wurde diese Kluft seit den 90er Jahren durch eine zunehmende Ökonomisierung in der sozialen Arbeit. Die Öffnung dieses Feldes für den privaten Wettbewerb und die Deckelung von Pflegesätzen durch die Kostenträger angesichts ihrer leeren Kassen haben zu gravierenden Veränderungen in der diakonischen Arbeit geführt. Einerseits wurde soziale Arbeit ein Markt – aber nur auf den lukrativen Feldern wie Altenpflege und Krankenpflege. Andere Bereiche wie die Obdachlosen- oder Asylarbeit sind wirtschaftlich nicht interessant und werden daher von den privaten Anbietern gern den kirchlichen Einrichtungen überlassen. Der wachsende finanzielle Druck in den letzten Jahren hat zu einem Existenzkampf unter sozialen Einrichtungen geführt, der schon etliche diakonische Einrichtungen in die Insolvenz geführt hat. Gleichzeitig hat sich das Berufsprofil verändert: Soziale Gesinnung ist nicht mehr Voraussetzung für die Arbeit in einem sozialen Beruf. Aus dem Beruf mit christlicher Motivation und hohen Idealen wurde inzwischen ein Job am unteren Ende der Anerkennungsskala, oft schlecht bezahlt und mit hoher Fluktuation.8

Aus dieser Entwicklung erklärt sich auch der Widerstand vieler Schülerinnen und Schüler und ihrer Eltern gegen diakonische Projekte in Schulen und Gemeinden. Pflegerische Dienste für alte und behinderte Menschen werden nicht mehr als vorzügliches Lernfeld für soziale Kompetenz gesehen, sondern als "Drecksarbeit" die nur die machen, denen keine anderen Möglichkeiten offen stehen. Gleichzeitig hat sich das Verständnis von Helfen gewandelt: Betroffenheit wird heute weitgehend über Spenden ausagiert, mit denen "die Profis" dann sinnvoll helfen und agieren können, z. B. beim Tsunami oder bei Erdbeben. Einerseits wird so effektive Katastrophenhilfe ermöglicht, andererseits wird damit die Konfrontation mit Not aus dem eigenen Leben ausgegrenzt. Verstärkt wird dies durch die Tabuisierung von Tod und Leid in einer Gesellschaft, die sich am Jugendlichkeitsideal orientiert.

 

Wie reagieren die Kirchen auf diese Entwicklung?
Für manche Verantwortliche in der Kirche ist immer noch nicht ganz verständlich, warum in der Diakonie so stark "aufs Geld geschaut" und massiv rationalisiert wird. Die oben beschriebenen Veränderungen in der sozialen Arbeit werden oft nicht in ihren Auswirkungen begriffen. Auch die Finanzierung der diakonischen Arbeit, die nur zu einem geringen Teil aus Kirchensteuermitteln und weitgehend durch Mittel aus Pflege- und Krankenversicherung sowie durch die öffentliche Hand bezahlt wird, wird nicht durchblickt. Stattdessen wird die Ökonomisierung und Säkularisierung der diakonischen Arbeit kritisiert und eine Kultur des Helfens angemahnt. Die Verantwortlichen in der Diakonie fühlen sich durch diese Kritik in ihrem Ringen um die Existenz und die Profilierung ihrer Einrichtungen oft missverstanden und allein gelassen. Erst in den letzten Jahren lassen sich hier in einigen Landeskirchen intensivere Kommunikationsprozesse zwischen Kirche und Diakonie beobachten, die die Möglichkeiten gemeindenaher Diakonie und einer engeren Kooperation zwischen Einrichtungen und Gemeinden ausloten.9

Dabei ist auch die Veränderung im Ehrenamt zu beachten. In den letzten Jahren zeigt sich hier ein Wandel weg vom traditionellen "Gebrauchtwerden" und Helfen aus Pflicht und Verantwortung für das Gemeinwohl hin zu einem eigenständigen bürgerschaftlichen Engagement, das Spaß machen, Sinn und Qualifikation bringen und zeitlich überschaubar sein soll.10 Das fordert veränderte Einsatzbedingungen, um das weiterhin vorhandene Potenzial ehrenamtlichen Engagements für diakonische Einrichtungen zu nutzen. Darauf haben manche Diakoniewerke schneller reagiert als viele Kirchengemeinden.

 

Folgen für die diakonische Arbeit:
Die Debatte ums Profil
Die beschriebenen ökonomischen Entwicklungen haben die Arbeit in der Diakonie massiv verändert. Aus dem Hausvater bzw. Anstaltsleiter wurde der Diakoniemanager, der einen christlichen Sozialkonzern mit mehreren tausend Mitarbeitenden wie ein mittelständisches Unternehmen führen muss. Aus dem Amt der Diakonisse, die als Inbegriff eines frommen, guten Menschen und einer fleißigen, unbegrenzt und überall einsetzbaren Mitarbeiterin galt, wurde eine Fülle sozialer Berufe, in denen christliche Motivation nicht mehr per se abverlangt werden kann. In vielen Landeskirchen, vor allem in Ostdeutschland, ist die Kirchenmitgliedschaft als Basis für eine Arbeitsstelle in der Diakonie nicht mehr Voraussetzung. Das bedeutet: Soziales Handeln und christliche Motivation sind nicht mehr zwangsläufig miteinander verbunden. Es gibt auch zahlreiche private Träger, die rein aus humanitären oder auch nur aus ökonomischen Gründen arbeiten.11 Damit ist die Diakonie – zusammen mit der Caritas als katholischem Pendant mit ähnlichen Nöten – nicht mehr einzigartig, sondern ein Anbieter unter vielen.

Durch den Wettbewerb mit anderen Anbietern ist die Diakonie in den letzten Jahren verstärkt gezwungen, ihr Profil herauszustellen. Was unterscheidet diakonische Einrichtungen von anderen? Warum sollte jemand seine alte Mutter oder seinen behinderten Bruder gerade in eine diakonische Einrichtung umsiedeln lassen? Gibt es überhaupt einen Unterschied zu anderen sozialen Einrichtungen? Ich persönlich denke, es kann ihn geben; aber dieses Urteil wird nicht überall geteilt. Deutlich ist, dass der Unterschied nicht in dem liegt, was Diakonie tut, sondern wie Diakonie es tut.12 Diakonisches Profil zeigt sich in dem Miteinander von christlichem Glauben, professionellem Handeln und wirtschaftlichem Denken. Alle drei Dimensionen müssen in der Diakonie berücksichtigt werden, wenn diakonische Einrichtungen erkennbar und gleichzeitig lebensfähig sein wollen. Das kann manchmal zu einem ziemlichen Balanceakt werden. Dabei schlägt sich der christliche Glaube sowohl im Menschenbild als auch in der Atmosphäre und Unternehmenskultur der Einrichtungen nieder. Das zentrale Leitbild der Diakonie in Deutschland13 unterscheidet sich von den Leitbildern anderer Wohlfahrtsverbände in seiner Sicht des Menschen: nicht die Linderung sozialer Not, nicht der Kampf um Gerechtigkeit, nicht der Erhalt der sozialen Ordnung steht im Vordergrund, sondern der einzelne Mensch vor Gott als einer, der Hilfe braucht und gleichzeitig Hilfe geben kann. Damit werden Hilfsbedürftige nicht zu Objekten der Arbeit des Verbandes, sondern zu Subjekten, die in einer Gemeinschaft von Menschen stehen, die wissen, dass das Leben Grenzen hat, dass es Sonnen- und Schattenseiten gibt, die nicht ausgeblendet werden, und dass jeder Mensch sowohl etwas geben kann als auch auf andere angewiesen ist. In diesem Sinne ist diakonische Arbeit Hilfe zum aufrechten Gang und ein Beitrag zu einem Leben in Würde.

Die Achtung der Grenzen des Lebens und das Wissen um die Fragmentarität14 allen menschlichen Lebens beeinflussen medizinische und pflegerische, aber auch ökonomische Entscheidungen. Sie schlagen sich nieder in der Sterbebegleitung oder im Umgang mit Behinderung und sie prägen auch die Rituale, die in vielen diakonischen Einrichtungen gepflegt werden. Hier ist die christliche Spiritualität eine Schatzkiste, die Erfahrungen zum Ausdruck bringen, neue Kraft geben und Rückzugsorte bieten kann. Freilich kann all das nicht mehr selbstverständlich bei Mitarbeitenden und Leitenden vorausgesetzt werden, sondern es bedarf einer intensiven Ausbildung und Förderung dieser diakonischen Kompetenz mit ihren ethischen, kommunikativen und spirituellen Aspekten.

 

Chancen und Schwierigkeiten diakonischen Lernens
Inwiefern ist dieses große Spektrum Diakonie geeignet, soziales Lernen einzuüben? Es sind bereits einige dem Thema inhärente Widerstände angesprochen worden, die es Jugendlichen erschweren, sich auf das Thema Diakonie einzulassen. Im Folgenden sollen dazu kurz einige psychologische und soziologische Aspekte beleuchtet werden, um dann die Konsequenzen für das soziale Lernen zu diskutieren. Folgt man den verschiedenen entwicklungspsychologischen Moralentwicklungstheorien,15 so wird deutlich, dass gerade Schülerinnen und Schüler der Oberstufe bereits in der Lage sein sollten, sich in andere Menschen hineinzudenken und konkretes Tun aus allgemeinen Prinzipien abzuleiten. Dabei gibt es, wie schon Carol Gilligan in den 80er Jahren gezeigt hat,16 einige geschlechtsspezifische Unterschiede, die sich einer unterschiedlichen Sozialisation verdanken: Mädchen denken eher von Beziehungen her, Jungen stärker von Prinzipien her. Das bestätigen auch jüngste jugendsoziologische Studien:17 Jungen setzten sich vermehrt für die Rechte von anderen Menschen und für ihren Sportverein ein, Mädchen machen sich im sozialen Bereich stark und kümmern sich um alte und behinderte Menschen. Das entspricht übrigens auch exakt der Geschlechterverteilung in den sozialen Berufen.

Es gibt, wie schon angesprochen, einige gesellschaftliche Erschwernisse, die Jugendliche von sozialem Engagement abhalten. Dazu gehört neben der allgemeinen Veränderung in den Motiven für das Ehrenamt auch der wachsende Existenzkampf junger Menschen. Ihr Weg in den Beruf und ihre Verortung in der Gesellschaft sind nicht mehr selbstverständlich, sondern sie müssen in allen sozialen Schichten hart und oft sehr langwierig erkämpft werden.18 Der Wunsch, mithalten zu können und sich zu beweisen, führt viele junge Menschen nicht in den sozialen Bereich, der gesellschaftlich nicht mehr mit hohem Renommee verbunden ist. Mit Sport, Fitness, Mode oder Musik lässt sich mehr "punkten" als mit Besuchsdienst im Altersheim. Verstärkt wird dies durch das intensive Ringen um die eigene Identität, in der die Abgrenzung gegen Schwächere und "Verlierer" vor allem bei sozial Schwächeren identitätsstärkend wirkt.19 Gerade männliche Jugendliche haben Angst, sich durch soziales Engagement als unmännlich und uncool darzustellen. Das bedeutet: Wofür man sich engagiert, ist eine Frage des Alters, des Geschlechts und auch des sozialen Status.

Doch zeigen soziologische Untersuchungen gleichzeitig, dass die Rede von der Ego-Generation so nicht stimmt.20 Junge Leute sind nicht immun gegen soziale Fragen; nur die Art und die Begründung ihres Engagements hat sich verändert. Nach wie vor gibt es eine hohe Alltagssolidarität in der Familie und im Freundeskreis. Die Konfrontation mit Leiderfahrungen (z.B. Krankheit, Arbeitslosigkeit, Sucht, auch Essstörungen, Todesfälle) im eigenen Umkreis und entsprechende Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit wecken die Suche nach Orientierung und Sinn. Die Betroffenheit bei Kriegen und Katastrophen gerade bei jungen Menschen (Irakkrieg, Tsunami) lässt sie nach konkreten Formen sinnvollen Engagements suchen, wo sie eine direkte Wirkung ihres Tuns sehen können. Auch das politische Interesse an Gerechtigkeitsfragen ist nicht erlahmt, wie der Zustrom zu "Attac" zeigt. Nur die Bereitschaft, sich in langen Debatten, Gremiensitzungen und Demonstrationen zu engagieren, ist deutlich gesunken. Stattdessen gehen Jugendliche lieber in ein freiwilliges soziales Jahr oder engagieren sich in Streitschlichter- oder Tutorenprogrammen in ihrer Schule.

Inwiefern ist solches Engagement mit dem Nachdenken über den christlichen Glauben verbunden? Es wurde schon deutlich, dass auch innerhalb der Diakonie die Verbindung zum christlichen Glauben nicht mehr selbstverständlich ist. Umgekehrt ist auch von theologischer Seite die Diakonie nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Das hat theologiegeschichtliche Gründe. Luther lehnte gute Werke als Heilsbedingung klar ab. Gute Werke sind eine Folge des Glaubens, keine Bedingung. Entsprechend hat sich lutherische Theologie auf Fragen des Glaubens konzentriert und Diakonie eher als Randthema behandelt. Das hat die theologische Verankerung der Diakonie nicht erleichtert, öffnet aber den Horizont für andere Zugänge.

 

Moral ja, aber wie? Grundsätze diakonischen Lernens
Eine Grundbedingung sozialen Lernens ist der Verzicht auf moralischen Druck. Denn Jugendliche reagieren sehr empfindlich auf diese Form von Druck und wehren sich dagegen. Außerdem ist eine Haltung, die "durch erhobenen Zeigefinger" zum sozialen Handeln motiviert, auch unevangelisch, weil die Werke eine Folge des Glaubens und in diesem Sinne "zweckfrei" sind und nicht aus Angst geboren werden sollten.

Ein zweiter Grundsatz: Diakonisches Lernen zielt auf den affektiven Bereich. Entsprechend sind Lernerfolge in diesem Bereich schwer messbar und oft erst langfristig sichtbar. Eine Operationalisierung wird kaum gelingen. Aus der Lernpsychologie wissen wir, dass Verhaltensänderungen in diesem Bereich nicht durch Argumente erreicht werden, sondern durch positive Erfahrungen. Projektlernen, wie es z. B. in Niedersachsen und auch in anderen Bundesländern angestrebt ist, ist daher ein sinnvoller Weg zu Lernerfahrungen in diesem Bereich. Es nimmt einen dritten Grundsatz ernst: Diakonie ist nicht lehrbar, aber lernbar! Und kennenlernbar. Diakonie bietet als Lernfeld vielfältige Erfahrungen, die in Projekten angeeignet werden können im Sinne einer subjektorientierten Bildung; sie bietet durch Identifikation und Abgrenzung Stoff für die Auseinandersetzung mit der Konstruktion der individuellen Identität.

In diesem Sinn ist diakonisches Lernen eine Bildungschance im Sinne subjektorientierter, selbstreflexiver Bildung. Es umfasst soziales Bewusstsein und Wissen, Nächstenliebe, persönliche Sinnorientierung, Erfahrungen des Gebrauchtwerdens, Empathie, Toleranz, Dialogfähigkeit. Es zeigt damit eine große Nähe zum Bildungsbegriff insgesamt;21 das kann auch als Legitimation in der Diskussion um den Sinn diakonischen Lernens in der Schule dienen.

Was könnten sinnvolle pädagogische Elemente diakonischen Lernens sein?22 Vorbilder, die beeindrucken. Das große Interesse an Stars (Sportler, Musiker, Konzernchefs) und ihrem sozialen Engagement zeigt, dass sie auch in diesem Bereich vorbildlich wirken können.

Begegnungen mit Menschen, die in diakonischen Einrichtungen leben oder arbeiten und einen authentischen Blick auf die Diakonie ermöglichen. Hier geht es nicht darum zu glorifizieren, denn Behinderte sind nicht die besseren Menschen; aber es ist möglich zu erleben, wie Menschen mit einer Behinderung trotzdem fröhlich leben oder Altenpflegerinnen ihren Beruf aus Überzeugung ausüben und besonders Sterbebegleitung als sinnvoll erleben können. Von daher sind Projekte mit einem Compassion-Ansatz in meinen Augen ein Schritt in die richtige Richtung. Denn so lässt sich Diakonie unmittelbar erleben.
Entscheidend dabei ist eine sensible Begleitung bei der Konfrontation mit dem Gefühl der Hilflosigkeit und der Angst vor Krankheit und Tod. Jugendliche brauchen hier Unterstützung bei der Begegnung mit den Schattenseiten des Lebens, so dass sie nicht aus Angst die schwer erträglichen Gefühle verdrängen müssen. Je nach Entwicklungsphase der Jugendlichen kann das Eingestehen von Hilfsbedürftigkeit und Geborgenheit dem Ringen nach Autonomie zuwiderlaufen. Das verstärkt die Tendenz, diese Gefühle abzuspalten.

Die oben zitierten Erkenntnisse zu unterschiedlichen sozialen Orientierungen bei Jungen und Mädchen machen es durchaus sinnvoll, bei diesem Lernfeld genderspezifisch zu arbeiten. Damit kann gegenseitigen Abqualifizierungen vorgebeugt werden. Gerade Jungen sind dann u. U. eher bereit, sich auch auf die Begegnung mit "Schwächeren" einzulassen und ihre Gefühle dabei offen wahrzunehmen.

 

Konsequenzen: Was ist für Jugendliche in der Diakonie lernbar?
Im Lernfeld Diakonie geht es nicht einfach um soziales Lernen, also darum, "bessere Menschen" aus den Schülerinnen und Schülern zu machen. Es geht sehr fundamental um die Frage, wie wir uns als Menschen sehen, was dem Leben Sinn gibt, was das Leben lebenswert macht. Das lässt sich in der Diakonie lernen und erleben – aber nicht zwangsläufig! "Helfen ist immer auch eine Selbst – und Beziehungserfahrung, die Freude machen, aber auch verletzen kann."23

Der Blick auf ein anderes Leben und andere Sinnkonstruktionen kann zur eigenen Identitätsfindung beitragen und die Entwicklung von Verantwortung und einem eigenen Wertesystem unterstützen.24 Das zeigen auch Projekte aus der Wirtschaft, die im Rahmen eines "Seitenwechsel"25 Manager in die Diakonie schicken, um dort ihre Empathie und andere "soft skills" zu stärken. Die Begegnung mit Menschen in der Diakonie führt auch an bioethische Grundfragen des 21. Jahrhunderts heran, die für viele Schülerinnen und Schüler im eigenen Leben Bedeutung gewinnen können, z.B. bei der ersten Schwangerschaft (Neonatologie, Pränatale Diagnostik, Umgang mit potentiellen Behinderungen eines Kindes), beim Ausfüllen eines Organspendeausweises, in der Frage von Sterbebegleitung und Sterbehilfe in der Familie oder im Freundeskreis.

Das Lernfeld Diakonie kann auch das Gerechtigkeitsempfinden sensibilisieren durch die Begegnung mit Notlagen und Ungerechtigkeit.

Pädagogisch zentral ist m. E., den Eigen-Sinn sichtbar zu machen, also das, was ich selbst durch soziales Handeln gewinne. Denn Motivation für soziales Engagement ist dann da, wenn es als "lohnend" und spannend empfunden wird. Das bedeutet, pädagogisch wegzugehen von mehr oder minder steilen theologischen Begründungen ("Warum wir unseren Nächsten lieben sollen"), die schon in der Diakonie selbst nicht mehr funktionieren, und hinzugehen in die Erfahrung, um von dort zur Theologie zu kommen ("was motiviert Menschen, sich so zu verhalten?"). Anders sind Jugendliche nur schwer ansprechbar auf diakonische Themen.

Ich will das an einem persönlichen Beispiel verdeutlichen: Mir sind in der Diakonie Mitarbeitende begegnet, die aus gut bezahlten Positionen in der Industrie in die Arbeit mit Behinderten gewechselt sind, weil sie "mit Menschen arbeiten wollten" und eine Arbeit suchten, deren Sinn für sie wahrnehmbar war. Sie haben dort Möglichkeiten gefunden, ihr Können nicht nur zum eigenen Nutzen oder zur Profitmaximierung des Konzerns einzusetzen, sondern zur Steigerung der Lebensqualität von Menschen, deren Möglichkeiten, Leben zu gestalten, sichtbarer begrenzt sind als ihre eigenen. Wenn ich Mitarbeitende gefragt habe, was sie – trotz vergleichsweise schlechter Bezahlung und manchmal mühsamer Arbeitsbedingungen mit Nachtschichten und Personalmangel – in der sozialen Arbeit hält, dann haben sie mir erzählt von Erfahrungen geglückter Lebensgestaltung mit den Menschen, für die sie arbeiten. Wenn die eigene Arbeit zur Aktivierung eines alten Menschen, zur Verselbstständigung eines behinderten oder zur Genesung eines kranken Menschen beigetragen hat, wenn dessen Freude sichtbar und damit auch teilbar wird, dann wird Arbeit als sinnvoll und befriedigend erlebt.

Hier liegt in meinen Augen der Schlüssel zu einer möglichen theologischen Begründung einer Kultur des Helfens. Wer einen sozialen Beruf ergreift oder sich ehrenamtlich engagiert, tut dies nicht aus reiner Barmherzigkeit oder um endlich einmal gebraucht zu werden, sondern um im eigenen Leben Sinn zu erfahren und um andere Beziehungsmuster zu erleben. In diesem Sinne könnte eine Begründung der Motivation zum Helfen darin liegen, dass ich durch die Begegnung mit Menschen, die anders sind und leben als ich, mehr über mich lerne, dass ich durch diese Beziehung mich selbst anders erlebe und meinen Horizont im Blick auf das, was lebenswert ist, verändere.

Wenn ich erlebe, dass ich einen Menschen annehmen und wertschätzen kann, der ganz anders ist als ich und dessen Lebenswelt sich von meiner sehr unterscheidet, dann kann diese Erfahrung von Beziehungsfähigkeit, von Wertschätzung der eigenen und der anderen Person auch den Blick auf mich selbst verändern, neue Stärken entdecken und schätzen helfen. Die Erfahrung, in essentiellen Lebenssituationen als Mensch gefordert zu sein und zu bestehen, z. B. am Bett eines sterbenden Menschen oder in der Arbeit mit schwerstbehinderten Kindern und ihren Familien, diese Erfahrung ist nicht nur eine Bereicherung der Lebensgeschichte derer, denen ich "helfe", sondern auch meiner eigenen Biografie und Selbstwahrnehmung.

Doch nicht nur ich selbst und mein Mitmensch, auch Gott begegnet mir auf diesem Wege, in der Kraft, die solche Begegnungen vermitteln, in der Paradoxie von Stärke und Schwäche, die Gott gerade in den "Schwachen" mächtig sein lässt, in der Fähigkeit zu Freude, Wertschätzung und Liebe, die im Alltagstrott oft verloren gehen oder von Stresserfahrungen überlagert werden. In diesem Sinn ist es Zeichen der Liebe Gottes zu uns, dass wir zur Nächstenliebe angestiftet werden, und nicht nur ein Zeichen unserer Liebe zu Gott.

So verstanden ist Hilfe keine Selbstentäußerung, sondern eine Selbstfindung. Die Aufgabe der Theologie besteht für mich darin, eben diese Sinn- und Selbstfindungspotentiale in den biblischen und den diakonischen Lebensgeschichten aufzuspüren, um dadurch für Menschen unserer Zeit plausibel zu machen, dass Helfen Sinn machen kann – auch und gerade heute.

 

Fazit: Was lässt sich in der Diakonie lernen?
In der Diakonie werden wir mit Begrenzungen des Lebens wie mit Wegen der Lebensbewältigung konfrontiert. Nicht nur lässt sich dabei erfahren, wie wirksame Hilfe für Menschen aussehen kann (wobei die Möglichkeiten der Unterstützung bei manchen Behinderungen faszinierend sind), sondern auch, wie sich aus christlicher Motivation heraus das Leben und das Helfen verändert. "Wie verändert es das Leben, Ziele außerhalb seiner selbst zu haben?" Nicht zuletzt auf diese wichtige Frage kann die Diakonie eine Antwort aufzeigen.

 

Anmerkungen

  1. Schriftliche Fassung eines Vortrags im RPI Loccum am 13.9.2005.
  2. Vgl. www.diakonie.de/de/html/fachforum/2168_1097.html.
  3. Vgl. z.B. Jes 1, 23; Amos 5; 1. Kön 21.
  4. Vgl. Collins, John N.: Diakonie. Re-Interpreting the Ancient Sources, New York/ Oxford 1990; s. dazu auch die Diskussion in: Herrmann, Volker/Merz, Rainer/Schmidt, Heinz (Hg.): Diakonie Konturen, VDWI 18, Heidelberg 2003.
  5. Vgl. dazu auch meinen Artikel "Diakonie" in der 2007 erscheinenden Neuauflage des TRT (Taschenlexikon Religion und Theologie) oder ähnliche Artikel in der RGG und TRE.
  6. Vgl. Luhmann, Niklas: Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen, in: Otto, Hans-Uwe / Schneider, Siegfried (Hg.): Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit, 1. Halbbd., Neuwied/Darmstadt, 3. Auflage 1975, S. 21-43.
  7. Zum Schutz gegen Vereinnahmung durch die Deutschen Christen oder die nationalsozialistische Volkswohlfahrt schlossen sich viele diakonische Einrichtungen unter der Führung von Friedrich von Bodelschwingh zusammen und suchten den Anschluss an die Kirche. Nach 1945 führten die Aktivitäten des Hilfswerks der EKD, das neben der Inneren Mission agierte, zu einer Neuentdeckung des diakonischen Auftrags der Kirchen, die schließlich in der Formulierung "Diakonie als Lebens- und Wesensäußerung von Kirche" in der EKD-Grundordnung gipfelte.
  8. Besonders stark ist das in der Altenpflege zu beobachten.
  9. Vgl. dazu die württembergische Kontaktbörse www.diakonie-wuerttemberg.de/direkt/diakonievorort oder die Leitlinien diakonischen Handelns der ELKB, Amtsblatt der ELKB 5/2005, S. 122ff. sowie die Aktion Nachbarschaftsbus der ELKB.
  10. Vgl. dazu Keupp, Heiner: Mehr Amt als Ehre? Über den Sinn von freiwilliger Arbeit, in: Lernort Gemeinde, 20. Jg. Heft 2/2002 S. 3-8.
  11. Große private Träger sind z. B. Kursana und Curanum, FAZIT oder die Steindorf Gruppe sowie Sunrise Senior Living Germany oder die Rhönkliniken.
  12. Vgl. dazu Hofmann, Beate/Schibilsky, Michael (Hg.): Spiritualität in der Diakonie. Anstöße zur Erneuerung christlicher Kernkompetenz, Stuttgart/Berlin/Köln 2001, S. 103-116.
  13. Leitbild Diakonie – damit Leben gelingt! DW (Diakonisches Werk) der EKD 1998, auch unter www.diakonie.de.
  14. Vgl. dazu Luther, Henning: Identität und Fragment. Praktisch- theologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen, in: Religion und Alltag, Stuttgart 1992, S. 160-182.
  15. Vgl. Oerter, Rolf/Montada Leo: Entwicklungspsychologie, 3. vollständig überarbeitete Auflage, Weinheim 1995, S. 862-894.
  16. Gilligan, Carol: Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau, München 1985.
  17. Zinnecker, Jürgen u.a.: null zoff & voll busy. Die erste Jugendgeneration des neuen Jahrhunderts, Opladen 2003, S. 81.
  18. Vgl. dazu den sehr aufschlussreichen Roman von Nikola Richter Die Lebenspraktikanten (Frankfurt 2006).
  19. Vgl. dazu Zinneker, null zoff. S. 82.
  20. Vgl. Keupp, Heiner: Eine Gesellschaft der Ichlinge?, SPI-Reihe Bd. 3, München 2000. Vgl. auch die Zahlen aus den Freiwilligensurveys von Rosenbladt, B./Picot, S.: Freiwilligenarbeit, ehrenamtliche Tätigkeit und bürgerschaftliches Engagement. Überblick über die Ergebnisse, München 1999; tns infratest: 2. Freiwilligensurvey 2004 – Ehrenamt, Freiwilligenarbeit, Bürgerschaftliches Engagement 2005.
  21. Vgl. Schmidt, Heinz/Zitt, Renate: Fürs Leben lernen: Diakonisches Lernen – diakonische Bildung, in: Diakonische Bildung. Theorie und Empirie, hsg. von Helmut Hanisch und Heinz Schmidt, Heidelberg 2004 (DWI Bd.21), S.65; vgl. auch das Bildungskonzept für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, München 2004, S. 19ff.
  22. Vgl. zu den Strukturelementen diakonisch-sozialer Bildungsprozesse Schmidt/Zitt: Fürs Leben lernen S.71. Vgl. dazu auch die Beiträge in: Unterwegs zu einer Kultur des Helfens. Handbuch des diakonisch-sozialen Lernens, hsg. von Gottfried Adam, Helmut Hanisch, Heinz Schmidt und Renate Zitt, Stuttgart 2006.
  23. Vgl. Schmidt/Zitt: Fürs Leben lernen, S. 57.
  24. Vgl. die Entwicklungsaufgaben für das Jugendalter bei Örter/Montada, Entwicklungspsychologie S.326ff.
  25. Vgl. bei www.persoenlichkeitundethik.de das Programm SeitenWechsel.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/2007

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