Wenn ein Mensch alt wird

von Carsten Mork

 

Konfirmandinnen und Konfirmanden entdecken die Lebensperspektive des Alters

Auf die Frage: "Wenn ein Mensch alt wird, dann ..." ergänzte die 13jährige Silke spontan: "... dann gehört er zum alten Eisen und rostet so vor sich hin". Nach diesem Bild vom Altwerden eines Menschen ist der letzte Abschnitt in diesem Leben ein einziger Verfallsprozess – leben nur noch, um langsam zu zerfallen. So sagte aus derselben Konfirmandengruppe der 14jährige Peter: "Altwerden lohnt sich nicht. Da ist doch nichts mehr los." Unwidersprochen blieben diese Aussagen nicht. Kathrin erwiderte: "Meine Oma ist noch nicht verkalkt. Die macht eben was los."

Von solchen Aussagen von Konfirmandinnen und Konfirmanden ist dieser Entwurf für den Konfirmandenunterricht angestoßen und angeregt worden. Ein alter Mensch, mit dem nichts mehr los ist und ein alter Mensch, der noch etwas los macht – von diesen gegensätzlichen Bildern sind viele Jugendliche mitbestimmt in ihrer Sicht von einem alten Menschen und zugleich auch in ihrer Perspektive, einmal selber ein alter Mensch zu werden. Deutlich wurde mir bei den oben genannten Aussagen von Konfirmandinnen und Konfirmanden über das Alter auch, wie sehr die eigenen Vorstellungen vom Alter geprägt sind durch das unmittelbare Erleben eines alten Menschen in der eigenen Familie oder in der unmittelbaren Umwelt. Deutlich wurde außerdem, wie die in unserer Gesellschaft vorherrschende Verdrängung des Altwerdens ("immer jung, frisch und dynamisch") und die damit verbundene Verdrängung des Todes ein Altwerden als nicht mehr "lohnenswert" erscheinen lassen.

In den hier vorgelegten Anregungen zum Konfirmandenunterricht sollen nach der Frage, wer ist denn nun ein alter Mensch, die Lebens(vor)bilder aus der eigenen Familie und Gesellschaft in ihrer Unterschiedlichkeit vor Augen geführt werden. Wichtig sind dann vor allem die unmittelbaren Begegnungen von Jung und Alt, in denen Erfahrungen miteinander gemacht werden können, die das Leben im guten Sinne "bereichern" in einem wechselseitigen Verhältnis. Dass das Älterwerden nicht nur ein passiv hinzunehmender Prozess, sondern zugleich auch eine Gestaltungsaufgabe für das ganze Leben sein kann, dies soll zum Abschluss in den Blick kommen.
 


1. Schritt:

Ein alter Mensch – wer ist das?

Arbeitsmaterial:

  • Zur Vorbereitung dieses Themas sollte die/der Unterrichtende aus Zeitungen, Zeitschriften, Broschüren z. B. von diakonischen Einrichtungen oder Pflegeheimen, Modekatalogen usw. Bilder sammeln, auf denen ein alter Mensch/alte Menschen zu sehen sind. Als Vorbereitung auf den Unterricht ist es dabei hilfreich, sich selber zu fragen: Warum habe ich diese Bilder ausgewählt? Welche Lieblingsbilder habe ich? Welche Bilder finde ich abschreckend?
  • Behauptungen zum Thema "Altsein" auf Karten schreiben. Die hier genannten Beispiele können ergänzt werden; wichtig ist, die Vielfalt möglicher Behauptungen zu beachten.
     

Gestaltungsvorschläge

  • Im Unterrichtsraum trifft sich die Gruppe in einem Stuhlkreis. In der Mitte liegen Bilder, auf denen alte Menschen zu sehen sind. Die Zahl der Bilder sollte doppelt so groß sein wie die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Die Konfirmandinnen und Konfirmanden und die/der Unterrichtende suchen sich aus den Bildern ein Bild heraus, das ihnen besonders aufgefallen ist. Für die Auswahl sollte genügend Zeit gelassen werden. Die/der Unterrichtende könnte dabei auf Bemerkungen, Zwiegespräche oder Kurzkommentare bei dem Auswahlprozess achten und sich für ein anschließendes Gespräch dazu Notizen machen als mögliche Impulse für das Gespräch.
  • Jede Konfirmandin und jeder Konfirmand stellt das ausgesuchte Bild kurz vor. Dies geschieht in zwei Schritten: zunächst wird das Bild für alle sichtbar hochgehalten und kurz beschrieben, was zu sehen ist. Anschließend sagt jede und jeder, warum sie/er dieses Bild ausgewählt hat. Zum Schluss stellt auch die/der Unterrichtende das ausgewählte Bild vor.
  • In einer zweiten Gesprächsrunde werden die ausgesuchten Bilder dahingehend befragt, welche Antwort ein Bild auf die Frage gibt: Wer ist ein alter Mensch? Diese Frage wird auf einen weißen Papierbogen geschrieben und in die Mitte des Stuhlkreises gelegt (bei Öffnung des Stuhlkreises könnte auch eine Tafel genutzt werden). Die Konfirmandinnen und Konfirmanden beantworten diese Frage jeweils auf dem Hintergrund und aus der Perspektive des von ihnen ausgewählten Bildes. Die Bilder könnten nun auf einem Papierbogen befestigt werden, und die dazu gefundene Antwort könnte unter dieses Bild dazugeschrieben werden.
  • Es werden mehrere Kleingruppen gebildet und jede Gruppe erhält eine Sammlung mit Behauptungen zum Thema "Altsein". Je eine Behauptung sollte auf einer Karte stehen. Die Sammlungen von Karten sind für die Gruppe gleich. Folgender Arbeitsauftrag wird an die Gruppen gegeben:
     

Alle Karten sollen bearbeitet werden.

  1. Mischt die Karten und legt sie mit der Schrift nach unten auf einen Stapel auf den Tisch.
  2. Eine oder einer beginnt und hebt die oberste Karte ab, liest die Behauptung vor und benennt, was für diese Aussage spricht. Die anderen Teilnehmer und Teilnehmerinnen können dazu Fragen stellen, die von der/dem jeweiligen Karteninhaberin/Karteninhaber beantwortet werden müssen.
  3. Anschließend zieht die/der nächste Teilnehmerin/Teilnehmer die nächste Karte und verfährt genauso damit, wie die/der Vorgängerin/Vorgänger.
  • Im Plenum berichten die Konfirmandinnen und Konfirmanden von den Behauptungen, deren Begründungen und möglichen Anfragen. Im Vergleich mit den anderen Kleingruppen könnte zusammengestellt werden, welche Aussagen Zustimmung bzw. Ablehnung erfahren haben.
     

Behauptungen zum Thema "Altsein"

Wenn ein Mensch alt wir, dann gehört er zum alten Eisen

Wer alt wird, der ist weg vom Fenster

Ein alter Mensch kann seinen Lebensabend genießen

Ein alter Mensch muss nicht mehr lernen

Wenn man alt wird, dann wird man immer einsamer

Wenn man alt wird, wird man abgeschoben ins Altenheim

Erst, wenn man alt geworden ist, versteht man das Leben

Wer im Alter glücklich sein will, der muss schon als junger Mensch dafür übern

Altwerden lohnt sich nicht, denn da ist ja nichts mehr los

Je älter man wird umso mehr ist man auf die Hilfe con anderen angewiesen

Wenn Kinder, Eltern und Großeltern unter einem Dach wohnen, kann man zufrieden alt werden

Alte Menschen sind oft verständnisvoller gegenüber Kindern als deren Eltern

Im Alter kann man all sein Wünsche verwirklichen, zu denen man während der Arbeitszeit nicht gekommen ist

Um so oller, um so doller


2. Schritt

Ein alter Mensch in meiner Familie

Arbeitsmaterial:

  • Zu dieser Einheit soll jede Konfirmandin und jeder Konfirmand Lieblingsfotos von den Urgroßeltern und Großeltern zum Unterricht mitbringen.
  • Erzählung: "Das kann Opa doch nicht machen" (von Wolfgang Pauls) M 1

Gestaltungsvorschläge

  • Jede Konfirmandin/jeder Konfirmand stellt ein Lieblingsfoto von den Urgroßeltern bzw. Großeltern vor und erzählt dazu, wann und wo dieses Foto entstanden ist.
  • In einer zweiten Gesprächsrunde soll jede/r eine Geschichte erzählen, in der eine besondere Begebenheit mit den Großeltern – lustig oder traurig – enthalten ist. Hier könnten neben schönen Erinnerungen und lustigen Begebenheiten auch die Erfahrungen von Krankheit, Pflege, Sterben und Tod der Großeltern erzählt werden. Die/der Unterrichtende sollte zunächst nach "besonderen Erlebnissen" fragen und dabei die Richtung offen lassen, so dass die Konfirmandinnen und Konfirmanden selber darüber entscheiden können, welche Erlebnisse sie in der Gruppe erzählen mögen.
  • Anschließend wird die Geschichte "Das kann Opa doch nicht machen" vorgelesen und miteinander besprochen. Bevor dabei auf Einzelheiten der Geschichte eingegangen wird, sollte jede/r die Möglichkeit bekommen, einen ersten Eindruck von der Handlung mitzuteilen. Danach könnte über das Für und Wider eines Aufenthaltes in einem Altenheim, über die eigene Entscheidung, in ein Altenheim zu gehen, und über die Auswirkungen auf die ganze Familie gesprochen werden. Hier wäre auch Raum für eigene Erfahrungen und Erlebnisse von Besuchen in Altenheimen und auf Pflegestationen oder von einem daheim zu pflegenden Angehörigen.
     


3. Schritt

Wenn die Alten mit den Jungen ...
Im Folgenden werden einige Möglichkeiten genannt, bei denen es um eine Begegnung und ein Miteinander von jungen und alten Menschen geht. Dabei könnten einzelne Aktionen von der ganzen Konfirmandengruppe vorbereitet und durchgeführt werden. Andere Aktionen könnten von Kleingruppen wahlweise und alternativ geplant und erlebt werden.

Miteinander singen
Die Konfirmandinnen und Konfirmanden nehmen an einem Treffen der alten Menschen in der Gemeinde teil (Altengeburtstagstreffen, Seniorennachmittag, Altenkreis usw.). Bei diesem gemeinsamen Nachmittag lernen die Mädchen und Jungen die "alten" Lieder und die Alten die "neuen" Lieder kennen. Dabei singen z. B. die Konfirmandinnen und Konfirmanden eines ihrer Lieder vor, üben mit den alten Menschen die Melodie ein und singen dann das Lied gemeinsam. Vielleicht mögen von den alten Menschen die eine oder der andere auch erzählen, was sie mit ihren Liedern verbindet.

Besuch im Altenheim/Pflegeheim
Eine Konfirmandengruppe besucht – nach Absprachen mit der jeweiligen Einrichtung und nach Information über diese Einrichtung – ein Altenheim oder Pflegeheim in der näheren Umgebung. Welche Begegnungsmöglichkeiten gegeben sind, dies hängt von den örtlichen Gepflogenheiten ab.

Ein Nachmittag mit den Großeltern
Für einen Nachmittag am Wochenende treffen sich die Konfirmandinnen und Konfirmanden mit ihren Großeltern. Neben einem Austausch über den Konfirmandenunterricht damals und heute könnten alte und neue Lieder gesungen werden (das neue Evangelische Kirchengesangbuch könnte hier vertrauter werden), Spiele aus der Jugendzeit der Großeltern und Spiele der Konfirmandinnen und Konfirmanden könnten miteinander gespielt werden und anderes mehr. Ein gemeinsam vorbereitetes Abendessen und eine Andacht zum Schluss sollte dieses Miteinander abrunden.

Fotos – damals und heute
Alte Menschen in der Kirchengemeinde werden eingeladen, alte Fotos des Ortes oder Stadtteils zur Verfügung zu stellen. Die Konfirmandinnen und Konfirmanden versuchen nun, die auf den Fotos gezeigten Plätze, Ortsansichten oder Standpunkte des damaligen Fotografen aufzufinden, um von hier aus ein Foto der gegenwärtigen Ansicht zu machen – mit gleicher Perspektive wie bei den alten Fotos. Ohne großen technischen Aufwand können von alten Fotos Dia-Aufnahmen angefertigt werden, die – zusammen mit den neuen Fotos – an einem gemeinsamen Treffen der alten und jungen Menschen der Gemeinde gezeigt werden. Hierzu werden natürlich besonders diejenigen alten Gemeindemitglieder eingeladen, die ihre Fotos zur Verfügung gestellt haben; sie können oft vieles aus der Geschichte des Ortes oder des Stadtteils erzählen.

Hilfe bei der Grabpflege
Alten Menschen in der Gemeinde wird das Angebot gemacht, dass eine Gruppe von Konfirmandinnen und Konfirmanden (max. 4 – 5) mit ihnen zusammen die Pflege eines Angehörigengrabes übernimmt. Unter Anleitung und helfenden Anweisungen des jeweiligen alten Menschen wird dann ein Grab gepflegt. Dies kann eine einmalige Aufgabe sein. Dies könnte auch eine Projektaufgabe für die Konfirmandinnen und Konfirmanden während ihrer Konfirmandenzeit sein; eine thematische Bearbeitung im Konfirmandenunterricht bietet sich an verschiedenen Stellen an, z. B. bei den Themen: "Tod und Leben", "Diakonie", "Jung und Alt in der Gemeinde".

Einkaufshilfe
Viele alte Menschen können zwar noch in ihren vertrauten Wohnungen leben, sind aber nicht mehr in der Lage, ihren Einkauf selber zu erledigen. Hier könnten die Konfirmandinnen und Konfirmanden für einen begrenzten Zeitraum eine Einkaufshilfe anbieten oder Botengänge übernehmen.

Jung und Alt miteinander im Gespräch
Die Konfirmandinnen und Konfirmanden treffen sich mit alten Menschen zum Gespräch. Es werden Tischgruppen gebildet mit jeweils 3 Jugendlichen und 3 alten Menschen. Jede Gruppe hat auf dem Tisch einen Stapel Karten mit Behauptungen zu "Die heutige Jugend" und "Altsein" (vgl. hierzu die erste Einheit dieses Entwurfes). Die Karten für die Behauptungen "Die heutige Jugend" werden mit den Karten "Altsein" gemischt und mit der Schrift nach unten auf den Tisch gelegt. Jede und jeder zieht nacheinander eine Karte und begründet, warum die jeweilige Behauptung zutreffend ist – auch wenn sie vielleicht der eigenen Meinung entgegensteht. Anschließend kann die eigene Meinung zur jeweiligen Behauptung geäußert werden. Auf diesem Wege kann ein Sich-in-andere-Hineinversetzen und eine wechselseitige Perspektivübernahme – ohne in vorgefertigten Meinungen stecken zu bleiben – bei Jung und Alt angeregt werden.
 


4. Schritt

Wenn ich einmal alt bin

Arbeitsmaterial:

  • Seligpreisung eines alten Menschen M 2
  • Lied: Selig seid ihr M 3

Gestaltungsvorschläge:

  • Das Lied: "Selig seid ihr" wird geübt und miteinander gesungen. Der Text des Liedes kann miteinander besprochen werden unter Einbeziehung der Seligpreisungen im Matthäus-Evangelium 5, - Die "Seligpreisungen eines alten Menschen" werden gelesen und mit der Aufgabe verbunden: "Sucht euch eine dieser Seligpreisungen aus. Erfindet eine Geschichte von einem alten Menschen, für den diese Seligpreisung zutrifft. Schreibt die Geschichte auf."
  • Die Geschichten werden in der Gruppe gelesen. Jede Geschichte könnte dabei mit der Frage verbunden werden: Wenn ich selber dieser alte Mensch wäre, was würde ich dann zu diesem Geschehen sagen? Was würde ich von den anderen beteiligten Menschen halten, was zu ihnen sagen?
  • Anschließend werden die Konfirmandinnen und Konfirmanden dazu eingeladen, sich ihr eigenes Altsein vorzustellen. Dies geschieht auf dem Wege, dass jede/r einen Brief schreibt in einem selbstgewählten "hohen" Alter. Aus dieser Perspektive soll der eigene Lebensweg kurz beschrieben werden, es sollen die augenblicklichen Lebensbedingungen als nun alter Mensch geschildert werden und es soll benannt werden, was wichtig oder unwichtig war in dem bisherigen Leben. Eine mögliche Einleitung könnte sein: "Stellt euch vor, ihr wäret alt geworden und schaut auf euer Leben zurück. Schreibt einen Brief an euch selbst und erzählt darin, wie ihr wünscht, gelebt zu haben."
  • Einige Briefe könnten zum Abschluss vorgelesen werden. Dabei sollten nur Briefe gelesen werden, die freiwillig vor der Gruppe gelesen werden mögen. Eine Kommentierung durch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer oder die/den Unterrichtende/n sollte unterbleiben, denn es geht hierbei um persönliche Zukunftsentwürfe, die ja zugleich einen Einblick in die augenblicklichen Lebenswünsche darstellen können. Wichtig ist also nicht, wie "wahrscheinlich" ein solcher Lebensentwurf ist, sondern wichtig ist die eigene Entwicklung einer Lebensperspektive.
     

M 1

Opa will ins Altenheim

"Ich gehe ins Altenheim, und damit basta!" sagte Annis Opa und ließ die Faust aufs Tischtuch sausen, dass der Kaffee überschwappte.
Schließlich war der Umzugstag da. Anni und Annis Eltern fuhren in Opas Wohnung, um Opa und die vier Koffer und zwei Taschen abzuholen, die der alte Mann sich gepackt hatte. Allein. Darauf hatte er bestanden.
Trotzdem steckte Annis Mutter heimlich den Brieföffner in die Handtasche, den Opa auf dem Schreibtisch liegengelassen hatte. Anni wusste, warum. Wenn ihre Mutter Opa gefragt hätte: "Willst du den Brieföffner nicht mitnehmen?", dann hätte er ganz bestimmt losgepoltert: "Was soll ich denn damit? Zum Schreiben bin ich viel zu faul. Und wer nicht schreibt, dem wird auch nicht geschrieben."
Da nahm die Mutter den Brieföffner lieber heimlich mit, um ihn ebenso heimlich in der Nachttischschublade im Altenheim verschwinden zu lassen. Wenn Opa ihn dort fände – wegwerfen würde er ihn nicht. Und irgendwann, nächste Woche vielleicht, wenn Anni ihm aus den Ferien schriebe, würde er sich freuen, den Brieföffner aus der Schublade nehmen und Annis Brief mit geübter Handbewegung schnell und sauber aufschlitzen.
Anni musste lächeln: So macht es ihre Mutter immer, wenn sie was durchsetzen will. Auch zuhause, bei Papa. Schwupp hängt der Bilderrahmen da, wo sie ihn hinhaben will, und niemand nimmt ihn wieder ab.
"So, auf geht’s." Annis Vater stapfte zur Wohnungstür hinaus, in jeder Hand einen Koffer und einen unterm Arm. Er hasste Abschiede. Er wollte nicht traurig sein. Vielleicht weil er dann weinen müsste. "Kommt ihr?"
Annis Opa gab sich einen Ruck. 35 Jahre hatten Oma und er in dieser Wohnung gelebt. 35 Sommer und 35 Winter. Tag für Tag.
"Bleib doch hier!" rief Anni ihm zu. "Bleib doch hier, ich besuch‘ dich auch jeden Tag. Allergrößtes Ehrenwort!" Doch sie rief nur in Gedanken. Schweigend rannte sie hinter ihrem Vater her.
Auf der Fahrt ins Altenheim riss Annis Opa einen Witz nach dem anderen. Aber so recht konnte niemand darüber lachen. Nicht einmal er selbst. Wie sollte er auch die Vorstellung verdrängen, dass er seine Wohnung nicht wiedersehen würde? Dass sein Schwiegersohn schon übermorgen zusehen müsste, wie wildfremde Leute prüfend auf die Matratzen des alten Eichenbetts drückten: "Was soll das kosten? Vierhundert Mark? Na, das ist doch ’n bisschen viel, oder?"

Annis Vater war der Gedanke an die Haushaltsauflösung auch unangenehm. Aber was sollte er machen? – Und was sollte Opa machen? Er hatte sich nun mal fürs Altenheim entschieden ...
Das Heim lag außerhalb der Stadt. Annis Vater fuhr eine schmale, kurvenreiche Landstraße bergauf.
Ob hier wirklich ein Bus hinfährt? fragte sich Anni, und sie spürte ihr Herz klopfen.
"Da ist es !" rief Opa, als nach einer scharfen Rechtskurve am Rand eines Kiefernhains ein dreigeschossiges Fachwerkhaus am Straßenrand auftauchte.
"Hübsch liegt es ja", meinte Annis Mutter, und es klang so, als wollte sie sagen: Wenigstens ein Trost.
Annis Vater stellte den Wagen auf einem kleinen geschotterten Parkplatz neben dem Altenheim ab. Dann gingen sie zum Haus hinüber: Opa und Anni voran, die Eltern hinterher. Die Koffer ließ Annis Vater erst mal im Auto.
An einem schattigen Plätzchen neben der Eingangstür saß ein alter Mann auf einer Bank und sah den Ankömmlingen unverhohlen neugierig entgegen.
"Tag auch", sagte Opa lauter als nötig. "Ist Schwester Lisa da?"
"Schwester Lisa?" fragte der Alte und legte den Kopf schief; offenbar hörte er nicht gut.
"Ja, Schwester Lisa!" brüllte Annis Opa ihm freundlich entgegen und zeigte auf den Eingang. "Ist die Schwester da?"
Über das Gesicht des alten Mannes huschte ein Lächeln. "Jaja, die ist da. Die ist immer da."
"Danke!", brüllte der Opa noch einmal und stapfte forschen Schritts die fünf Stufen zum Eingang hinauf.
Im Haus war es düster. Durch das Treppenhausfenster fiel ein schmales Rechteck Sonnenlicht. Ansonsten erhellte eine schmucklose Glaskugellampe den langen Flur nur spärlich, der auf eine gelblich weiß gestrichene Flügeltür zuführte.

Doch die Düsternis störte Anni nicht weiter. Viel unangenehmer war der Geruch, der ihr entgegenschlug: eine Mischung aus Putzmittel, Muff und ... – Anni hielt die Luft an und versuchte die Gedanken zu verscheuchen, die ihr in den Kopf kamen – ... und Klogeruch; als hätte jemand vergessen zu spülen.
Annis Opa zog die Flügeltür auf und ließ Anni und Annis Eltern den Vortritt.
Anni erschrak. Am liebsten hätte sie auf der Stelle kehrt gemacht, um, Opa fest an der Hand, durchs Treppenhaus zurückzurennen, nach draußen, ins Sonnenlicht, an dem freundlichen Alten vorbei, zum Auto. Aber das war unmöglich. Nicht nur wegen Opa – die Augen hielten sie fest. Die Augen, die Gesichter, die Körper, die Anni sah: Rundum in dem großen, fensterlosen Raum zwischen Treppenhaus und Speisesaal saßen und lehnten in nebeneinander an die Wand gerückten Sesseln, auf einem Sofa und in Rollstühlen zehn, fünfzehn, zwanzig alte Menschen und starrten sie an. Nur sie, so kam es Anni vor.
Alle? Starrten sie alle an? Als wollte sie einen bösen Traum verscheuchen, zwang Anni sich, in die Runde zu sehen. Nein, nicht alle beobachteten sie. Die winzige, hagere Frau dort drüben neben dem abgestoßenen Klavier guckte einfach so vor sich hin. Zwar schaute ihr Kopf in Annis Richtung, aber sie sah sie nicht.
Oder der Mann links neben der Tür, nur zwei Schritt von Anni entfernt: Schlief er, oder ...? Die Augen geschlossen und den Kopf mit geöffnetem Mund zurückgelegt, saß er zusammengesunken in seinem Rollstuhl, seine Brust hob und senkte sich in regelmäßigem Rhythmus. Ja, er schläft nur, dachte Anni, und sie holte tief Luft.
Dann die Frau mit dem geblümten Kopftuch, die seltsam aufrecht auf dem altertümlichen Sofa hockte: Ihre Augen schienen zu lächeln, und – winkte sie nicht, die Hand auf dem Schoß, Anni zaghaft zu?
Anni war verwirrt. Der Raum, die alten Menschen, der Geruch, das alles zusammen wirkte bedrückend und aufregend zugleich, ja, geradezu gespenstisch auf sie. "Was ist denn hier wieder für eine Grabesstille? Entweder ihr meckert, oder ihr schweigt euch an wie die Steine!" keifte mit einem Mal eine blechern schrille Stimme.
Irgendwie erleichtert drehte Anni sich um. Erst jetzt fiel ihr auf, dass seit ihrem Eintreten niemand ein Wort gesprochen hatte. Selbst Opa nicht. Aber – es waren ja auch erst Sekunden vergangen, oder?
Die Frau mit der schrillen Stimme war aus dem Speisesaal gekommen. Sie trug einen weißen Kittel.
Als wollte sie "ihre Alten" den Besuchern vorführen, schritt sie die Front der Sitzmöbel ab und ließ dabei die Sandalen gegen die nackten Sohlen klatschen.
Hier und da sprach sie jemand an: "Klara, Klara – hast du wieder die Charlotte geärgert! Jetzt sitzt sie im Schwesternzimmer und heult uns die Ohren voll. –
Wer raucht denn da, Herr Klotz, hmm? Das hat uns der Arzt doch verboten! – Dein Zimmer sah wieder aus, Onkel Emil – du solltest dich was schämen!"
Vor dem schlafenden Mann im Rollstuhl blieb sie stehen, legte ihm die Hand auf den Scheitel und drehte den Kopf zu sich hin. Dann schrie sie ihm aus nächster Nähe ins Ohr: "Ihre Schwägerin hat angerufen! Sie kommt Sie morgen besuchen!"

Für einen Moment öffnete der alte Mann die Augen.
Jemand neben ihm kicherte.
Anni spürte einen faustgroßen Kloß im Hals. Sie schluckte. Umsonst, der Kloß saß fest. Mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination beobachtete sie die Frau. Sie war nicht direkt unfreundlich zu den alten Leuten, und schon gar nicht gemein. Aber – irgendwie ...
"Guten Tag Schwester Lisa", trompetete Opa so fröhlich, dass Anni ihn erschrocken anstarrte. "Neuankömmling Lohmühl meldet sich zur Stelle."
Als würde sie seine Anwesenheit jetzt erst registrieren, ging die Schwester mit ausgestreckter Hand auf Annis Opa zu und sagte lächelnd: "Herzlich willkommen!"
Danach begrüßte sie geschäftsmäßig knapp Annis Eltern und Anni und steuerte schwungvoll auf die Flügeltür zu. "So, dann kommen Sie mal mit!"

Von einer Sekunde zur anderen kam Leben in die alten Leute. Die Frau auf dem Sofa hob die Hand und winkte Anni jetzt deutlich zu. Von der anderen Seite des Raumes rief jemand: "Kind, Kind! Bleib doch hier Kind!"

Und der Mann im Rollstuhl streckte unvermittelt die zittrige Hand nach Anni aus und fragte: "Bist du Grete? Meine Tochter Grete?" Dann riss er die Augen unnatürlich weit auf und rief mit gleichzeitig lauter und erstickender Stimme: "Nun seid doch mal still! Pack, altes Pack! Grete ist hier! Meine Grete! Sie ist nicht tot, meine Grete! Sie lebt! Ich hab’s euch doch gesagt!"

Anni lief eine Gänsehaut über den Rücken. Hätte ihr Vater sie nicht am Arm gepackt und aus dem Raum gezogen, sie wäre Hals über Kopf geflohen.

Grete, Grete – schallte es ihr durch den Kopf, als sie schon die Treppe zu den Zimmern im ersten Stock hochstieg. Gretel, Gretel. Hänsel und Gretel. Und ein wenig schämte sie sich, als sie mit einem unterdrückten wütenden Weinen im Hals dachte: Hexen sind das. Hexen und Teufel!

Was Schwester Lisa sagte, hörte sie nicht: "Die alten Leutchen sind ganz narrisch auf Kinder. Das ist immer dasselbe."

Das Zimmer war kleiner als Annis Zimmer. Und mit zwei Betten, zwei Kleiderschränken, zwei Regalen, zwei Sesseln und zwei Stühlen mehr als vollgestopft.

"Zwei Betten? Ist das ein Doppelzimmer?" fragte Annis Mutter stirnrunzelnd. "Davon hast du uns ja gar nichts gesagt!"

Während Opa wie ein beim Klauen ertappter Schuljunge den Teppichboden fixierte, antwortete Schwester Lisa kurz und bündig: "Eigentlich ja. Aber Herr Beck, der hier gewohnt hat, ist vorige Woche gestorben."

Annis Vater stierte mit verbissenem Gesichtsausdruck aus dem Fenster, als wären die Hügel der malerischen Mittelgebirgslandschaft aus Beton und die Tannen aus Stacheldraht.

"Sie gehen dann am besten", sagte Schwester Lisa zu Annis Mutter und hielt – wieder lächelnd – die Tür auf. "In einer Viertelstunde kommt der Bus. Wir machen heute eine Kaffeefahrt. Zur Katzbergmühle. Am besten, Ihr Vater fährt gleich mit; so lebt er sich am besten bei uns ein."

Am besten, am besten, am besten! Anni beobachtete ihren Opa heimlich aus den Augenwinkeln. Ein wenig hilflos stand er neben seinem zukünftigen Bett und spielte verlegen mit dem Reißverschluss seiner Wolljacke. "Warum fragen sie ihn denn nicht, was am besten für ihn ist?" hätte sie die Schwester am liebsten angezischt, aber sie traute sich nicht.

Annis Vater ging, ohne den Opa anzusehen, zur Tür hinaus und sagte mehr zu sich selbst als zu Anni und Annis Mutter: "Na, dann holen wir mal die Sachen aus dem Wagen."

Auf der Rückfahrt herrschte lange Zeit Schweigen. Von Schwester Lisa halb neugierig, halb argwöhnisch beäugt hatten sie die vier Koffer, die beiden Taschen und den Armvoll Mäntel und Jacken in den ersten Stock hinaufgebracht. Annis Mutter hatte gleich alles einräumen wollen. Aber Opa hatte darauf bestanden, das nach der Kaffeefahrt selbst zu machen. Dann war er mit zum Eingang hinuntergekommen und hatte ihnen nachgewinkt, bis der Wagen in die Kurve beim Tannenwäldchen einbog. Der freundliche Alte saß nicht mehr auf der Bank. Endlich brach Annis Vater das Schweigen. "Nee, ehrlich, ’n Horrorfilm ist nichts dagegen! Wie will er es da bloß aushalten?"

Annis Mutter bedachte ihn mit einem strafenden Blick, der so viel bedeuten sollte wie: "Nun sag doch nicht so was – das Ganze hat Anni schon genug mitgenommen!"

Doch Anni atmete tief durch. Was ihr Vater sagte, tat ihr gut, denn er sprach damit ihre Gedanken aus.

Fünf Minuten später schnäuzte sich Annis Mutter, und Anni versuchte, im Innenspiegel ihr Gesicht zu sehen. Weint sie?

Wie zur Antwort auf diese unausgesprochene Frage sagte die Mutter so leise, dass Anni es auf dem Rücksitz fast nicht verstand: "Ich hab‘ ihm den Brieföffner in die Schublade gelegt."

aus: Wolfgang Pauls, Das kann Opa doch nicht machen, Freiburg 1989


M 2

Seligpreisungen eines alten Menschen

Selig, die Verständnis zeigen
für meinen stolpernden Fuß
und meine lahmende Hand.

Selig, die begreifen,
dass mein Ohr sich
anstrengen muss,
um alles aufzunehmen,
was man zu mir spricht.

Selig, die zu wissen scheinen,
dass mein Auge trüb
und meine Gedanken träge
geworden sind.

Selig, die niemals sagen:
"Diese Geschichte haben Sie mir
heute schon zweimal erzählt."

Selig, die es verstehen,
Erinnerungen an frühere Zeiten
in mir wachzurufen.

Selig, die mich erfahren lassen,
dass ich geliebt, geachtet
und nicht allein gelassen bin.

Selig, die in ihrer Güte
die Tage erleichtern,
die mir noch bleiben
auf dem Weg in die
ewige Heimat.


M 3

Selig seid ihr

Text: F.K. Barth und P. Horst, Melodie: P. Janssens
aus: "Uns allen blüht der Tod", 1975
Alle Rechte im Peter Janssens Musik Verlag, Telgte-Westfalen

 

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/2002

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