Die Zukunft des Religionsunterrichts*

von Dietrich Zilleßen

 

Sorget euch nicht um die Zukunft des RU (Mat 5, 25-34)

Die Zukunft der Renten, die Zukunft der Jugend, die Zukunft der Schule sind einige der Reizthemen gesellschaftspolitischer Diskussion. Das Verunsicherungspotential dieser Diskussion wird für unterschiedliche politische Interessen strategisch nutzbar. Der religionspädagogische Disput darf sich um seiner selbst willen nicht anstecken lassen, seine Aktien nicht überschätzen und sich die Vorsorgeargumentation nicht zu eigen machen. Solche religionspädagogische Zukunftssorge ist abwegig, mindestens jedoch übertrieben. Gelassenheit ist hier biblisch-theologisches Gütekriterium für Glaube gegen Unglaube. Weil Zukunft (in diesem biblischen Sinn) theologisches Grundthema ist, ist die Zukunft des RU nicht das, was wir im Diskurs unserer Verunsicherungen, Besorgtheiten und Ängste entwerfen. Sollten wir seine Zukunft abhängig machen von gesellschaftlich-politischen Strategien? Natürlich muss über den Religionsunterricht gesprochen werden, auch über Entwicklungen, Projekte, Konzepte. Natürlich streiten wir um und für den Religionsunterricht. Aber das ist die Diskussion, wie der Religionsunterricht bei sich selbst bleiben oder zu sich selbst kommen kann, wie seine religionspädagogisch und didaktisch sinnvolle Praxis aussieht, vor allem, wie er sich sachgemäß, d.h. theologischreligionspädagogisch artikulieren kann.

Insofern ist die Zukunft des Religionsunterrichts die Gegenwart seiner Praxis.

Mir erscheint es ziemlich unnütz, immer und immer wieder die alten forensischen Fragen nach der Legitimation des RU und seiner Abgrenzung von LER zu erörtern. Als ob für den Religionsunterricht davon soviel abhinge.

Unsere Sorge geht einher mit einer offenen oder latenten Sinnhysterie. An der ewigen Sinnfrage verlieren viele allmählich den Spaß. Wen wunderts, dass eine ebenso hysterische Spaßkultur die Kehrseite ist. Ich plädiere lieber für einen Religionsunterricht, der sich ästhetisch und kulturell artikuliert, der in seinen ästhetischen Gestalten die Sinne anspricht und darin genügend personale und soziale Fragen aufdeckt. Fragen, die denen wichtig sind, die sie wahrnehmen lernen. Eine neue Fragekultur ist die Alternative zur vernetzten Antwortkultur. Dabei kommen bei Gelegenheit neue Antworten in den Blick. Gelegenheiten erfordern Entscheidungen, Konsens und Dissens, also Antworten, die nicht für immer gelten können. Was ist denn nun hier, jetzt sinnvoll, weniger sinnvoll oder unsinnig? Die notwendigen Antworten sind stets auch fragwürdig.

Ein solcher Religionsunterricht ist gelassen genug, von Verstehenszwängen Abstand zu nehmen. Er ist fähig und macht fähig, mit dem Dunklen, Widerständigen und Sperrigen zu experimentieren, Unmögliches und Grenzen wahrzunehmen und sie gelegentlich keck zu überschreiten. Er lässt sich auf Ungesichertes ein und liebt zugleich den Diskurs, ohne zu verdrängen, dass kein Diskurs den lieben Gott einfangen kann.

 

Religionsunterricht ist nicht dazu da, die Interessen der Welt zu bedienen und unsere Bedürfnisse zu stillen.

Im Gegenteil, er gründet darin, dass allen Interessen und Bedürfnissen eine unstillbare Kraft, eine Sehnsucht innewohnt, die stets zur Unterbrechung und Überschreitung, zum Exzess (Georges Bataille) drängt. Insofern ist dem Religionsunterricht und der Religion eine Art Weltfremdheit (R. Safranski) zu eigen, die nicht definierbar ist. Nicht dass der Glaube sich von der Welt abwendet. Im Gegenteil, er ist ihr zugewandt, indem er unsere Welt in Frage stellt, unsere Weltentwürfe und Weltkonstruktionen relativiert. Religion bezieht sich auf Ereignishaftes, ohne mit Ereignissen rechnen zu können. Religion hat nicht bloß mit Vätern und Müttern, also mit Bedürfnissen nach Schutz und Geborgenheit zu tun. Sie beruft sich zugleich auf einen Geist (sie ruft ihn: veni creator), der sich ereignet und uns über unsere Macht- und Geborgenheitsphantasien hinausführt.

Aber Religionsunterricht ist kein liturgischer Event, sondern diskursorientiert. Er besteht auf dem unverfügbaren, unkalkulierbaren Zusammenspiel von Planung und Ereignis, wobei diese Offenheit kein donum superadditum, keine Ergänzung religionspädagogischer Strategien ist, sondern deren Krise. Was passiert, passiert im Leben, im Profanen. Religionsunterricht basiert auf einer Theologie, die um ihre Profanität weiß und zugleich das Fremde achtet, dass sie durchquert. Insofern spreche ich vom Profanen Religionsunterricht.

 

Wir haben die religiösen Geister zu scheiden.

Welche Religion artikuliert sich in technokratischen Verfügungsmentalitäten, in Visionen populärer Geborgenheits- und Einheitsphantasien, in den Selbstverständlichkeiten des ökonomischen Globalismus, in den universalistischen Ansprüchen der Wissensgesellschaft? Religion ist totalitär und fundamentalistisch, wenn sie die Macht- und Ewigkeitsbedürfnisse (projektiv) befriedigt: Wahrheit soll absolut gelten, das Leben ganz beherrschbar, menschliche Existenz grenzenlos sein. Die andere Religion macht sich solche Bedürfnisse bewusst, um ihnen nicht anheimzufallen. Religion ist human, wenn sie sich selbst begrenzen kann. So oder so ist Religion eine Grunddimension menschlichen Lebens, weshalb das Thema Religion unumgänglich bleibt.

Kein Unterrichtsfach kann sich von religiösen Fragestellungen dispensieren, wie die Richtlinien der meisten Fächer belegen. Sie thematisieren die Grenzen menschlichen Erkennens und Verstehens, die Zufälligkeit historischer Konstellationen, die Begrenztheit menschlicher Räume und Zeiten, den Umgang mit Unendlichkeits- und Ewigkeitsvisionen etc. Unterschiedliche Schulfächer thematisieren religiöse Fragestellungen in ihren fachspezifischen Sprachspielen.

Im Studium der Lehrämter spreche ich der Religion auch eine grundwissenschaftliche Funktion zu, die sie an den Pädagogischen Hochschulen einmal hatte. Gewiss war die entsprechende Organisationsform ziemlich problematisch. Die mangelnde Differenzierung von "Religion" in Fach- und Grundwissenschaft begründete einen ebenso undifferenzierten Verpflichtungsanspruch: Wieso soll jeder/jede Religion als Fach studieren? Dagegen sind grundwissenschaftliche Kenntnisse über Religion und über religiöse Fragestellungen in vielen Unterrichtsfächern sinnvoll oder unumgänglich. Es lohnt darüber nachzudenken, wie sie zu erwerben sind.

 

Die pluralistische Gesellschaft kann nicht im bloßen Nebeneinander des Verschiedenen existieren.

Zwar ist Transkulturalität nicht nur unvermeidbar, sondern ein grundlegendes humanes Moment/Motiv. Aber in der pluralistischen Welt allumfassender Migration bedarf es der immer neuen, flexiblen Verortung, der Position. Religionsunterricht übt revidierbar und korrigierbar konfessorisches Reden und Handeln ein, ohne den Konfessionalismus zu schätzen. Er zielt auf eine Kultur des Umgangs mit dem Unverfügbaren, eine Kultur, die die Differenzen achtet, weil sie das Gute und das Böse, das Wahre und das Unwahre, das Absolute und das Relative nicht ohne Zweifel und ohne Risiko unterscheiden kann. Es gibt keine unschuldige Ästhetik, Politik, Didaktik, Theologie, Religionspädagogik. Wir müssen Entscheidungen riskieren, ohne deren Fragwürdigkeit zu verdrängen. Die Grunddifferenz zwischen Gott und Mensch, Eigenem und Fremdem, Planung und Ereignis ist nicht in unserer Hand; wir verfügen nicht darüber.

Der Prozess der Auseinandersetzung mit Pluralität, der Auflösung von Einheit und Einheiten (Plurifizierung), der Konsens- und Dissensbildung, der konfessorischen Verortung und der geistigen Migration darf nicht ästhetisch oder moralistisch oder durch religiöse Ontologisierung suspendiert werden. Religionsunterricht fördert Konsens und Dissens, indem er Einheit kritisch reflektiert und zugleich Dissens relativiert. Er hört dabei auf die unerhörte, unhörbare Sprache des Anderen, was heißt: er achtet den Fremden und das Fremde, den und das er gar nicht kennt. Wahrheit ist eine mutige, aber keine rigide konkrete Entscheidung. Sind wir begeistert, hoffen wir doch auf den unbenennbaren Geist. Wir verkörpern Wahrheit, indem wir uns verständigen, auseinandersetzen, streiten, versöhnen, festlegen, in Frage stellen. Wir verkörpern Gott. Insofern hat Religion (wie auch jedes andere Zeichensystem) eine politische Dimension.

 

Wir brauchen eine religionspädagogische Kindertheologie.

Sie zeigt das Gegenteil von Betreuungs- und Sorgeverhalten an, das Gegenteil einer lebenslangen Infantilisierung (worauf kürzlich Karlheinz A. Geissler im Sonntagsblatt hingewiesen hat). Kinder üben Grenzüberschreitungen jenseits aller Vorsichten. Wenn sie nicht zu sehr begrenzt werden.

Thomas Ziehe hat die Problematik des ausgeweiteten Jugendmoratoriums aufgezeigt. Jugendmoratorium ist Zeit zum Verweilen, Aufschieben und Probieren, ein Versuchsraum, in dem Jugendliche Verantwortung aussetzen oder verzögern können. Ist diese Phase, dieser soziale Raum jedoch nur noch eine Dauerform "betreuten Wohnens", in der Verantwortung ausgesessen und längerfristig vermieden werden kann, ist die Lähmung unumgänglich. Lähmung ist die Kehrseite der vorgeschriebenen, strikten und rigiden Lernkultur, der wir uns alle unterordnen. Wir sollen alle ewige Studenten sein, die konsequent den Anforderungen von Technologie und Ökonomie folgen, der Logik der Wisssensgesellschaft, der Rationalität sich dauernd verändernder Anforderungen. So gesehen heißt lebenslang lernen: Machbarkeit lernen. Alles soll machbar werden und bleiben. Wer soll dabei verweilende, d.h. moratorische Lebensformen schätzen? Wen wunderts, dass das Jugendmoratorium nicht nur seine Dauer, sondern auch seine Qualität verändert hat?

Demgegenüber sind moratorische Lernformen notwendig. Dann können Kinder wieder lernen, was sie in der strikten Lernkultur verlernt haben: innehalten, verspielt sein können, abschweifen, sich befremden lassen, in Frage stellen, Einfällen folgen, Einwendungen ernst nehmen, Unverständliches achten. Ein solches Lernen braucht gewiss Diskurse und Diskussionen. Es braucht aber auch unaufhörlich innere moratorische Momente. Andernfalls ist lebenslanges Lernen vielleicht doch nur eine Anpassungsstrategie an vorgesetzte "Notwendigkeiten". Erwachsene können von Kindern das moratorische Lernen lernen, das nicht infantil, sondern erwachsen ist. In Zukunft werden entsprechende Lernformen sich durchsetzen, in denen es zu starken Rollenveränderungen im Zusammenspiel von Lehrenden und Lernenden kommt. Lernen ist keine Anpassung an Notwendigkeiten, sondern eine Entscheidung für Notwendigkeiten.

Lernen ist Lernentscheidung. Keine willkürliche, sondern eine achtsame, eine, die sich sozial legitimieren und prüfen, kritisieren und akzeptieren lässt. Dabei geht es nicht darum, dass Lehrer und Lehrerinnen sich die Bedürfnisse der Kinder zu eigen machen. Was sollen Kinder dann noch als Grenzen überschreiten? Lernentscheidungen sind ein emanzipatorisches Geschehen, zumal dabei die Souveränität gewonnen wird, von Verfügungsphantasien Abstand zu nehmen. Kinder lernen von Erwachsenen Machbarkeitsphantasien. Vor allem lernen sie von ihnen, Probleme und Schwierigkeiten zu vermeiden, sich abzusichern, sich an die bewährten Ordnungen zu halten. Die "Profi-Schüler" wissen in der Regel schnell, was von Ihnen erwartet wird.

Aber wo sind moratorische Diskurse zu lernen? Wie lässt sich Lernen relativieren, das lediglich darauf aus ist, Vorgaben und Erwartungen zu erfüllen und keine Wünsche mehr produziert?

Nur ein Religionsunterricht, der zu wünschen übrig lässt, unterhält Wünsche. Kindertheologie traut Kindern zu, eigene Wege zu gehen, nämlich die Grenzen des Möglichen, Vertrauten und Sicheren zu überschreiten, d.h. sich für grenzüberschreitende (liminoide) Phantasien zu begeistern. Welcher Geist kam denn auf die Kinder (Mark 10, 13-16)?

* Vortrag anlässlich des 50. RPI-Jubiläums