Life ist Xerox. You’re just a copy - Religiöse Botschaften in Graffitis

von Gert Traupe 

 

Formtypen und Kunstcharakter der Graffiti

Fast überall springen sie uns farbintensiv entgegen: in U-Bahn-Schächten, von Autobahn­brücken, von der Rückseite großer Wegweiser, von den Steinmauern befestigter Bahndämme; Graffitis sind allgegenwärtig. Bildgraffitis sind längst als Street-Art zur Kunstrichtung im öffentlichen Raum geworden. „Frech und unbeschwert, meist liebenswert, manchmal brutal prägen Graffiti heute jedes westliche Stadtbild. Menschen aller Bevölkerungsschichten begegnen diesen Kunstwerken Tag für Tag. Für nicht wenige von ihnen dürfte die Auseinandersetzung mit Street-Art die erste Auseinandersetzung mit Kunst überhaupt sein“.

Während Bildgraffitis den Gesichtssinn ansprechen und als visuelles Medium auf Betrachter wirken, richten sich Spruchgraffitis über die Sprache und die Vielfalt ihrer Ausdrucksformen an das Bewusstsein der Leser und Leserinnen. Durch Witz, Ironie, Veralberung werden teilweise neue überraschende Einsichten, Perspektiven oder Fragestellungen hervorgerufen, die in ihrer Plötzlichkeit dem vergleichbar sind, was in der Kognitionspsychologie als ‘disclosure’ beschrieben wird: die berühmten Aha-Erlebnisse, bei denen dem Betrachter ein Licht aufgeht. „Spruch-Graffiti sind die häufigste Form des Graffiti. Sie sind in der Regel kaum gestaltet und finden sich weltweit an Wänden, Toiletten und S-Bahn-Abteilen, auf Baumstämmen, Denkmälern und Schulbänken“. Solche Graffiti gab es schon im Alten Rom. Insofern sind Graffiti kein neuzeitliches Phänomen, wenngleich die Erfindung der Spraydose die Gestaltungsmöglichkeiten doch exponentiell erweiterte.

Die Unterscheidung von Bild- und Spruchgraffiti ist allerdings etwas willkürlich und relativ grob. Es gibt Mischformen, in denen Bild, Wort und Hintergrund zueinander in Beziehung stehen und einen wechselseitigen Kommunikationsprozess auslösen (können).

 

Danke für die Rampe

Für die Klassifikation von Stilrichtungen, sog. Styles, trägt die o.g. Unterscheidung auch sehr viel aus. Mit Style bezeichnen viele Sprayer die Gestalttypik der Schriftbilder. Der ‘Wild-Style’ zeichnet sich durch wild verschlungene, abstrakte Buchstaben aus, der ‘Bubble-Style’ durch blasenförmig aufgetriebene Schriftzüge. Berühmt gewordene Sprayer wurden stilprägend. Bando kreierte den später nach ihm benannten ‘Bando-Style’. Inzwischen gibt es auch städtetypische Styles, z.B. den Dortmund-Style. 1973/74 entwickelte sich in New York ein künstlerischer Wettlauf verschiedener Sprayer, der als ‘Style Wars’ in die Geschichte der Street-Art einging. Dies inspiriert mich zu folgendem Spruch: „Lieber Style-Wars als Star-Wars“. Unter den deutschen Großstädten gibt es Hochburgen der Graffiti-Szene. Dazu zählen Köln, Dortmund, Frankfurt und Berlin. Die Mauer in Berlin war zu Zeiten der Teilung auf der westlichen Seite die längste Graffitiwand der Welt.

Als Kunstwerke entsprechen Graffitis am ehesten der Auffassung des offenen Kunstwerkes, für das U. ECO plädiert. Das offene Kunstwerk vollendet sich im Betrachter. Er/Sie schreiben ihm Bedeutungen zu, die prozesshaft verändert werden können. Das geschieht bei den Graffiti fast regelmäßig, da sie häufig übermalt oder von anderen Sprayern verändert werden. Das fordert gerade dazu heraus, Graffitis als Zeichen zu sehen und in einem Verständigungsprozess über ihre Bedeutung einzutreten.

 

Hermeneutik des benutzten Religionsbegriffs

Wenn wir uns von solch einem Ansatz auf die Suche nach religiösen Botschaften in Graffitis machen, müssen wir uns darüber klar werden, welchen Religionsbegriff wir als Betrachter einbringen. Wir vollziehen also eine Zuschreibung, die sich nicht mit der des Sprayers oder der Sprayerin decken muss. Graffitis sind zumeist unkonventionelle Zeichen, die für sie genommen weder religiöse noch a-religiös sind. Es ist aber möglich, dass sie im Betrachter Bedeutungshorizonte ansprechen, Assoziationen auslösen und Bezüge herstellen, die dieser als religiös codiert hat. Deshalb will ich an dieser Stelle benennen, mit welchem Verständnis von Religion ich Bild- und Spruchgraffiti gemustert habe. Dieses Muster ist gewissermaßen wie ein Netz, mit dem ich in der Vielfalt der Ausdrucksformen ‘gefischt’ habe.

Der hier verwandte Religionsbegriff ist eine Kombination des funktionalen und des substantiellen Religionsbegriffes, wobei der letztere weit gefasst wird. Dabei geht es nicht um die mehr theoretische Frage, ob beide überhaupt zueinander kompatibel sind, sondern welche der vielfältig möglichen Aspekte von Religion damit erschlossen werden können.

Der funktionale schließt sich an N. Luhmanns Grundfunktion von Religion an, wonach diese Kontingenzbewältigung leistet, indem sie Unbestimmtes in Bestimmbares überführt, z.B. dort, wo in Religion vom „Willen Gottes“ gesprochen wird. Zugleichen dienen Sinnformeln dazu, Komplexitäten zu reduzieren. Nehmen wir diese Perspektive a, ist in Graffitis nach Umgang mit Sinnproblematiken, nach “Zufall und Notwendigkeit“ im Lebensprozess Ausschau zu halten. Der weitgefasste substantielle Religionsbegriff hat den Vorteil, nicht nur klassisch gewordene Glaubenslehre/Dogmatik unter Religion zusammenzufassen. Er versteht sie viel weiter, nämlich im Sinne von T. Luckmann als „unsichtbare Religion des Alltags“. Menschen vollziehen Akte und Handlungen, die als religiös qualifiziert werden können, ohne dass klassisch gewordene Glaubensideen/Vorstellungen darin sichtbar werden. Diese religiösen Äquivalente bezeichnet Luckmann als unsichtbare Religion. Beispiele sind der Starkult in Film- und Musikszenen, durch Massenmedien bewirkte Ritualisierungen quasi religiösen Charakters wie die Zelebrierung von Nachrichten am Hausaltar des Fernsehers. Auch der in der Werbung enthaltene Appell zur Markenbindung und Markentreue vollzieht sich wie ein Glaubensakt, weshalb religiöse Motive wie das Paradies, das göttliche Kind, der Schutzengel in der Werbung zu den ihr eigenen Zwecken instrumentalisiert werden. Im Rahmen dieser Abhandlung müssen die Inkompatibilitäten des funktionalen und des weitgefassten substantiellen Religionsbegriffs gar nicht ausgeglichen werden. Es geht um Wahrnehmungskategorien und darum, die Mehrdimensionalität der den Graffitis zuschreibbaren religiösen Bedeutungskomplexe offen zu halten. Methodisch ist noch anzumerken, dass die Interpretation sich eng an die Wort- und Bildgraffitis anschließen soll, um überprüfbar und nachvollziehbar zu sein. Vorsicht ist auch gegenüber Verallgemeinerungen aus diesen Betrachtungen geboten. Es geht also nicht darum, sog. religiösen Quintessenzen zu gewinnen. Religiöse Lehren lassen sich aus den Sprüchen und Bildern gewiss nicht herauspressen.

 

Kritik und Auseinandersetzung mit Universalansprüchen an Graffiti

Sehr häufig begegnet der Betrachter vielmehr einer Distanzierung von Denk- und Wissenssystemen, die universal gültige Ansprüche formulieren. Paradigmatisch drückt das das folgende Spruchgraffiti aus:

„Hinter jeder sittlich ernstzunehmenden Theologie, Philosophie, Anthropologie und Soziologie verbirgt sich unausgesprochen die eine große Fragestellung: WARUM IST ES AM RHEIN SO SCHÖN?

Die „sittlich ernstzunehmende ... eine große Fragestellung“ als universale Fragestellung wird hier aufs Korn genommen. Die falsche Hermeneutik, hinter allem und jedem nur eine Problematik zu finden, wird karikiert. Der dabei produzierte vermeintliche Tiefsinn wird als das sichtbar, was er ist: als lächerliche Banalität. Die Veralberung der “großen Fragestellung“ ergibt sich aus der vermeintlichen Trivialität „warum ist es am Rhein so schön?“ Trivial ist diese Frage für sich genommen gar nicht. Das würden LiebhaberInnen des Rheintals gewiss bestreiten - und mit Recht. Der Spruch arbeitet mit einer Bricolage. Aus verschiedenen kulturellen Kontexten werden Stücke herausgebrochen und neu montiert. Aus der Kultur des Kunstliedgutes wird ein Liedvers herausgeschlagen - wir hören im Ohr den Liedvers gerade singen - und in den Kontext großer philosophischer Lehren gestellt, die aber eigentümlich undeutlich bleiben. Das kann nicht gut gehen. Das Lied bleibt bei diesem Montageprozess noch am ehesten, was es zu sein beansprucht. Nicht so die „großen Lehren“. Ihr sittlicher Ernst, ihre aufgeblasenen Ansprüche fallen in sich zusammen. Das Lied können wir immer noch wie vorher singen; aber borniert ist, wer danach immer noch in der gleichen Weise wie vorher philosophiert, Theologie treibt oder soziologisch denkt.

Distanzierungsversuche von ideologischen Vereinnahmungen begegnen häufig. Wenn sich jemand schon einer Religion vollständig ausliefern will, dann schon „lieber Backzwang als Baghwan“. Auch hier verweisen Bild und Wortspiel aufeinander.

Aus dem Mauergraffiti ist in den breiten Buchstaben Baghwan nur als/Bakwan/zu entziffern. Experten und Expertinnen der religiösen Szenen erkennen in dem Bild darüber allerdings die Mala, die Halskette der Sanyasin, die die Baghwan-JüngerInnen tragen, und wissen, wer gemeint ist. Während in diesem Wortspiel auf den Zwangscharakter der Baghwan-Lehre angespielt wird, verweist das verwandte folgende Wortspiel auf ihren Wahncharakter.

 

Lieber Backwahn als Baghwan.

Von beiden Sprüchen her lässt sich ein Gespräch über den Realitätsgehalt und über die Zwangsstrukturen der Baghwan-Lehren anknüpfen. Täuschen würde sich allerdings, wer meint, diese Aspekte auf sog. Jugendsekten beschränken zu können. Unweigerlich werden Jugendliche diese Frage an die christliche Religion stellen und wahrscheinlich auch gegen ihren Anspruchscharakter richten. Die in den Wortspielen angedeutete Problematik ist die, welche Ansprüche Religion mit welchem Recht auf Menschen stellen kann. Solche Ansprüche können tödlich sein. In diese Richtung geht der Verdacht dieser Wortspiele. In dem folgenden Bonmot scheint das sehr schillernd auf.

 

Reinkarnation feiert ein Comeback - Aber nur über meine Leiche.

Reinkarnation - Schätzungen und groben Quantifizierungen zufolge hängen etwa die Hälfte aller jungen Menschen dieser Idee an; sie wird hier im Westen aber nicht im Sinne eines unausweichlichen Verhängnisses der Wiedergeburt rezipiert, dem sich zu entziehen letztlich die Hoffnung von Religion wäre, sondern als Glücksverheißung: neues Spiel, neues Glück. Dieses Spruchgraffiti spielt außergewöhnlich kreativ mit Assoziationsmöglichkeiten. Reinkarnation ist ein Comeback. Ein Comeback haben sonst nur Stars in Medien und im Sport, oder Politiker. Comebacks sind positiv besetzt. Ihnen gehört die mediale Aufmerksamkeit. Der fast totgeschlagene Boxer kommt wieder. Die von der Leinwand verschwundene Diva kehrt als Göttliche zurück, feiert Auferstehung aus dem Grab des Vergessenseins. So ist die Interpretation der Inkarnation durch den Terminus Comeback ausgesprochen witzig und produktiv. „Nur über meine Leiche“. Der pointierte Nachsatz oszilliert. Ohne Tod keine Reinkarnation: Das liegt schon im Begriff der Reinkarnation selbst. Hypothetisch wird die Möglichkeit zugelassen und dann wohl doch eher verneint als akzeptiert. „Aber nur über meine Leiche“; eine klare Abwehrhaltung. Mit mir das bitte nicht. Insgesamt bleibt aber doch eine gewisse Unentschiedenheit stehen. Der Betrachter selbst wird gerade dadurch angestoßen, die Frage der Reinkarnation selbst zu bedenken.

Vielleicht lässt sich bei vorsichtiger Verallgemeinerung der obigen Beispiele folgende Schlussfolgerung ziehen: Abgelehnt werden Totalerklärungen. Die Reinkarnationsidee würde dann als pars pro toto für Totalerklärungen und Totalansprüche von Religion generell stehen. Eine dazu passende Rezeptionsweise konnte Nipkow in der Auswertung der von Schuster gesammelten Aufsätze Jugendlicher zum Thema „Gott“ feststellen. Ein Jugendlicher brachte den Gottesbegriff auf folgenden Stabreim (=Alliteration)

Glauben Ohne Tödlichen Thesen
(=GOTT)
Gott Ohne Religion

Tödliche Thesen stehen hier für alles, was nicht persönlich angeeignet werden kann. Thesen erdrücken die Subjektivität des um Religion ringenden Menschen, weil die Allgemeinheit der Thesen individuell nicht passt. Dem liegt ein Vorgang der Individualisierung von Religion zugrunde. Religion ist unter jungen Menschen im Übergang von einer Sozialform zu einer Individualgestalt begriffen. Am besten wäre es, Gott ohne Religion zu haben, wie die zweite Zeile aussagt. Diese Transformation bringt auch das folgende Spruchgraffiti auf folgenden Nenner:

 

„Mein Karma ist stärker als euer Dogma“

Aus theologischer Perspektive möchte ich nach der Berechtigung dieses Vorbehaltes fragen. Ist in der Ablehnung „tödlicher Gottesthesen“ nicht ein Motiv enthalten, das jedem lebendigem Glauben innewohnt. „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2Kor 3,6) meint Paulus in einem Zusammenhang, in dem er über tradierte Religion reflektiert. Unter welchen Rezeptionsmechanismen diese zu „tödlichen Gottesthesen“ mutiert, ist also zu bedenken und was an ihr das Lebendige ausmacht. So schwer es Jugendliche fallen mag zu glauben, vorweg abgewiesen wird diese Möglichkeit nicht.

 

Schöpfungsthematik und die Kontingenz des Seins

Die Abgrenzungen gegen dogmatische Festlegungen, das Oszillierende in manchen Sprüchen drückt aus, dass die Geronnenheit religiöser Sinnformeln verflüssigt werden soll. Unbestimmtes, die Kontingenz des Lebensprozesses, lässt sich eben nicht aus Thesen in Bestimmtes überführen. Gottesbegegnung, Zusammentreffen mit dem, was uns unbedingt angeht (P. Tillich), ist nicht über vorgefertigte Formeln herbeiführbar. Auf der persönlich-existentiellen Ebene des Lebensprozesses bringt folgendes Bonmot die fehlgeschlagenen Gottesbegegnungen zum Ausdruck

 

„Lieber Gott, wenn du überall bist, wie kommt es, dass ich immer woanders bin?“

Hier verfehlen sich zwei mehrmals, wie bei wiederholt missglückten Rendezvous.
Manche Graffitis beziehen sich auf den Schöpfungsgedanken und die Sinnhaftigkeit der Entstehung von Welt. Warum ist überhaupt etwas? Der Schöpfungsgedanke ist in Religionen der zentrale Topos, der dazu dient, Unbestimmtes in Bestimmtes zu transformieren. Aus dem Nichts wird geschaffen und das Gestaltlose, Chaos und Urflut, erhalten Form und Struktur. Die philosophische Gegenposition sieht den Menschen als Willkürprodukt der Evolution, ein Zigeuner am Rande des Universums, das für seine Träume blind und für seine Anrufungen taub ist.

Im All heimatlos und letztlich mit sich allein, ist die Menschheit ein Übergangsprodukt, das einmal verschwunden sein wird, und dessen Spuren letztlich bedeutungslos sind. Nichts liegt hier ferner als der Gedanke der providentia dei, der Vorsehung und erhaltenden Vorsorge Gottes. Zwischen dieser Spannung von blindem Zufall und providentieller Notwendigkeit bewegen sich manche der Sprüche und Bilder. Zwar werden keine konventionellen christlichen Antworten gegeben, aber die Fraglichkeit des Daseins und des eigenen Lebens sind doch so drängend, dass über sie nicht einfach achselzuckend zur Tagesordnung übergegangen wird. Das belegen die folgenden Beispiele:

„Gott hat die Welt nicht erschaffen, sie ist ihm bloß passiert“
„Am Anfang ein Knall, am Ende ein Knall, die Menschheit war bloß ein Zwischenfall“
„Die Prädestination war von Anfang an schon zum Misserfolg verdammt“

Der letzte Spruch ist eher für Eingeweihte geeignet. Er spielt mit den Inhalten von Vorherbestimmung, Verdammnis und Erlösung, setzt aber viel voraus, nämlich die Kenntnis der Prädestinationsidee. Diese selbst und nicht nur die massa perditionis (Masse der Verdammten) fällt der Verdammnis anheim. Welch ein Pech für die Prädestination, wenn sich mit ihr die zur Verdammnis Bestimmten nicht schrecken lassen. Breit und in wechselnden Variationen wird die Unzulänglichkeit der ‘Schöpfung Mensch’ thematisiert, worin sich die Suche nach den Ursachen der von Menschen bewirkten Übel verbirgt. Das führt zugleich hin auf die Frage der Theodizee, ob dann nicht der Schöpfer verantwortlich ist für die Unzulänglichkeiten der von ihm geschaffenen Welt.

 

„Gott hat den Menschen erschaffen, weil er vom Affen enttäusch war: Danach verzichtete er auf weitere Experimente“ . (Mark Twain)

Dann hätte Gott seine Schöpfung aufgegeben und der Fehlschlag wäre festgestellt. In diesem Sinne kann es auch heißen „Die Schöpfung war der erste Sabotageakt“.
Die Anthropologie, das Menschenbild, das in solchen Äußerungen aufscheint, ist alles andere als fortschrittsgläubig, sondern von einer tiefen Skepsis, teilweise von einer Verzweiflung über die von Menschen gemachten Verhängnisse geprägt:

„Es geschehe Gerechtigkeit,
die Welt möge untergehen“
„Alles hat seine Grenze, nur die menschliche Dummheit ist unendlich“
„Gott denkt in den Genies, träumt in den Dichtern und schläft in den übrigen Menschen“
„Der Mensch denkt und Gott schlägt die Hände über den Kopf zusammen“

 

Lebenssinn - religiöse Sinnfragen

Oben wurde auf den weiten substantiellen Religionsbegriff verwiesen, darauf, dass die Bearbeitung von Sinnfrage als zu dem, wofür Religion zuständig ist, äquivalent betrachtet werden kann. Die Begrenztheit und Endlichkeit des menschlichen Lebens fordert eine Entscheidung heraus, wofür Menschen sich einsetzen und engagieren wollen. Die mittelalterliche Weisheit des memento mori scheint in machen Spruchweisheiten wieder auf. Die Frage nach Lebenssinn und Lebensqualität ist unabweisbar.

Eine riesige Mauer, graue Ytong-Steine. Darauf ein kleines ovales Namensschild geschraubt. Und darunter in Großbuchstaben die Frage „Lebst du?“

 

„Alle Menschen werden als Original geboren, die meisten sterben als Kopie“
Life is Xerox. You’re just a copy.

Sehnsucht nach echtem authentischen Leben drückt sich aus, Leben nicht aus zweiter Hand, Leben vor dem Tod. Richtiges Leben ist Kampf gegen das Leben aus fremder Hand. Gegen zugeteiltes und eng bemessenes Leben helfen nur Spontaneität und konkrete Utopien; beides ist ohne Kampf nicht möglich.

„Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum“
„Versuchs doch mal mit einer anderen Welt“,
„Lebe redlich und wehre dich täglich“.
„Die Energie, die wir brauchen, bekommen wir aus dem Strom, gegen den wir schwimmen“.

 

Religionskritik und Kritik an Kreuzestheologie

Die Auseinandersetzung mit Religion in Graffitis greift auch Argumente gängiger Religionskritik auf. Die Projektionsthese Feuerbachs schlägt sich nieder in der Frage: „Glaubt die Katze, dass Gott aussieht wie eine Katze?“ Der Mensch projiziert sich Gott nach seinem eigenem Bilde. In die christologische Diskussion um Kreuz und Auferstehung wird als Mauerspruch ein Argument geworfen, das auch feministische Theologie teilweise adoptiert hat.

 

„Was kann man von einer Religion verlangen, deren Symbol ein Folterwerkzeug ist? DAS KREUZ“

Der schon bei Nietzsche nachweisbare Vorwurf lautet, im Kreuz als Symbol werde das Leiden auf Dauer gestellt und damit Grausamkeit verewigt. Ein grausamer Gott opfere seinen Sohn, weil er für die ihm von Menschen zugefügte Beleidigung keine andere Satisfaktion, Genugtuung gelten lassen kann. Blut muss fließen, um ihn zu besänftigen. Und wenn dies Geschehen eines zwischen Vater und Sohn ist, dann trägt das Handeln Gottes autoaggressive Züge, indem er in der Opferung sich selbst verletzt. Selbstverstümmelungstendenzen sind geradezu prototypisch für den dahinter stehenden Patriarchialismus. All diese argumentative Versatzstücke klingen in der Aufschrift an - Folterwerkzeug Kreuz, Konnotationen von Kreuzzügen, von Kreuzrittern, die angeblich in dem von ihnen vergessenen Blut, das ihnen bis zu den Knien reichte, genüsslich waten konnten, werden wachgerufen.

Im Gespräch mit solchen popularisierten argumentativen Versatzstücken aus der Schreckenskammer der Theologie- und Kirchengeschichte kommen wir nur voran, wenn wir die Frage durchdiskutieren, worauf das Kreuzeszeichen hinweist, wer unter dem Bild des Gekreuzigten verehrt/angebetet wird. Steht das sog. Folterinstrument im Mittelpunkt, oder der, der daran gelitten hat? Heißt die Erinnerung an das Leiden Christi, Leiden zu bagatellisieren oder im Namen angeblich höhere Zwecke zu rechtfertigen? Ist dieses Leiden dessen, der ein für allemal für alle gelitten hat, nicht eher der stärkste Einspruch gegen alle Leiden, die im Dienst widergöttlicher Mächte Menschen zugefügt oder aufgehalst werden? In der Diskussion um das Kreuz sind nicht Vorurteile gefragt, sondern sorgfältiges Hören auf Einwände, Nachfragen gegenüber Auslegungen.
Der inzwischen berühmte französische Affichage-Künstler Ernest Pignon Ernest (Synonym EPE) hat sog. Plakat-Interventionen erfunden. In Neapel 1988 brachte er auf Mauern zwei Christusdarstellungen an, die ich hier dem Betrachter mitgeben möchte. Ich möchte die Ausdruckskraft dieser Kunstwerke nicht interpretierend zerreden; sie sprechen in ihrer ungewohnten Perspektive und Originalität für sich selbst. Im erschließenden Gespräch mit Schülern und Schülerinnen lässt sich manches darin entdecken, das die oben beschriebenen Vorurteile fraglich machen und vielleicht zurechtrücken könnte.

Religiöse Bedeutungskomplexe tauchen in der Street-Art noch in weiteren kulturell geprägten Zusammenhängen auf. Auf diese möchte ich hier nur abschließend hinweisen. Der Schweizer Sprayer Harald Naegli hat in verschiedenen Zyklen die religiöse Tradition des Totentanzes aufgegriffen. „Auf die katastrophale Verschmutzung des Rheins durch die Chemiefirma Sandoz in Basel, 1986, reagierte Harald Naegli mit seinem Zyklus ‘Totentanz’ der Fische!“ Zwischen Düsseldorf und Koblenz wurde an Befestigungsmauern des Rheinufers (verendete) Fische mit Totenkopf gesprayt.

Das Totentanzmotiv greift auch der Kölner Michael Nowottny 1990 auf. „Er klebte dabei sieben Plakate (Acryl auf Pappe) an eine Wand der Hall of Fame an der Vogelsanger Straße“ in Köln. Der Köln-Ehrenfelder Kunstverein hatte ein Projekt gestartet, zu dem Affichage und Spray-Künstler eingeladen waren.

Interessant ist ja, dass im Motiv der Todsünden kulturell der Begriff der „Sünde“ aufgreifbar ist, den die Theologie lange ausgeklammert hat und gerade erst wieder neu zu entdecken beginnt.
Die große Vielschichtigkeit der Street-Art, die sich noch auf weitere Lebensbereiche wie Politik, Arbeit, Sexualität, Umwelt bezieht, konnte hier nicht einmal andeutungsweise entfaltet werden. Es zeigt sich allerdings, dass religiöse Fragen in Graffitis sachgemäß und tiefsinnig angesprochen werden können. Auch Graffitis halten die religiös qualifizierte Hoffnung auf erneutes Leben und Erlösung im Spiel, was sie wiederum für die Bearbeitung im Religions- und Konfirmandenunterricht brauchbar macht.

 

Anmerkungen

  1. Ich danke Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Medientreffpunktes im Herbst 1995 für die anregende und weiterführende Rezeption meines Vortrags, aus dem dieser Artikel entstand.
  2. B. van Treek, Graffiti Lexikon, Street-Art- legale und illegale Kunst im öffentlichen Raum, Moers 1993, S. 7.
  3. B. van Treek, Street-Art, S. 144.
  4. M. Hallstadt (Hg.): Das Buch der Sprüche & Graffiti, München (Heyne) 1989, 2. Aufl., S. 63.
  5. ECO:Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.M. 1977, bes. S. 28-30, 54-57.
  6. vgl. M. Meyer-Blanck: Vom Symbol zum Zeichen. Symboldidaktik und Semiotik, Hannover 1995, S. 115-126.
  7. Zum Codierungsvorgang im Sinne ECOS vgl. M. Meyer-Blanck, a.a.O., S. 73-84. ECO: „In diesem Sinne existiert das Zeichen nie als beobachtbare und stabile körperliche Entität, denn es ist Produkt einer Reihe von Relationen“., zitiert nach Meyer-Blanck, a.a.O., S. 79.
  8. N. Luhmann: Funktion der Religion, Frankfurt a.M. 1982, S. 187-189.
  9. T. Luckmann: Die unsichtbare Religion, Frankfurt a.M. 1991 (engl. 1967!), besonders das Kapitel über moderne religiöse Themen, S. 151-158.
  10. T. Klie (Hg.): ...der Werbung glauben? Mythemarketing im Zeitalter der Ästhetisierung, Arbeitshilfen BBS 20, Loccum 1995.Im Einleitungsteil finden sich ausgezeichnete Analysen zur Werbung und ihren Mechanismen.
  11. A. Franz (Hg.): Das endgültige Buch der Sprüche & Graffiti, München 1991, 6. Aufl., S. 90 (zitiert als: Das endgültige Buch).
  12. Das endgültige Buch, S. 83.
  13. Das endgültige Buch, S. 120.
  14. H. Barz: Religion ohne Institution? Jugend und Religion 1, Opladen 1992. Zur Sache der Reinkarnationsvorstellung informiert sehr sachkundig: J. Badewien: Reinkarnation - Treppe zum Göttlichen?, Konstanz 1994.
  15. K.E. Nipkow: Erwachsenenwerden ohne Gott? Gotteserfahrung im Lebenslauf, München 1987, S. 69.
  16. G.Traupe: Entinstitutionalisierung von Religion als Herausforderung für Konfessionskirchen in der BRD. Der Übergang von der Sozialform zur Individualgestalt von Religion (erscheint demnächst in einem Aufsatzband des Verfassers).
  17. Das endgültige Buch, S. 81.
  18. Veranlaßt durch Gegner seines Apostolats erörtert Pls in 2 Kor 3 das Verhältnis von altem und neuem Bund, von Buchstabe und Geist im Dienst der Freiheit des Evangeliums. V 17:Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.
  19. Das endgültige Buch, S. 121.
  20. J. Monod: Zufall und Notwendigkeit, München 1971.
  21. Das endgültige Buch, S.121.
  22. a.a.O., S. 92. Diese Weltsicht entspricht ziemlich kongenial der philosophischen Einstellung J. Monods.
  23. a.a.O., S. 136.
  24. a.a.O., S. 95.
  25. a.a.O., S. 115.
  26. a.a.O., Das endgültige Buch, S. 121.
  27. ebd.
  28. a.a.O., S. 124.
  29. a.a.O., S. 128.
  30. a.a.O., S. 108.
  31. a.a.O., S. 113.
  32. Das endgültige Buch der Sprüche, S. 284.
  33. a.a.O., S. 112.
  34. a.a.O., S. 130.
  35. vgl. Wörterbuch der feministischen Theologie, hg. von E. Gössmann/u.a., Gütersloh 1991, S. 226f, darin: L. Schottroff zur feministischen Kritik an Kreuzestheologien, a.a.O.
  36. B. van Treek: Graffiti Lexikon, S. 154.
  37. a.a.O., S. 153.
  38. M. Welker: Kirche im Pluralismus, Gütersloh 1995, S. 51.